Vor der unsichtbaren Wand
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
– Hier geht’s nicht weiter.
– Ist da eine unsichtbare Wand?
– Ja, unsere Art, zu denken und zu sprechen.
– Doch können wir nicht denken, was wir nicht sagen können; nicht das Unsagbare denken?
– Nur durch und mit und innerhalb der Sprache können wir uns gleichsam über ihre innere Grenze krümmen, in die Falte des Ungesagten schmiegen.
– Ja, die Wand ist die Metapher für die Sprache, die fensterlos wie die Monade ist und wie diese das Ganze der Welt in nuce enthält, allerdings nicht wie bei Leibniz in Form mehr oder weniger bewußter Wahrnehmungen, sondern als Totalempfindung oder Gestimmtheit, die wir nur durch paradoxe Bilder und Metaphern zum Ausdruck bringen können.
– Sehen wir das Morphem oder das Wort als subgrammatisches Teilchen, können wir es doch zugleich als Moment oder Funktion des Satzes, der grammatischen Welle, begreifen.
– Aber Teilchen und Welle, Wort und Funktion, Morphem und Struktur sind anders als ihre physikalischen Analoga einander ungleichartig und nicht äquivalent.
– Sage ich hier, muß ich dort sagen können, wenn wir ein Stück Weges gegangen sein werden; sage ich jetzt, muß ich auch soeben oder gestern oder vorgestern sagen können, wenn wir eine Weile weitergelebt haben werden.
– Aber wir können von keinem Außerhalb der grammatischen Funktion sprechen, mittels derer wir einen Ort oder einen Zeitpunkt festlegen.
– Doch dies können wir wohl sagen, daß sich außerhalb dieses gleichsam grammatisch-transzendentalen Rahmens nichts Sinnvolles sagen läßt.
– Paradoxerweise haben wir ein Wort für das Unsagbare, das wir vor den singulären Anfang der Zeit zu setzen pflegen: Ewigkeit; ähnlich dem Schweigen Gottes, das wir vor den Anfang der Welt durch die creatio ex nihilo im Wort zu setzen pflegen.
– Ja, das Schweigen, und diesem vor dem Sagen liegenden Nichtsagen entspringt wie eine geisterhafte Vakuumfluktuation das Wort, das wiederum nur als Wort-vor-dem-Wort zu begreifen oder eben nicht zu begreifen ist.
– Das Schweigen, jenes Schweigen, und das Wort, jenes Wort, sind gleichsam spinozistische Attribute der göttlichen Substanz, die Spinoza ja mit der Natur als natura naturans, also einer vorgeschöpflichen Natur, Natur-vor-der-Natur, gleichsetzt.
– Schweigen ist eine Metapher, die wie alle absoluten oder transzendentalen Metaphern an der Grenze unseres Sprachvermögens notwendig scheitert und zerschellt. Denn was wir schweigen nennen, ist ein Moment unseres Sagens, nämlich beispielsweise auf eine Frage nichts zu antworten. Ein außersprachlicher Begriff des Schweigens scheint uns unzugänglich; so auch das Schweigen Gottes. Es ist gleichsam ein Schweigen jenseits des Schweigens.
– So auch das Wort jenseits des Worts. Wir glauben zu kennen, was wir flüchtig benennen; während das schöpferische Wort dem Benannten gleichsam innewohnt, dem Blute gleich, das in ihm pulst und es belebt.
– Indes vom Schweigen jenseits des Schweigens, vom Wort jenseits des Worts trennt uns eine unsichtbare Wand.
– Es gibt hier keine Tapeten- oder Geheimtüren in ein Reich jenseits des Seins, und alle Spekulationen über dessen Landschaften und Bewohner sind metaphysische Variationen eines mentalen Tischrückens.
– Sicher. Aber dies mindert das Mysteriöse dessen, was wir unser Leben und Sterben unter den Gestirnen des Fatums nennen, keineswegs.
– Wir verspüren es umso schmerzlicher an den Beulen, die wir uns nach Wittgenstein bekanntermaßen einhandeln, wenn wir mit dem unbelehrbaren Kopf gegen die unsichtbare Wand schlagen.
– Ja, es ist wie mit der Wanderung durchs Gebirge; bei klarer Sicht steigen wir auf, doch dann irren wir orientierungslos im jählings aufgekommenen dichten Nebel umher, ständig in der Angst, in einen Abgrund zu stürzen.
– Sehen wir indes im Ungefähr ein Licht aufschimmern, tasten wir uns bis zum Eingang der Schutzhütte, wo wir Unterschlupf zu finden hoffen, wer weiß, bei welchen unterhaltsamen Verköstigungen.
– Das wäre eine allzu sentimentale Idee von einem sprachlichen Idyll, als wäre Poesie eine begrünte schwimmende Insel im Meer des Ungewissen.
– Gleichsam wie Vergils Insel der Seligen am Rand des Feuermeers der Hölle.
