Das Leben ein Traum
Über den Widersinn des radikalen Skeptizismus
Wir betrachten den Sinn oder vielmehr Widersinn der skeptischen Annahme, unsere grundlegenden Begriffe der Bedeutung, der Wahrheit und der Wirklichkeit seien rational nicht zu rechtfertigen oder zu begründen, weil unser Geist nichts anders sei als ein kybernetische Maschine, deren Programm rein syntaktisch beschreibbar und programmierbar sei, aber nicht die illusorische Semantik unserer natürlichen Sprache aufweise, in der wir von Katzen reden, als würden sie auf der Matte liegen, oder unsere Wahrnehmung keinen Zugang zur Wirklichkeit des Wahrgenommenen biete, weil wir wie Gehirne im Tank unsere Eindrücke nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen und nichts von der Welt wissen können, in der wir Gehirne im Tank sind, oder die Bedeutung unserer behauptenden Aussagen keinen Wahrheitswert enthalte, weil die von uns verwendeten sprachlichen Bedeutungen nur wieder auf andere sprachliche Ausdrücke Bezug nähmen, nicht aber auf das, was sie meinen. Wir packen diese skeptische Annahme, die wir aus unterschiedlichen Varianten des Naturalismus, des Funktionalismus, der Philosophie des Geistes und des Dekonstruktivismus extrahieren können, der Einfachheit halber in die bekannte Metapher vom Leben als Traum oder Wahn.
Wenn wir alle wahnsinnig wären oder träumten, wüßten wir nicht, daß wir wahnsinnig sind oder träumen. Wüßten wir, daß wir alle wahnsinnig sind und träumen, wären wir es nicht.
Etwas zu wissen, heißt, etwas glauben, was wahr ist. Wenn wir aber in Wahn und Traum keinen Zugang zum Wissen haben und nicht wissen, was wahr ist, haben wir auch keinen Zugang zu dem speziellen Wissen, daß wir wahnsinnig sind oder träumen.
Also impliziert die Annahme, wir seien wahnsinnig oder träumten, die Folgerung, daß wir nicht wissen können, ob wir wahnsinnig sind oder träumen. Folglich ist die Annahme sinnlos, weil grundlos, und widersinnig, weil sie sich selbst aufhebt.
Wären unsere Wahrnehmungen von unseren intracorporalen und neuronalen Stimuli derart determiniert, daß wir durch sie keinen Zugang zu extrakorporalen Inhalten gewönnen, hätten die sprachlichen Ausdrücke, mit denen wir sie beschreiben, keinen Sinn. Wenn du sagst: „Ich höre, daß mir mein Freund Walter zuruft“, hätten als Folge dieser Annahme weder die einzelnen Wörter noch der aus ihnen zusammengesetzte Satz eine Bedeutung, denn von einem sinnlichen Datum als Hinweis auf die Existenz eines Menschen zu reden, mit dem wir befreundet sind, ist sinnvoll nur, wenn wir das Wort Freund anhand von kausalen Stimuli eines Menschen in unserer Umwelt erlernt haben, auf den wir es mit mehr oder weniger Recht anzuwenden uns gewöhnten. Die radikale Skepsis in Bezug auf die Wahrnehmung untergräbt demnach die Geltung der sprachlichen Ausdrücke, mit denen wir sie beschreiben.
Zumindest einige sprachliche Ausdrücke, mit denen wir Wahrnehmungen beschreiben, wie die Wörter „Wasser“ oder „der Ruf Walters“, müssen einen kausalen Grund in der Umwelt haben, in denen wir ihre Verwendung erlernt haben. Wenn du glaubst, Wasser zu trinken, aber was du trinkst, sieht zwar so aus und schmeckt genauso wie Wasser, ist aber kein H2O, hast du nicht Wasser getrunken und die Beschreibung deiner Wahrnehmung ist falsch. Wenn du glaubst, daß dein Freund Walter soeben nach dir gerufen hat, aber die Stimme Walters entstammte einem digitalen Aufzeichnungsgerät oder du bist verrückt geworden und hast eine akustische Halluzination erlebt, ist die Aussage, daß dein Freund Walter soeben nach dir gerufen hat, falsch, auch wenn die Aussage, du habest Walters Stimme vernommen, wahr ist.
Wir bemerken, daß nicht alle sprachlichen Bedeutungen aus kausalen Referenzen erklärbar sind, denn die Aussage: „Ich habe kein Wasser getrunken“ ist im Falle, daß du nicht H2O, sondern den ganz ähnlich aussehenden und schmeckenden Stoff zu dir genommen hast, wahr, obwohl sie auf etwas referiert, was nicht vorliegt und demnach keine kausale Wirkung auf dich ausüben kann. Genauso ist die Aussage: „Ich habe nicht gehört, daß Walter mir zugerufen hat“, wahr, falls du eine akustische Halluzination erlitten hast und Walter außer Hörweite ist, auch wenn du seine Stimme vernommen hast.
