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Abbildungen und Repräsentationen

28.10.2015

Wie wir die Begriffe von Richtigkeit und Wahrheit der Darstellung klären können

Wir behandeln Abbildungen und Repräsentationen als spezielle Form der Beschreibung oder als Modelle, die uns Spielräume des Handelns eröffnen. Es geht also nicht nur darum oder manchmal gar nicht darum, ob und in welchem Maße Repräsentationen das Repräsentierte richtig, genau oder wahrheitsgemäß darstellen, sondern ob und in welchem Maße sie es in der Weise darstellen, daß wir in der Realität des Dargestellten zweckgerichtete und sinnvolle Handlungen ausführen können. Natürlich interessieren uns letzten Endes Begriffe wie Richtigkeit oder Wahrheit, denn sie entscheiden über den Sinn oder die sinnvolle Funktion unserer Gedanken.

Jedes Abbild und jede Repräsentation können wir unter dem Aspekt der Handlungen betrachten, die durch ihre Herstellung und Leistung ermöglicht werden. Wir benutzen topographische Karten für unsere Orientierung bei Wanderungen und Spiegel, um uns zu kämmen, zu schminken oder eitel zu betrachten. Der Arzt benutzt Spiegel, um das Innere von Organen sichtbar zu machen, die keinen direkten Augenkontakt zulassen, wie Innenohr, Magen oder Darm, oder Röntgen- oder MRT-Aufnahmen in der Absicht, eine genaue Diagnose zu stellen und gegebenenfalls operative Eingriffe durchzuführen.

Abbildungen sind isomorphe Repräsentationen, bei denen sowohl die Form als auch die Struktur des Abbilds identisch sind mit der Form und Struktur des Abgebildeten, wie das Spiegelbild strukturgleich, wenn auch seitenverkehrt zum Gesicht dessen ist, der in den Spiegel schaut, oder das Gipsmodell und das digitale Drei-D-Modell, das der Zahnarzt vom Gebiß seines Patienten modellieren läßt, um Fehlstellungen der Zähne oder Fehlentwicklungen im Kieferwachstum diagnostizieren und durch geeignete Maßnahmen und Prothesen korrigieren zu können, strukturgleich und isomorph zum echten Gebiß des Patienten sind.

Repräsentationen sind heteromorphe Abbildungen, bei denen die Form des Repräsentierenden nicht identisch ist mit der Form des Repräsentierten, während die Strukturen beider übereinstimmen, wie bei der topographischen Karte, bei der zum Beispiel geometrische Zeichen wie Kreise oder Dreiecke Orte und Städte vertreten oder bezeichnen, die mit der Form ihres Abbilds nicht isomorph sind, während andere Zeichen einer solchen Karte, wie ein sich dahinschlängelndes blaues Band oder abstrahierte Ikonen grüner Bäume isomorphe Abbilder der dargestellten Bäche und Flüsse oder Bäume und Wälder darstellen. Hieran ersehen wir auch, daß wir Zeichen- oder Darstellungssysteme sinnvoll verwenden können, die beide Typen von Darstellungen, isomorphe Abbildungen und heteromorphe Repräsentationen, planmäßig mischen.

Zeichensysteme mehr oder weniger gemischter isomorpher Abbildungen und heteromorpher Repräsentationen wie topographische Karten, architektonische Pläne von Häusern und Brücken, Partituren von Musikstücken oder Röntgen- und MRT-Aufnahmen von Organen und Organsystemen benutzen wir dazu, die Gestalt und Form einer Landschaft zu metrisieren und in einem Maße zu objektivieren, das uns erlaubt, darin zweckgerichtete Handlungen zu vollziehen, wie zu wandern, Auto zu fahren oder neue Grünflächen anzulegen oder neue Stadtviertel zu entwerfen; dazu, statische Berechnungen auszuführen und Häuser und Brücken zu bauen; dazu, Musikstücke einzuüben und aufzuführen; und dazu, Diagnosen zu machen und Operationen auszuführen.

