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Geister und Schatten

17.02.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Namen, einer des anderen Schatten.

Der ukrainische und der russische Vorname Wolodymyr und Wladimir sind phonetisch unterschiedlich, aber etymologisch strukturgleich; das bezeugt die Intensität der Feindseligkeit zwischen verwandten Sippen.

Vor Schatten erschrecken – gemahnt an den Tod, das Schattenreich.

Klarheit der Sicht und der Einsicht, vom eigenen Schatten verstellt.

Das Unsagbare sagen, über den Schatten der Sprache springen.

Der schattenlose Augenblick Nietzsches, den er als Glück empfand; doch ist es schon übermenschlich und kaum zu ertragen.

Die sublime Malerei beginnt wohl mit der Skiagraphie.

Das Erlebte, den Schrecken, das Unbewältigbare in den Schatten gewahren, die wie die von langen Wimpern und dunklen Lidern auf ein Lächeln fallen.

Auf ihren glänzenden Gucci-Schuhen hafteten immer noch Staubteilchen von dem längst betonierten Kartoffelacker ihrer Kindheit auf dem Land.

Die Sonne Homers, die Gischt unterm Kiel des Odysseus, die Gischt auf des Hexameters Wogen.

Der Großvater, der eigentlich Maler werden wollte, aber schwer verwundet aus dem Krieg in die Landwirtschaft der Großmutter einheiratete, hat dem Enkel mit leichter Hand den Umriß von Tieren, Hunden, Katzen, Pferden, ins Schulheft skizziert und starb langsam, Schluck für Schluck und Krug für Krug des lieblichen moselländischen Weins, umlauert, gelockt von ihrem Schatten, seiner Frau nach.

Das Schattenspiel der platonischen Höhle; als wären, was wir sehen, die Schatten der wirklichen Dinge; also auch die Worte, mit denen wir sie benennen, die Schatten der wahren Namen.

Die Schatten der Toten, die den Lebenden einen Blutzoll abverlangen, auf daß sie zu reden begönnen.

Der lange Schatten des Sinai, den die fahle Sonne der Aufklärung nicht aufzulösen vermochte.

Das Schöne an der Sonnenuhr ist, daß sie des nachts nicht geht.

Die Bangigkeit, die uns zur Stunde der wachsenden Schatten befällt.

Der Schatten der Vergangenheit, den die verstörten Deutschen zu bewältigen trachten, indem sie ihn immer wieder rituell beschwören.

Das unwirkliche Licht des Sommerabends, das geisterhaft über Wellen, Zweige, Gräser und die entrückten Gesichter der Liebenden hinzittert.

Farbige Schatten, im Dunst gezeugt vom müden Strahl der untergehenden Sonne, sie rinnen ineinander, löschen sich aus, ergrauen, als seufzten sie nach der Nacht.

Die einsame Kerze am durchbohrten Fuß des Gekreuzigten, die in einem geisterhaften Hauchen flackert; dort auf dem verschneiten Pfad sind noch die Spuren dessen zu sehen, der sie angezündet hat.

Der Ton der Klage, der wie die Lerche ins kältere Blau sich schwingt, wo keine Pforte, kein Nest ihn aufnimmt, und schluchzend in den echolosen Abgrund hinabsinkt, dem Vogel gleich, der tödlich getroffen Federn streuend auf die Erde hinabtaumelt.

Das Grauen, das immer in uns lauert, ist aus den Schatten gemischt, die wir den Personis dramatis unserer Tragikomödie wie geisterhafte Flügel oder Staub aufwirbelnde Schleppen anhängt haben.

Aus dem Dunkel der Tiefe gestiegen, um die staunenden Augen in die strahlende Leere des Himmel zu heben.

Die Fasnacht der schweizerischen und süddeutschen Regionen, die schwäbisch-alemannische Fasnet, ist noch nicht völlig nicht dem Kommerz und dem Flachsinn des Zeitgeistes zum Opfer gefallen wie der Karneval in Köln und Mainz; dabei bezeugen die urtümlichen Tiermasken und dämonischen Fratzen, wie man sie noch in Rottweil, Endlingen und Villingen findet, die orgiastischen Tänze und das wilde Gebaren der solcherart Maskierten eine ferne Verwandtschaft mit dem Geisterglauben und den Maskeraden der alten Stämme Afrikas, Australiens und Sibiriens.

Es sind die Tiere, die wir gejagt und getötet, gezüchtet und geschlachtet haben, die ihren Tribut an unseren Ängsten und Schreckvisionen fordern; es sind die Tiere der unheimlichen Wildnis, die uns mit Zähnen und Klauen, dem Fletschen tödlicher Reißzähne und dem Zischen glühender Zungen heimsuchen und welche die Masken der Kult- und Totemtänze inspirierten.

Die Geister der Dämonen steigen wie Rauch aus dem Blut der geopferten Tiere.