„Wir sind Gehirne im Tank“ wäre eine wahre Aussage in einer Welt, in der wir Gehirne im Tank wären. Zugleich wäre diese Aussage für Gehirne im Tank nicht denkbar und nicht artikulierbar, denn einem Gehirn im Tank bliebe die Wahrheit der Aussage, daß es ein Gehirn im Tank ist, für immer verborgen. Solltest du als Gehirn im Tank den Satz: „Ich bin ein Gehirn im Tank“ zufällig denken, weil der ironische Wissenschaftler, der dich oder dein Gehirn in diese fatale Lage gebracht hat, dir die Aussage durch gezielte Manipulation der relevanten Hirnareale wie des Sprachzentrums einflößt, wüßtest du nicht, was es heißt, daß eine Person ein Gehirn hat oder daß es ein Gehirn gibt oder daß es einen Tank gibt und schon gar nicht, daß das Gehirn dein Gehirn ist und dieses Gehirn sich im Tank befindet. Du wüßtest demnach nicht, was du sagst, sagtest du: „Ich bin ein Gehirn im Tank“, weil die Bedingungen, die erfüllt sein müssen und die in deinem Falle tatsächlich erfüllt wären, damit der Satz wahr ist, dir auf immer verborgen blieben.
Wenn du einen wahren Satz gedacht hast, ohne wissen zu können, daß er wahr ist, sollen wir den mentalen Zustand, dessen Ergebnis der Satz darstellt, überhaupt „Denken“ oder „Gedanken haben“ nennen? Gedanken zu haben schließt augenscheinlich ein, zutreffende oder nicht zutreffende, wahre oder falsche Gedanken zu haben. Ein Gedanke ist wahr, wenn er etwas darüber sagt, was er nicht selbst ist, was auch immer dies sein mag, wie auch immer das Verhältnis des Gedankens oder des ihn ausdrückenden Satzes zu seinem Gegenstand oder zur Welt sein mag. Indes Gedanken zu haben, die nicht wahr oder falsch sein können, weil sie keinen Gegenstand oder keinen Bezug zur Welt haben, heißt überhaupt keine Gedanken zu haben.
Sätze ohne semantischen Bezug oder ohne intentionalen Gehalt drücken augenscheinlich keine Wahrheit oder Falschheit aus. Was bedeuten sie dann überhaupt? Sie sind nichts als leeres Gerede, und so sind alle von einem Gehirn im Tank gedachten oder ausgegebenen Aussagen leeres Gerede, sogar die wahre Aussage: „Ich bin eine Gehirn im Tank.“
Aussagen erhalten ihre Gültigkeit nur, wenn sie im Rahmen einer Sprachgemeinschaft oder Verständigungsgemeinschaft geäußert werden – das gilt auch für monologische oder geträumte Sätze. Nur Aussagen, die verstanden oder mißverstanden werden können, sind Aussagen im eigentlichen Sinne. Wenn meiner Behauptung von dir in sinnvoller Weise widersprochen werden kann oder du sie sinnvoll negieren kannst, ist sie eine sinnvolle Behauptung. Nur eine Frage, die vom Gefragten sinnvoll beantwortet werden kann, ist eine sinnvolle Frage. Nur eine Aufforderung, die vom Adressaten durch eine Handlung angemessen erfüllt werden kann, ist eine sinnvolle Aufforderung. Nur ein Versprechen, das die Selbstverpflichtung impliziert, das dem Adressaten gegebene Wort durch eine angemessene Handlung zu erfüllen, ist ein sinnvolles Versprechen.
Gehirne im Tank können keinen der genannten Sprechakte vollziehen, denn offenkundig bilden sie keine echte Verständigungsgemeinschaft, auch wenn sie der dämonische Wissenschaftler untereinander verdrahtet hat und ihnen suggeriert, gemeinsame Erlebnisse haben und sich darüber austauschen zu können. Gehirne im Tank können nur so tun, als würden sie etwas behaupten oder fragen oder versprechen. Ein wesentlicher Grund dieses Unvermögens bildet die Tatsache, daß Gehirne im Tank jedweden freien Willensimpulses oder jeder Form spontanen Denkens und Sagens ermangeln. Eine Behauptung, der nicht spontan beigepflichtet oder widersprochen werden kann, ist keine sinnvolle Behauptung, eine Frage, die nicht aus freien Stücken beantwortet werden kann, ist keine sinnvolle Frage, eine Aufforderung, die nicht freiwillig ausgeführt werden kann oder der man nicht spontan sich entziehen kann, ist keine wirkliche Aufforderung und ein Versprechen, das keine spontane Selbstverpflichtung einschließt, ist kein echtes Versprechen.
Wären wir Gehirne im Tank oder wäre das Leben ein Traum, schiene der Satz zu gelten: esse est percipi. Doch geben wir zu bedenken, daß wir in einer Welt, in der unser Erleben auf die phänomenale Dimension oder die reine Sinnesempfindung eingeschränkt wäre, in Wahrheit nichts wahrnehmen könnten. Denn zum vollständigen Begriff der Wahrnehmung gehört die Möglichkeit, daß wir uns irren oder einer Sinnestäuschung erliegen. Zu meinen, Gehirne im Tank unterliegen einer permanenten Sinnestäuschung, ist falsch, denn Sinnestäuschungen verlangen die Möglichkeit ihrer Korrektur oder den Maßstab der korrekten Wahrnehmung, ohne den wir nicht von Täuschung sprechen können.