Hierbei stoßen wir auf ein erstes wichtiges Kriterium für die Korrektheit oder Wahrheit von Abbildungen und Repräsentationen, das wir kontrafaktisch einfach formulieren können: Würde unsere Karte die Landschaft falsch abbilden, würden wir uns bei unserer Wanderung verirren. Würde der Architekt beim Entwurf des Hauses und der Brücke gravierende Fehler bei der Repräsentation der statischen Gegebenheiten von tragenden Wänden oder Stützpfeilern begehen, würden Haus und Brücke zusammenstürzen. Würde die Partitur die Notation nicht den vom Komponisten vorgeschriebenen Musikinstrumenten zuordnen, wäre die Probe „vergeigt“ und eine Aufführung riefe Proteststürme des Auditoriums hervor. Würde das Röntgengerät oder die MRT-Maschine die Organe und Organsysteme fehlerhaft abbilden, könnte keine exakte Diagnose gestellt und keine wirksame Operation durchgeführt werden – der Patient stürbe im schlimmsten Falle.

Betrachten wir die Reihe der verschiedenen Aufzeichnungen eines Musikstückes, könnten wir uns vielleicht fragen, in welchem Segment das „eigentliche Stück“ oder das „eigentliche Objekt“ enthalten ist, denn nur am Maßstab dieses Urmodells könnten wir die Richtigkeit seiner Repräsentationen beurteilen. Ist also das eigentliche Objekt die handschriftliche Partitur des Komponisten, der sogenannte Autograph, ist es die klangvolle Aufführung durch ein Orchester, ist es die digitale Aufzeichnung, die wir im PC gespeichert haben, oder ist es das Hörbild im jeweiligen Hörer bei der jeweiligen Aufführung oder Reproduktion? Ja, man könnte fragen, ob das eigentliche Objekt nicht die innerseelische Realität der kompositorischen Ideen des Komponisten sei, von der die Partitur ja nur das Abbild darstelle?

So zu fragen scheint uns ein gutes Beispiel dafür, wie man philosophisch in die Irre gehen kann. Irrig ist nämlich die Hypothese, es könne hier ein eigentliches Objekt oder Urmodell geben, dem wir als platonische Idee unsere Reverenz abzustatten hätten, ein Urmodell, das das Gemeinte in vollkommener Exaktheit und Eindeutigkeit ausdrückte. Sagen wir einfach, das, was wir meinen, wenn wir von einer Komposition oder einem Musikstück reden, ist in all seinen unterschiedlichen Versionen anwesend, keine davon aber muß an einem idealen Maßstab der Exaktheit gemessen werden, ohne daß wir unseren normalen und gewöhnlichen Gebrauch der Begriffe „Richtigkeit“ oder „interpretative Treue“ aufgeben müßten. Denn natürlich werden bei der Aufführung durch das Orchester der zweiten Geige oder einer Klarinette dieser und jener Fehler unterlaufen, ohne daß wir sagen müßten: „Nein, das war keine Interpretation der Pastorale von Beethoven“, sondern wir sagen: „Das war eine interessante Interpretation der Pastorale von Beethoven, auch wenn die Aufführung nicht ganz fehlerfrei verlief.“

Ja, wir können so weit gehen zu sagen, daß sogar der Autograph des Komponisten keinen Anspruch auf vollkommene Exaktheit bei der Repräsentation des Gemeinten erheben kann. Denn ein gewiegter Musikwissenschaftler könnte feststellen, daß selbst einem Beethoven an dieser und jener Stelle seiner Komposition ein Fehler unterlaufen ist, weil er die Tempi trotz vorstehender Tempoangabe in einem Takt nicht ausgefüllt oder weil er trotz vorstehenden Verminderungszeichens in einem Takt die gewünschte Modulation nicht durch die erforderliche Änderung anderer Vorzeichen durchexerziert hat. Solche Fehler werden im Sinne der Intention des Komponisten, die wir aus dem Kontext ziemlich genau erschließen können, stillschweigend korrigiert und aus den Aufzeichnungen der handelsüblichen Partituren gestrichen, sodaß sie am Ende nicht einmal mehr den Hörgenuß des subtilsten Kenners beeinträchtigen.

Ähnlich verhält es sich mit den Manuskripten von Autoren der Antike, die wir gern mit einem textkritischen Apparat ausschmücken, um die Stellen zu bezeichnen, an denen eine Reihe von Überlieferungen von jenem Manuskript abweichen, das wir in einem Stemma der Überlieferungsschichten als das früheste und dem Original am nächsten kommende ausgezeichnet haben. Denn es könnte sein, daß spätere Abschriften einen verloren gegangenen Vorgänger und spärlich bezeugten Nebenzweig des Stemmas repräsentieren, welcher der Urschrift des Autors zeitlich und inhaltlich näher stand. Fehlende Wörter oder sprachliche Wendungen bemüht sich der Philologe durch Konjekturen sinngemäßer Wörter und Wendungen zu ersetzen, deren vermutete Richtigkeit er aus dem Kontext des Werkes, aus dem gesicherten Gesamtwerk des Autors und den Werken zeitgenössischer Autoren erschließt. Selbst typischen Abschreibefehlern weiß der gewitzte Fachmann auf die Schliche zu kommen und oft durch Emendationen auszuwetzen, die sich anheischig machen dürfen, den richtigen Sinn der Stelle wiederzugeben. Außerdem können jedem Autor sachliche oder orthographische oder grammatische Fehler unterlaufen, die wir stillschweigend korrigieren, ohne daß sie uns nötigen, den Gesamtwert des ganzen Textes in Frage zu stellen.