Tiergeister und Tierdämonen waren auch die Urformen der griechischen Götter, Ursprung der Mythen, aus denen die Kunst und Dichtung des Abendlands sich formten. Das bezeugen die alten Namen, die Homer überliefert, wie die eulenäugige Athene, oder die ihnen zugeschriebenen Attribute wie der Kuckuck, der Pfau und die Kuh der Hera oder der Adler und der Stier des Zeus.

Gewiß, die olympischen Götter schreiten erhaben und anmutig in rein menschlicher Gestalt einher, doch die halbtierischen Wesen, die sich wie die Satyrn und Mänaden um Dionysos scharen, oder die Sirenen und Kentauren sind anderen Geistes.

Es ist bezeichnend, daß der an griechischer Religiosität entzündete dichterische Sinn eines Hölderlin wohl den edlen und majestätischen Gestalten des Chiron und des Zeusadlers Eingang in seine Oden und Hymen gewährt, nicht aber den wilden Mischwesen der alten Sage.

Die Aura einer Person, die sich in der Atmosphäre äußert, die sie unwillkürlich um sich verbreitet, kann ein Tiergeist sein, der schon ihre Ahnen heimgesucht hat, und von dessen Gegenwart ihre bewußte Wahrnehmung nichts registriert.

Der letzte große Dichter, dem man wie in der Antike Homer, Pindar, den Tragikern und Vergil einen Zugang zum Reich der Geister und Schatten nicht absprechen kann, war Goethe, wie nicht nur seine bekannten Balladen „Erlkönig“ und „Der Zauberlehrling“ bezeugen. – Nachklänge geisterhafter Schattenspiele und dämonischer Überwältigung finden wir in der Prosa und Dichtung der Romantiker, aber auch bei Storm und Poe, bei George, Huchel und Bobrowski.

Maskerade und Verwandlungszauber sind dem Panoptikum des poetischen Geistes unentbehrlich; Verlaine hat dies mit seinem Rückgriff auf das Rokoko und die Figuren der Commedia dellarte ebenso veranschaulicht wie Hofmannsthal mit seiner wehmütigen Erinnerung an das Wien des Canaletto.

Gaukler, die verschmitzt uns grüßten,
Süßholzraspler, Pansgesicht,
Schranzen, die den Trank versüßten,
schlüpften aus Verlaines Gedicht.

(Siehe: http://www.luxautumnalis.de/kusshand-fuer-verlaine/)

Freilich, wer sich der Bedrängnis durch Geister und Schatten nicht mittels produktiver Metamorphose in Kunst und Dichtung erwehren kann, wie der unfreiwillige Narr, der Psychotiker, ist oftmals dazu verdammt, sie an der Leber seiner Instinkte und Gefühle fressen zu lassen, ohne daß sie durch die Einnahme von einschlägigen Medikamenten wieder vollends nachwachsen kann, oder wild fuchtelnd, radebrechend und genasführt mit seinem eigenen Schatten zu fechten.

Die Dämonen und Schatten, die das Denken der Philosophen heimsuchen, sind wie Wittgenstein diagnostizierte die trügerischen Bilder, die den kurzschlüssigen Analogien und verfänglichen Suggestionen unseres Sprachgebrauchs entspringen.

Wer nach der Bedeutung eines Namens fragt, als wäre er der Ausfluß oder Schatten des Benannten, gleicht dem Kind, das glauben mag, die verstorbene Großmutter hause nun wie eine verbannte Hexe unter der Erde, weil ihr Name auf dem Grabstein prangt; oder wer das unbestimmte Pronomen „niemand“ mit einem Namen verwechselt und nicht die Form der Negation in einem Satz wie „Niemand ist im Zimmer“ erkennt, nämlich: Es gibt nicht ein a, so daß gilt: a ist in dem Zimmer; er gleicht dem König in der Erzählung „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carroll, der nach Alice Antwort auf seine Frage, ob sie jemanden auf der Straße sehe: „Nein, ich sehe niemanden“, ganz erstaunt ob der Tatsache ist, daß sie – und das bei dieser Entfernung – diesen Niemand erkannt habe.

Ein seltsamer Geist ist auch der Dämon in den Meditationen des Descartes, der einen undurchdringlichen Schatten auf alles wirft, was wir wahrnehmen, so daß wir außerstande sind, die Dinge so zu erkennen, wie sie in Wahrheit sind, und eigentlich nichts wissen können (es sei denn, Gottes Gnade beraubt ihn seiner Trugmacht – wenigstens teilweise, nämlich in der wie Descartes annahm unerschütterlichen Wahrheit des Satzes „Cogito ergo sum“)). Hier sitzt der Philosoph, der den Zweifel zur alles unterhöhlenden Methode macht, einem Begriff des Wissens auf, der ein Maß von Strenge und Exaktheit impliziert, welches wir bei alltäglichen Aussagen wie: „Warte hier eine Weile“ oder: „Der Berg, den wir erreichen wollen, ist noch ziemlich weit entfernt“ nicht benötigen – denn in beiden Fällen bedürfen wir, um uns verständlich auszudrücken, keines exakten Maßstabs für die Messung der Zeit und der Entfernung.