Wir sollten deshalb zwischen Sinnesempfindung (Sensation) und Wahrnehmung (Perzeption) unterscheiden und die Grenze zwischen ihnen durch den Satztypus für Sensationen und den grammatisch ganz verschiedenen Satztypus für Wahrnehmungen angeben. „Ich höre die Stimme meines Freundes Walter“ ist eine typische Aussage über eine Sensation, „Ich höre, daß mir mein Freund Walter zuruft“ eine typische Aussage über eine Perzeption. Aussagen über Sensationen („Ich höre X“) scheinen immer wahr zu sein, während Aussagen über Wahrnehmungen nur wahr sind, wenn der im Nebensatz ausgedrückte Gedanke wahr ist. Der ganze aus Haupt- und Nebensatz zusammengesetzte Satz, der eine Wahrnehmung ausdrückt, ist falsch, wenn der Gedanke des Hauptsatzes („Ich höre“) wahr ist, denn er scheint immer wahr zu sein, und der Gedanke des Nebensatzes („… daß mir mein Freund Walter zuruft“) falsch ist, weil Walter außer Hörweite ist.
Wir sagen, Aussagen über Perzeptionen bedürfen der Rechtfertigung durch Angabe von geeigneten Gründen. Wenn du annimmst, die verbale Aufforderung deines Freundes Walter vernommen zu haben, aber keinen Grund dafür angeben kannst, daß sich Walter in deiner Umgebung aufhält, beginnen wir zu zweifeln, daß du die Stimme deines Freundes wahrgenommen hast, und neigen zu der Vermutung, daß du einer Sinnestäuschung erlegen bist.
Als Gehirne im Tank oder wachend Träumende können wir nur Aussagen über Sensationen und keine Aussagen über Wahrnehmungen machen, weil wir keine Gründe zur Rechtfertigung unserer Aussagen anführen können, die nicht selbst wieder Aussagen über Sensationen wären.
Als Gehirn im Tank könntest du deine Aussage, die Stimme deines Freundes gehört zu haben, nicht anzweifeln, denn Gründe für die Möglichkeit, daß Walter sich nicht in deiner Hörweite aufhalten könnte, bist du zu formulieren nicht fähig. Für die Aussage: „Mein Freund Walter befindet sich nicht in meiner Hörweite“ ermangelst du der entsprechenden Sensation, weil es für negative Sachverhalte überhaupt keine Sensationen gibt. Du kannst nicht den fehlenden Freund sehen, sondern nur wahrnehmen, daß er nicht da ist.
Hier bemerken wir auch, daß im Unterschied zu Sensationen die Aussagen über Wahrnehmungen die Verwendung von sprachlichen Ausdrücken zulassen, die keine kausale Referenz haben, weil sie zum Beispiel Negationen einschließen.
In einer Welt der Wahrnehmungen sind wir auf den Begriff der Wahrheit angewiesen, wenn wir Behauptungen über das machen, was wir wahrgenommen haben. Wir nähmen schlicht nichts wahr, wenn unsere Aussagen über das, was wir wahrnehmen, nicht falsch sein könnten.
Nur in einer Welt der Wahrnehmungen können wir Aussagen über Sensationen anhand der ihnen entsprechenden Aussagen über Perzeptionen überprüfen. Wenn meine Wahrnehmung die Aussage, daß sich dein Freund Walter nicht in Hörweite befindet, bestätigt, erweist sie deine Aussage: „Ich höre die Stimme meines Freundes Walter“ als akustische Halluzination.
Aussagen über Sensationen erheben im Gegensatz zu Aussagen über Wahrnehmungen von sich aus keinen Wahrheitsanspruch. Alle Aussagen von Gehirnen im Tank oder wachend Träumenden sind Aussagen über Sensationen. Gehirne im Tank können deshalb keine Aussagen darüber machen, daß sie Gehirne im Tank sind, wie wachend Träume nicht darüber reden können, daß sie träumen, denn beides setzt die Wahrnehmung voraus, daß sie Gehirne im Tank sind oder daß sie träumen. Wäre die Aussage, daß wir Gehirne im Tank sind oder träumen, wahr, könnten wir keine Gehirne im Tank sein und nicht träumen, denn sie setzt voraus, daß wir wahre Gründe für unsere Aussagen angeben können. Wüßten wir, daß wir träumen, müßten wir wissen, was es heißt, wach zu sein und nicht zu träumen, und wer sagt: „Ich glaube, ich träume“, ist schon wach.
Im Traum oder Wahn können wir uns nicht irren. Worin wir nicht irren können, darüber können wir auch nichts Wahres sagen.
Wenn wir im Leben als Traum zufällig etwas Wahres sagten, wüßten wir es nicht. Wüßten wir es, träumten wir nicht. Also impliziert die Aussage, daß wir alles nur träumen, wenn sie wahr wäre, ihr Gegenteil. Demnach ist die Aussage, daß wir Gehirne im Tank sind oder alles nur träumen, widersinnig.
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