Wenn wir die frühen Weltkarten der Antike und die Weltkarte des Ptolemäus mit den Weltkarten zur Zeit nach der Entdeckung Amerikas oder nach der Reise des Marco Polo und mit den heute gebräuchlichen Globen vergleichen, können wir nicht leugnen, daß die späteren um viele Grad des gewachsenen Wissens und der empirischen Kenntnis genauer und vollständiger die Lage und die Umrisse der Kontinente und Meere abbilden. Wir sagen gern, daß es auf unserer Erde keine weißen Flecken mehr gibt, und meinen damit, daß unsere geographischen Repräsentationen der Erdoberfläche alle Regionen gleichmäßig abdecken. Sollen wir nicht sagen dürfen, daß der Globus auf dem Nachttisch eines Kinds im heutigen Europa im Vergleich zu den primitiven Annahmen auf den Weltkarten der Antike die Kriterien der Richtigkeit und Wahrheit der Repräsentation vollständiger erfüllt? Das können wir sagen, ohne den antiken Versuchen damit jedes Maß an Richtigkeit ihrer Repräsentation bestreiten zu müssen, denn sie waren zwar nicht völlig richtig, aber auch nicht völlig falsch.

Aber wer käme auf die Idee, die Kriterien der Richtigkeit und Wahrheit der Repräsentation radikal in Frage zu stellen und zu verwerfen und dadurch den Sinn des Begriffs der Repräsentation selbst anzuzweifeln oder zu verwerfen? Nun, das können nur Philosophen einer nihilistischen oder dekonstruktivistischen Sicht der Dinge wie Friedrich Nietzsche oder Jacques Derrida sein, die an der Möglichkeit richtiger oder wahrer Darstellungen und Beschreibungen irre wurden, weil sie die Richtigkeit der Darstellung entweder mit der isomorphen Widerspiegelung des Dargestellten verwechselt oder als Funktion einer Wahrheitsidee betrachtet haben, nämlich der Idee der Wahrheit als Übereinstimmung von Aussage und Tatsache oder Sachverhalt, den wir in der Tat in der aristotelisch-thomasischen Version der adaequatio intellectus et rei nicht aufrechterhalten können, sondern allenfalls nach einer gründlichen Gesundkur durch die Tarski-Semantik für überlebensfähig halten.

Erläutern wir dies an der Richtigkeit und Wahrheit von Himmels- und Sternenkarten. Wir vergleichen die astrologischen Himmelskarten, bei denen die Konstellationen der beobachtbaren Sterne durch sogenannte Sternbilder wie den kleinen Wagen oder den großen Bären repräsentiert werden, mit den Karten von Sternen, Galaxien und Galaxienhaufen, die uns das Weltraumteleskop Hubble zu erstellen ermöglich hat. Wir sagen, bei der astrologischen Klassifikation von Sternansammlungen handele es sich um rein konventionelle oder metaphorische Bezeichnungen, die keinen Anspruch auf Richtigkeit und Wahrheit in demselben Sinne erheben können wie die Repräsentationen von Sternen und Galaxien, die uns Hubble zur Verfügung gestellt hat.

Bei den Sternen der Himmelskarten handelt es sich um Objekte, die wir mit den topographischen Repräsentationen der Städte unserer Landkarten vergleichen können. Die Sternbilder unserer Teleskope sind isomorphe Abbildungen, mit denen wir die genaue Lage der astralen Objekte in einem Sternenhaufen und ihre Abstände sowie ihre relativen Größenordnungen angeben können, während die Zeichen für die Lage und Größe der Städte auf topographischen Karten heteromorphe Repräsentation sind. Die isomorphe Abbildung eines Sterns kommt durch kausale Einwirkungen des von dem Stern ausgestrahlten Lichts verschiedener Frequenzen auf die Sensoren des Teleskops zustande, während wir unser Wissen über die Lage und Größe einer Stadt wie Frankfurt durch empirische Erkenntnis mittels Augenschein zu Fuß oder vom Flugzeug aus erhalten haben.

