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Bitten und Danken

19.09.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Das Kind lernt die unwillkürliche Schmerzäußerung „Aua!“ in den sprachlichen Ausdruck „Es tut mir weh!“ umzuformen.

Wir lernen, den von der unwillkürlichen Äußerung abgeleiteten Ausdruck auch auf seelische Reaktionen oder unser Befinden anzuwenden, wenn wir sagen, daß uns ein Widerfahrnis oder ein Verhalten anderer wehtut.

„Aua!“ heißt „Es tut mir weh!“, „Es tut mir weh!“ aber kann mehr bedeuten als den unwillkürlichen Ausdruck von Schmerz.

Wir verstehen ohne weiteres, was einer meint, wenn er sagt „Es tut mir weh!“. Wenn er seinen physischen oder seelischen Schmerz äußert, weil wir es waren, die ihn verursacht haben, pflegen wir uns dafür zu entschuldigen oder um Verzeihung zu bitten.

Die Entschuldigung ist eine metaphorische Weise, die Schuld, die wir durch den Übergriff oder eine Schädigung verursacht haben, gleichzeitig einzugestehen und ungeschehen zu machen.

„Entschuldigung!“, sagt der eine. „Keine Ursache!“ sagt der andere. Und doch war natürlich die Tat oder die Äußerung, für die sich der eine entschuldigt, die Ursache, durch die er dem anderen zu nahe trat. „Keine Ursache!“ enthält wie „Entschuldigung!“ ein magisches Residuum.

Das Kind lernt weniger leicht „Bitte!“ und „Danke!“ zu sagen als „Aua!“ und „Es tut mir weh!“, weil die Bitte und der Dank nicht wie der Ausdruck des Schmerzes unmittelbar von einer unwillkürlichen Äußerung abzuleiten sind.

Wir finden in der Bitte und im Dank und den ihnen entsprechenden Sprachhandlungen eine bemerkenswerte Relation, denn der Dank gilt oftmals einer erfüllten Bitte.

Wir können nicht für etwas danken, um das wir nicht hätten bitten wollen, und wir können nicht um etwas bitten, ohne für die gewährte Bitte einen Dank abstatten zu wollen.

Wir danken freilich für etwas, was uns geschenkt wurde, ohne daß wir darum gebeten hätten.

Wenn wir jemanden um etwas bitten, zum Beispiel den Gastgeber, das Fenster zu schließen, weil es zieht, setzen wir voraus, daß der Gastgeber willens und in der Lage ist, die Bitte zu erfüllen. Die Bitte unterscheidet sich vom Befehl dadurch, daß derjenige, an den sie sich richtet, sie freiwillig und nicht gezwungenermaßen oder automatisch erfüllt. Der Gastgeber könnte sich der Erfüllung der Bitte verweigern, wenn er einen plausiblen Grund dafür angibt, wie daß er Kopfschmerzen habe und die frische Luft ihm guttue.

Dem Roboter können wir Befehle geben und er kann nicht anders, als das auszuführen, was wir in sein Programm eingetragen haben. Ja, wir müssen sagen, „Befehl“ ist in diesem Falle eine schlechte Metapher, denn der Soldat könnte sich im Gegensatz zur Maschine unter außergewöhnlichen Umständen wie einem Gewissenskonflikt der Ausführung eines Befehls, beispielsweise einem Erschießungsbefehl, verweigern.

Wenn die Freiwilligkeit ihrer Erfüllung zu den Voraussetzungen der Bitte gehört, dann setzt auch der Dank die Freiwilligkeit der Erfüllung der Bitte voraus, der er gilt.

Es wäre ebenso absurd, den Roboter um die Ausführung einer Anweisung bitten wie für ihre korrekte Ausführung danken zu wollen.

Die Bitte des Hausierers impliziert keinen moralischen Anspruch auf Erfüllung, anders die Bitte des Kindes um Zuwendung oder des Freundes um Hilfe.

Die Bitte des Hausierers um ein Scherflein abzuweisen impliziert weder eine Kränkung des Abgewiesenen noch eine moralische Schuld des Abweisenden, anders die ohne Not verwehrte Bitte des Kindes um Zuwendung oder des Freundes um Hilfe.

Die Bitte impliziert sowohl die Befürchtung, daß sie nicht gewährt wird, als auch die Hoffnung auf Erfüllung; den Dank dessen, dem die Bitte aus Höflichkeit oder Konvention gewährt wurde, begleitet ein Gefühl der Genugtuung, den Dank dessen, dem etwas geschenkt wurde, was seine Erwartung übertraf, begleitet ein Gefühl des Erstaunens und der Freude.