– Indes nicht sentimental, insofern die Seligen von ihrer Insel aus in der Ferne die Qualen der Verdammten durchaus wahrnehmen können – und vielleicht nur so erfahren, daß sie entronnen sind.
– Und der Nebel, den wir Wanderer aus dem Fenster der Hütte erblicken, ist ja durchaus Teil des Elements, das wir atmen, das uns nährt.
– Wenn er sich lichtet, erreichen wir wohl noch den Gipfel. Was sehen wir aber? Weitere Gipfel, ferne, unerreichbare, unersteigliche. Und darüber das Blau des Himmels, gleichsam die luftige Substanz, die sich mit noch so feinen Instrumenten unseres Denkens und Sprechens nicht zerlegen läßt.
– Die unsichtbare Wand.
– Die unsichtbare Wand, an der keine Geisterschrift erscheint, deren Sinn uns meinen könnte.
– Das Blau des Himmels, wenn es nicht nur ein meteorologisches Phänomen bezeichnet, sondern uns als Metapher für unsere sprachliche Existenz dient, mit der wir die gleichsam stofflich-unstoffliche Substanz der Welt bezeichnen.
– Sie mutet geisterhaft und rätselhaft an, wie der Nebel, der uns einhüllt und den wir durchdringen, aber wie die Struktur des sprachlichen Daseins nicht zerschneiden oder vollständig zerlegen und analysieren können; anders als das meteorologische Phänomen, das wir ohne weiters chemisch analysieren können.
– Darin gleicht die Metapher des Nebels dem, was der Dichter Heinz Piontek das Undurchschaubare nennt, und intuitiv hat er beides in dem Gedicht mit dem Titel Orakel verknüpft, in dem er ein bretonisches Dorf am Meer evoziert und sich aufgefordert fühlt, durch seine totenstillen Straßen zu gehen: Hinunter zum Meer –/wo Nebelbänke ankern,/das letzthin Undurchschaubare gewaltig/sich gelagert hat.
– Man könnte auch von der Fülle des Wohlklangs sprechen, die wie in Bachs Wohltemperiertem Klavier das Unaussprechliche, ohne es konkret auszusprechen, dennoch ausspricht.
– Oder von Variationen über ein geheimes Thema, das sich wie das Dunkel offenbart nur, wenn allererst ein noch so schwacher Lichtschein erlischt.
– Ja, ein Dunkel jenseits des Dunkels, das nicht vor der Sonne Platons zurückweicht, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Dämmerung bleibt, die unserer sprachlich-existentiellen Situation entspricht.
– Es ist, als gingen wir über die transparente Fläche eines zugefrorenes Sees, in dem ein Unterwassermond sein fahles Licht auf seltsame unbekannte Gewächse wirft.
– Wir könnten sie Traumbildern vergleichen; nur, daß sie nicht wie die gewöhnlichen oder auch ungewöhnlichen einer Deutung zugänglich sind.
– Traumbilder, jenen Kafkas ähnlich, die wir nicht als leicht oder auch schwer zu dechiffrierende Symbole ansehen, sondern als kristallisierte Rätsel-Allegorien, kristallisiert und kondensiert aus dem trüben Dunst unseres sprachlichen In-der-Welt-Seins.
– Es ist, als hörten wir ein Knacken oder Rauschen in der Leitung und die uns bisher so vertraute Stimme klingt fern und fremd wie unter Wasser, dem Traumwasser in den kommunizierenden Röhren dessen, was nur Toren Medium der Mitteilung zu nennen pflegen.
– Wir könnten auch an das Flußbett denken, von dem Wittgenstein spricht: Fluß, der uns selber meint als sprachliches In-der-Welt-Sein, der von uns unbemerkt allmählich seine Ufer bildet und umbildet.
– Wir könnten vielleicht in den herausgehobenen Momenten lyrischen Sprechens fühlen, wie der Fluß etwas Unheimlich-Drängendes annimmt, je näher er der Mündung ins Meer kommt.
– Nun, löst er sich im Meer, in einem universalen Rauschen, nicht gänzlich auf?
– Gewiß, er fließt noch und scheint den ruderlosen Kahn unserer Existenz mit sich fortzutragen, doch in Wahrheit hat er sich immer schon im Grenzenlosen, im Unendlichen, im Rauschen oder Schweigen aufgelöst.
– Immer schon aufgelöst, und doch sind wir da, sehen uns an, reden in einiger Gelassenheit miteinander.
– Es ist, als sprächen lebende Wesen im Licht, doch in Wahrheit sind sie schon Schatten in jener Unterwelt, wovon ein Vergil, ein Dante spricht.
– Die Sprache wäre die Höhle nicht, die uns gefangenhält, sondern der raumzeitliche Hohlraum, der uns birgt, und die Schatten an der Wand unsre eigenen.
– Und das Licht, das sie wirft, strahlt nicht von der Sonne des Guten, sondern vom ewigen Weltenbrand.
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