Die konventionellen Bezeichnungen der Sternkonstellationen als astrologische Sternbilder gehen nicht auf kausale Prozesse der Einwirkung der von den Sternhaufen ausgesandten Lichtstrahlen auf unser Auge zurück, sondern auf die muntere Tätigkeit unserer Phantasie, die gern in Wolken oder Sanddünen oder eben Sternansammlungen Muster und Gesichter oder Gestalten wahrzunehmen glaubt, obwohl es sich um keine echten Wahrnehmungen handelt.

Wenn wir den Unterschied zwischen der Bedeutung von Eigennamen wie Sonne und Mond, Jupiter und Saturn, Milchstraße und Andromedanebel oder Frankfurt und München, Rhein und Mosel, Matterhorn und Mount Everest oder Harz und Eifel auf der einen Seite und der Bedeutung von konventionellen Bezeichnungen wie Großer und Kleiner Bär, Krebs und Fische, Einhorn und Pegasus auf der anderen Seite leugnen, leugnen wir nicht nur den Unterschied zwischen dem, was wir mit nichtmetaphorischen Sternkonstellationen oder metaphorischen Sternbildern meinen, sondern sogar die Existenz von Sternen und ihren Konstellationen überhaupt.

Wenn wir die Kriterien von Richtigkeit und Wahrheit der Repräsentation über den Haufen werfen, tappen wir nicht nur im Nebel, den wir nicht einmal mehr als solchen wahrnehmen könnten, oder gehen nicht nur systematisch in die Irre, obwohl wir nicht einmal mehr in der Lage wären, Irrtümer einzusehen, sondern handeln auch unverantwortlich, weil wir als Ingenieure, Techniker, Architekten, Städteplaner oder Mediziner, ja selbst als Komponisten in unseren Lebens- und Handlungsvollzügen auf die Spielräume des angemessenen und zweckgerichteten Handelns angewiesen sind, die uns richtige und wahre Repräsentationen allererst eröffnen.

Es ist eine scheinbare Ausflucht aus dem Dilemma des Zusammenbruchs jeder Möglichkeit korrekter Repräsentation anzunehmen, alle Bilder der Welt seien gleichwertig, was der Astrologe sieht, könne durch das, was der Astronom und Kosmologe sieht, nicht richtiggestellt, sondern nur variiert werden.

Wenn Ptolemäus eine grundsätzlich von unserer Welt verschiedene Welt gesehen und repräsentiert hätte, wieso können wir dann überhaupt einsehen und behaupten, daß er eine andere Weltversion vor Augen hatte als wir? Wenn wir annehmen müßten, die Menschen der Antike hätten in einer von uns ganz verschiedenen, also uns unzugänglichen Welt gelebt, wieso sollten wir noch die Ilias des Homer lesen, da wir das wesentliche Handlungsmotiv ihres Helden, den Zorn des Achilleus, nicht mehr mit den emotionalen Gefühlswallungen vergleichen können sollen, die uns überkommen, wenn uns ein überaus geschätztes Gut geraubt oder unsere Ehre hundsgemein befleckt worden ist?

Doch stattdessen waren Kopernikus und Kepler aufgrund der Beobachtungen eines Galilei und Tycho Brahe in der Lage, die Mängel der Annahme epizyklischer Kreisbewegungen der Planeten im ptolemäischen Weltbild aufzuzeigen und daraus richtige Konsequenzen abzuleiten, indem sie den Planeten Kreisbahnen beziehungsweise elliptische Bahnen zuordneten, die ihre Bewegungen rational nachvollziehbar und berechenbar machten, weil ihre Repräsentation des Sonnensystems mit den Bahnen der Planeten um das Zentralgestirn der Wahrheit ziemlich nahe kommt.

Es ist demnach keine Sache der Willkür oder eine metaphysische Voreingenommenheit für unser Weltbild, wenn wir sagen, es sei vernünftiger anzunehmen, daß Kopernikus und Kepler mit ihren Repräsentationen des Sonnensystems richtiger lagen als die antiken Astronomen und Ptolemäus, als das Gegenteil anzunehmen und zu behaupten, daß keine astronomische und kosmologische Beschreibung und Repräsentation der Wahrheit näher kommt und keine Repräsentation mit der anderen vergleichbar ist, sondern daß alle Repräsentationen inkompatibel und inkommensurabel sind, sodaß wir nicht von einer Welt sprechen können, sondern von mit einander unverträglichen Weltbildern oder Weltversionen.