Der Gekränkte, dessen berechtigte Bitte, wie die Bitte oder der Anspruch des Kindes auf Zuwendung, ohne Not oder in böser Absicht übergangen, mißachtet und zurückgewiesen worden ist, wird dazu neigen, zu klagen und anzuklagen oder diejenigen zu hassen oder zu beneiden, denen nach ihrem Willen geschieht oder denen sogar über die Maßen die Gaben des Lebens zuströmen.

Es ist freilich bemerkenswert zu sehen, daß auch derjenige, der sich schon gekränkt fühlt, weil ihn die Bilder fremden Glücks quälen, dazu neigt, zu nörgeln, zu kritteln und anzuklagen oder diejenigen zu hassen oder zu beneiden, denen aus seiner Sicht die Quellen des Lebensglücks über die Maßen strömen.

Der sich ständig gekränkt Fühlende ist der Mensch des Ressentiments.

Das Kind drückt mit der Schmerzäußerung „Aua!“ oder „Es tut mir weh!“ zugleich eine Bitte oder den Anspruch aus, daß die Eltern die Ursache seines Schmerzempfindens und Unwohlseins ausräumen und es trösten. Die Eltern empfinden das Lächeln des Kindes, das sie durch die Stillung seines Wunsches getröstet sehen, als Ausdruck des Danks.

Das verzerrte und finstere Gesicht des sich ständig gekränkt Fühlenden ist ein Ausdruck seines Unwillens, für irgendetwas dankbar sein zu wollen oder zu können.

Von dem Säugling können wir nicht erwarten, daß er geduldig ausharrt, er schreit so lange, bis ihm die Brust gereicht wird.

Der sich gekränkt Fühlende lebt ohne Hoffnung auf Trost, doch auch ohne die Geduld oder den Stumpfsinn des Verzweifelten.

Natur kann den Anspruch auf die Fülle des Lebens denjenigen, die sich immer zu kurz gekommen, beraubt und um das Leben betrogen fühlen, nicht gewähren.

Wenn es regnet, wollen sie Sonnenschein, wenn die Sonne scheint, den lieblichen Schatten, im Schatten graut es ihnen, die helle Sonne blendet sie.

Vernunft ist ohnmächtig vor den Phantasmen des bösen Triebs.

Der Mensch des Ressentiments fühlt sich vom Leben betrogen.

Doch wüßte er nicht zu sagen, um was; geschähe wie durch Zauberhand all seinen Bitten augenblickliche Erfüllung, er fühlte sich immer noch leer und beraubt.

Im Paradies langweilt er sich, es ist zu still; in der Hölle ärgert er sich, sie ist zu laut.

Theologisch gesprochen ärgert sich der Mensch des Ressentiments an der Gnade.

Der Tor weist die Einsicht zurück, nicht, weil er zu dumm ist, sie zu begreifen, sondern weil er sie nicht selber fand.

Der Tor geht nicht durch die Pforte, die sich vor ihm auftut, weil er sie nicht selber aufschloß.

Der Gekränkte, der Skeptiker und der Nihilist sehen mit überscharfen Augen den Raub und den Betrug; der Gläubige inmitten der tiefsten Nacht das schwache Licht der Gnade.

Der materielle und der symbolische Austausch, der Austausch von Gütern und Zeichen, regelt die Entsprechung unserer alltäglichen und gewohnheitsmäßigen Handlungen und Sprechakte; die Geldsumme entspricht dem Wert der Ware, die Antwort ist auf die Frage gemünzt, die Form der Entschuldigung und der Grad der Entschädigung entsprechen der Schwere des Übergriffs und des Schadens, das Lob der Leistung, der Tadel dem Fehltritt, die Höhe der Strafe der Schwere des Vergehens und die Größe des Danks dem Wert der erfüllten Bitte.

Der Kreislauf des materiellen und des symbolischen Austauschs oder der Austausch von Gütern und Zeichen wird auf der einen Seite durch den Raub und die Lüge (den Betrug) unterminiert, auf der anderen Seite durch das Geschenk und das Gedicht (den Lobgesang) überhöht.