Eine andere Form philosophischer Narretei resultiert aus dem, was man den Schatten der Repräsentation nennen könnte; als wäre die Bedeutung dessen, was wir sagen und tun, gleichsam dem Strom des Bewußtseins oder den Vorstellungsbildern, den Erinnerungen und Erwartungen zu entnehmen, die unsere Äußerungen und die Wahrnehmung und Deutung von akustischen und visuellen Zeichen begleiten, oder den Absichten und Erwartungen, mit denen wir unsere Gesten und Handlungen ausführen.

Jemand mag sich vorstellen, das Geräusch fallender Tropfen bedeute Regen, doch was da plätschernd herabfällt, sind die Tropfen des Nachbarn im oberen Stock, der seine Blumen gießt. – Ein Mann mag erwarten, die abstrakten Embleme für Mann und Frau bedeuteten, daß ihn Vertreter des jeweiligen Geschlechts hinter der Türe, an der sie jeweils befestigt sind, freundlich begrüßen werden; indes, die Protestrufe, die ihm entgegenschallen, wenn er die Tür mit dem Zeichen für Frau öffnet, um seiner Erwartung genügezutun, werden ihn eines besseren belehren.

Der Inhalt unserer Vorstellungen und Überzeugungen, Absichten und Erwartungen ist weder konstitutiv für die Bedeutung von sprachlichen Zeichen noch deren Kriterium, vielmehr ist es, was wir ihre konventionelle oder definitorische Festlegung durch die Gemeinschaft derer nennen, die sie verwenden.

Jemand, der sich nicht vorstellen kann, daß der Abendstern derselbe Planet wie der Morgenstern ist, muß sich am Ende der Definitionshoheit der Forschergemeinschaft beugen, die diese Identität aufgrund astronomischer Entdeckungen festgeschrieben hat.

Jemand, der sich berechtigt fühlt, sich am Eigentum der Wohlhabenden zu vergreifen, um es in wohlwollender Absicht an die Armen zu verteilen, kann den Diebstahl nicht mittels seiner moralisch lauteren Absicht rechtfertigen und adeln. Was wir (die rechtsetzende Gemeinschaft) als kriminelle Handlung qualifizieren, schließt ihre Eignung als ein „gutes Werk“ per definitionem aus.

Daraus folgt, daß die Bedeutung von Zeichen eine Sache ihrer konventionellen Festlegung, nicht aber ihrer Interpretation darstellt, einer Interpretation, die je nach Perspektive und Weltbild des individuellen Interpreten mal so und mal so ausfallen kann.

Ein weiterer Geist in der Nachfolge des kartesischen Dämons ist, was Ryle das Gespenst in der Maschine genannt hat. Dieses kennen wir nunmehr zur Genüge von der „neurophilosophischen“ Reduktion dessen, was wir Bedeutung nennen, auf neuronale Vorgänge im Gehirn. – Auch wenn das Feuern einer Gruppe von Neuronen die Äußerung eines Satzes begleitet, kann es dessen Bedeutung nicht konstituieren; denn diese ist durch den Gebrauch in der Sprachgemeinschaft konventionell festgelegt, die neuronalen Abläufe aber gehorchen deterministischen oder probabilistischen Modellen, die bestimmte Vorstellungs- und Verhaltensmuster mit neuronalen Strukturen korrelieren.

Wären die Bedeutungen unserer Sätze aber spezifisch determinierte Wirkungen der neuronalen Vorgänge im Gehirn, könnten wir wahre nicht mehr von falschen Sätzen unterscheiden, vielmehr wäre der Unterschied von richtig und unrichtig, wahr und falsch weder anwendbar noch begründbar.

Der Fehler in der Berechnung ist kein Folge eines logischen Mißgriffs der Maschine oder der neuronalen Synapsen, sondern ein Versagen der relevanten Schaltungen und Algorithmen. – Die Maschine kann nicht hinsichtlich des korrekten Aufbaus logischer Schlüsse belehrt, sondern muß neu programmiert werden; nicht die Neuronen haben versagt, sondern die betreffende Person hat einen logischen Fehler begangen.

Der wahre Satz „Der Abendstern scheint nicht der Morgenstern zu sein“ wird demselben neuronalen Muster folgen wie die falschen Sätze „Der Abendstern scheint nicht der Abendstern zu sein“ und „Der Morgenstern scheint nicht der Morgenstern zu sein.“ – Der wahre Satz „Der Abendstern ist der Morgenstern“ impliziert das Wissen von der Wahrheit der Sätze „Der Abendstern ist die Venus“ und „Der Morgenstern ist die Venus“; denn er ist die logische Folgerung aus diesen beiden Sätzen. Logische Folgerungen aber sind keine neuronalen Vorgänge.

 

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