Es ist ebensowenig eine Ausdruck anarchischer Beliebigkeit und zynischer Verachtung unseres Weltbildes, wenn wir sagen, es sei wenig vernünftig anzunehmen, daß alle unsere Verfahren und Projektionsmethoden zur Entwicklung von Abbildungen und Repräsentationen einem einheitlichen Muster und einer einheitlichen Bedeutung des je Dargestellten gehorchen, sondern jeder Typus der Abbildung und Repräsentation weise ein je gültiges Verfahren der Abbildung und Projektion auf und es gebe keine Abbildung aller Abbildungen oder Repräsentation aller Repräsentationen.

Freilich kann ich bei einem einheitlich regulierten Währungssystem Dollar gegen Euro und Euro gegen Franken eintauschen, bei einem einheitlich regulierten System der Maßeinheiten Meter in Zoll und Zoll in Ellen umrechnen, ohne daß der Geldwert oder das Gemessene ihre Identität verlieren. Doch bekanntlich eignet sich die Darstellungsmethode der euklidischen Geometrie nicht dazu, quantenmechanisch berechnete Felder oder relativistisch berechnete Ereignisfelder adäquat zu repräsentieren. Das bedeutet indes nicht, daß wir newtonische Kraftlinien nicht in einsteinsche Kraftfelder übersetzen oder projizieren könnten. Aber umgekehrt gilt das nicht: Sterne und Galaxien reagieren in der newtonischen Physik ohne Zeitverlust oder gleichzeitig aufeinander, sodaß wir nur ihre räumlichen Distanzen verzeichnen müssen, um zu einer adäquaten Repräsentation zu gelangen, während die Massen in der relativistischen Physik nicht schneller als in Lichtgeschwindigkeit ihre Schwerkraftwirkungen entfalten können, sodaß wir für eine adäquate Repräsentation von Sternsystemen auf Zeitvektoren nicht verzichten können.

Wenn wir feststellen, daß wir die Bedeutungen von sprachlichen Ausdrücken einer Sprache nur unter Inkaufnahme eines zumindest minimalen Verlustes an Bedeutungsäquivalenz in sprachliche Ausdrücke einer anderen Sprache übersetzen können, folgt daraus nicht, daß alles Übersetzen verlorene Liebesmühe wäre. In der Tat finden wir in den alten Sprache Farbskalen, die den von uns verwendeten entweder fremd sind oder nicht vollständig entsprechen. Aber sollen wir aus dem Grund, daß der Lateiner den deus Neptun, den Meergott Neptun, und also die Farbe des Mittelmeeres mit demselben Wort caeruleus bezeichnet wie den arbor Palladis, den Baum der Pallas Athene, und seine Frucht, die Olive, annehmen, die alten Römer hätten das Meer als dunkelgrün und die Olive als dunkelblau wahrgenommen? Nein, wir können den Unterschied, den auch sie gesehen haben, anhand unserer ausgetüftelteren oder nuancierteren Farbrepräsentation einfach unmißverständlicher und genauer ausdrücken und müssen nicht auf den blauen Meergott und die grüne Pallasfrucht zurückgreifen, um die Farbe des Meeres oder die Farbe der Olive zu bezeichnen.

Aus Bedeutungsunterschieden dieser Art, die uns bei der Übersetzung von einer Sprache in eine andere Sprache und bei der Projektion einer Maßeinheit des eines physikalischen Systems in die eines anderen System begegnen, auf die Inkommensurabilität und praktische Unübersetzbarkeit aller sprachlichen und anderen Repräsentationssysteme schließen zu wollen, wäre unvernünftig. Wenn unser Wort „dunkelblau“ nicht vollständig synonym mit dem lateinischen Wort caeruleus ist, weil diesem noch der Aspekt anhaftet, auch „dunkelgrün“ zu bedeuten, was hindert uns, bei nächster Gelegenheit, wenn wir vom mare caeruleum lesen, es mit der Wendung „blaugrünes Meer“ zu übersetzen? So können wir die Lücken einigermaßen schließen, ohne fürchten zu müssen, in irrationale Abgründe völlig opaker und unübersetzbarer Idiolekte rutschen und verstummen zu müssen.