Den symbolischen Austausch der Zeichen, die eine Bitte oder eine Danksagung ausdrücken, nennen wir höflichen Umgang oder Höflichkeit. Die höflichen Umgangsformen sind ein ferner Niederschlag der höfischen Sitten unter Mitgliedern unterschiedlicher Ränge wie zwischen niederem und hohem Adel oder dem dichtenden Ministerialen und der von ihm verehrten adeligen Frau in der hohen Minne – Höflichkeit, welche die Verwüstungen und Vulgarisierungen durch die egalitäre Gesinnung der Moderne in der longue durée der sprachlichen Verständigung zum Teil überlebt hat.

Die einfache Geste des Höflichen, vor dem Begleiter zurückzutreten und mit einem „Bitte schön!“ ihm die Tür zu öffnen und den Vortritt zu lassen, impliziert, dem anderen einen höheren Rang zuzubilligen als sich selbst, auch wenn die soziale Rollenzuschreibung keinen Rangunterschied vorsieht oder dem Höflichen sogar eine überlegene Position einräumt.

Der Gekränkte kann nicht oder nur gezwungenermaßen höflich sein, der vornehme Geist ist es gleichsam von Natur.

Der Gekränkte ist kleinherzig und knauserig, er scheut Situationen, in denen er in die Verlegenheit käme, um etwas bitten oder sich für etwas bedanken zu müssen: Bitten und Danken bedeuten ihm gleichermaßen das Eingeständnis oder die Offenbarung seiner Unterlegenheit.

Der freudige Verzicht ist das Zeichen des freien Geistes.

Das Dasein als Geschenk anzunehmen ist das Zeichen des einfältig-schlichten Gemüts. Die überragende Leistung als Gabe der Gottheit zu verstehen das Zeichen des hohen Sinns.

In seiner berühmten Ode an die Göttin des Gesanges Melpomene (Oden, Buch IV, 3) verknüpft Horaz seine Berufung zum Dichter mit dem Blick der Göttin, der bei seiner Geburt schon auf ihm ruhte, und rückt die Gestalt des Dichters in Gegensatz zu den Gestalten des Siegers im Faustkampf und im Wagenrennen, typischen Formen antiken Wettkampfs, die der Ahne Pindar in seinen Epinikien pries, sowie des Siegers in der kriegerischen Schlacht, der mit dem Lorbeer geschmückt auf dem Triumphwagen zum Kapitol fährt. Dem Dichter und seinem Ingenium dagegen halten andere Orte und Umwelten die Atmosphäre und die Luft bereit, die er atmen muß, damit seine Zunge sich zum Lied auf der Lyra löse: Horaz nennt die alte Stadt Tibur (Tivoli) am Flußlauf des Aniene, der ihre Felder befruchtet, und die Haine mit ihrem dichten Laub, in denen Götterbilder standen und feierliche Riten mit Tanz und Liedern vollzogen wurden. Stätten alter Kultur und Orte pastoraler Anmutung sind demnach dem dichterischen Gemüte gemäß. Daß die Söhne Roms, der Stadt der Städte, ihn würdigen, sich in die Chöre der priesterlichen Dichter (vates) einzureihen, erfüllt Horaz, wie er ohne Scheu eingesteht, mit einem Stolz, der seinen nagenden Ehrgeiz beschwichtigt. Doch diesen Sieg im musischen Wettkampf rechnet der Dichter sich nicht selbst zu, sondern dem Wirken der Gottheit. Der göttlichen Muse, die Wunder vollbringt und sogar stummen Fischen Schwanengesang verleihen könnte, verdankt er es, wenn die Passanten auf den Straßen und Plätzen Roms auf ihn zeigen als den Meister des lyrischen Lieds. Von der Muse ist sein Gesang inspiriert, und wenn seine Anmut die Herzen bezwingt, ist es nicht sein Verdienst. So mündet die Ode in ein Danklied an die Gottheit, die sich in ihr gleichsam selbst verherrlicht:

 

O testudinis aureae
dulcem quae strepitum, Pieri, temperas,
o mutis quoque piscibus
donatura cycni, si libeat, sonum,

totum muneris hoc tui est,
quod monstror digito praetereuntium
Romanae fidicen lyrae;
quod spiro et placeo, si placeo, tuum est.

 

O die goldener Lyra du
süße Töne entlockst, Muse Pieriens,
o du könntest selbst Fischen, den
stummen, wolltest du nur, Schwanengesang verleihn,

mein Verdienst, es gebührt nur dir,
wenn den Finger nach mir strecken Passanten, mir,
Sänger römischen Lautenspiels.
Hauch ist, Anmut des Lieds, ward sie mir denn, von dir.

 

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