Nun gut, wir können uns nicht mittels einer topographischen Karte Orientierung im Landschaftsraum der Sagen und Mythen verschaffen, weil wir dazu auch imaginäre Orte wie den Orkus, die Höhle des Kyklopen und die Inseln der Seligen oder imaginäre Flüsse wie Lethe und Styx berücksichtigen müssen, genauso wenig, wie wir uns mittels der Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab topographisch genaue Orientierung auf dem Peloponnes oder in der Ägäis verschaffen können, aber sollen wir deshalb aus der trivialen Inkommensurabilität der mythischen und der wissenschaftlichen Darstellung von Landschaften fröhlich oder verzagt den Schluß ziehen, die Idee der Abbildung und Repräsentation überhaupt aufzugeben?’

Gäbe es eine Geheimsprache sui generis, die in keine andere Sprache übersetzbar wäre, so wüßten wir nicht einmal von ihrer Existenz. Denn Sprachen sind heteromorphe Systeme der Repräsentation, von denen wir annehmen müssen, daß jede Sprache dieses Typs in jede andere im Prinzip übersetzbar sein muß.

Begegnen uns unverständliche sprachliche Ausdrücke, die als Fragmente einer Geheimsprache ausgegeben werden, wissen wir immerhin, daß es sich dabei um Sprachzeichen handelt, die mit unserem Prinzip der Repräsentation übereinstimmen müssen, denn ein anderes gibt es nicht, sodaß wir davon ausgehen können, daß ihre Benutzer mit ihren Zeichen etwas in demselben Sinne bezeichnen, wie wir es mit unseren Zeichen tun. Demnach kann es keine Geheimsprache sui generis geben. Denn wäre eine Geheimsprache nicht im Prinzip in unsere Sprache übersetzbar, wäre es überhaupt keine Sprache.

Jede Sprache, soweit es sich dabei um ein System heteromorpher Repräsentation handelt, kann in jede andere Sprache desselben Typs ohne wesentliche Verluste an Bedeutungsäquivalenz übersetzt werden – geringe Verluste dieser Art nehmen wir spielend in Kauf, ohne daß wir vor unlösbaren Rätseln stehen müßten.

Vergleichen wir die Situation mit dem System der natürlichen Zahlen. Wenn wir einmal aus dem Begriff einer Zahl und ihres Nachfolgers das System der natürlichen Zahlen gewonnen haben, verfügen wir mit einem Schlag über alle komplexen Zahlensysteme, die sich daraus ableiten lassen. Ähnlich verhält es sich mit dem rudimentären Repräsentanten „S ist P“ oder in logischem Kürzel „Fa“. Unter Hinzunahme der Ableitungsfunktionen der Konjunktion und des Negators können wir daraus alle möglichen komplexen sprachlichen Systeme der Repräsentation ableiten.

Ebenso können wir mit Hilfe primitiver Repräsentanten wie Punkt, Fragezeichen und Ausrufezeichen ein Repräsentationssystem der elementaren Sprechakte entwickeln. Der Punkt repräsentiert den Sprechakt der Behauptung, das Fragezeichen den Sprechakt der Frage und das Ausrufezeichen den Sprechakt der Aufforderung. Es ist bemerkenswert, daß unser sprachliches Zeichensystem uns kein einfaches Zeichen zur Repräsentation des Sprechaktes des Versprechens zur Verfügung stellt. Der Grund liegt darin, daß wir unser Versprechen immer explizit machen müssen, sonst wäre es keins. Es genügt nicht zu sagen: „Ich komme morgen“, das könnte eine freundliche Ankündigung sein oder eine unfreundliche Drohung. Nur die Wendung: „Ich verspreche dir, morgen zu kommen“ gilt unter den geeigneten Umständen (Redlichkeit des Sprechers, Möglichkeit der Ausführung) als Sprechakt des Versprechens. Wir müssen also ein eigenes Zeichen wie das vorangestellte V einführen, um den Sprechakt zu repräsentieren, und dann so schreiben: „V (Ich komme morgen zu dir).“

Natürlich können wir die in anderen Sprachen benutzten arbiträren Kennzeichen für diese Sprechakte unseren eigenen eindeutig zuordnen. Sie sind dadurch als bedeutungsäquivalent mit den von uns benutzen Repräsentanten der wesentlichen Sprechakte ausgezeichnet. Denn eine Behauptung ist in jeder Sprache eine Behauptung, eine Frage eine Frage, eine Aufforderung eine Aufforderung und ein Versprechen ein Versprechen.

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