Das Schweben der Blüte
Ein Hinweis auf die lyrische Korrespondenz von Schwerkraft und Licht
Das reine Chaos verwirrt und lähmt uns, die monotone Ordnung ermüdet und stumpft uns ab. Derselbe Klang im selben Rhythmus ohne Variation wiederholt, ist uns bald zuwider, ein disparater Schwarm von Klängen, in denen wir kein rhythmisches und harmonisches Muster ausmachen können, bringt uns um den Verstand oder löst Panik aus.
Die rhythmisch und zeitlich geordnete Wiederkehr eines leicht variierten Klanges nennen wir Assonanz oder Reim und sie erfüllt uns mit Befriedigung, denn sie erfüllt eine Erwartung, wenn auch auf überraschende oder erstaunliche Weise. Wir sprechen anstatt von Wiederkehr auch von Korrespondenz oder Entsprechung.
Du siehst den Weg, den ich auf dich zugehe, als den Weg, auf dem ich dir entgegenkomme. Hier korrespondieren unsere Perspektiven und im besten Falle unsere Erwartungen.
Wir sehen dasselbe Phänomen auf der Ebene der Sprechakte: Erst wenn du meine Aussage als Frage identifiziert hast (an der grammatischen Form, an der Intonation), kannst du, wenn du willens und in der Lage dazu bist, deine verbale Reaktion als Antwort formulieren und gewichten.
Die systematische Korrespondenz und symmetrische Abstimmung unserer gegenseitigen Erwartungen ist die Grundlage der sozialen Ordnung: Wenn du mir das Versprechen gibst, mir das geliehene Gut am vorbestimmten Termin unbeschadet wieder auszuhändigen, werde ich dir das Versprechen abnehmen, und wenn du tust, wofür du dein Wort gegeben hast, ist das Versprechen erfüllt und der kleine soziale Kreislauf geschlossen.
Freilich kann der soziale Kreislauf mutwillig oder aufgrund unvorhergesehener Ursachen aufgesprengt werden: Du wirst deinem Versprechen untreu, durch einen Unfall nimmt das ausgeliehene Gut Schaden oder wird vernichtet. Aber von Schaden und der Tatsache, daß der Kreislauf offen blieb, können wir allererst aufgrund der vorausliegenden Tatsache des gegebenen Versprechens, des zugrundeliegenden Sprechakts, reden.
Die Ordnung oder Korrespondenz oder Musterbildung und Mustererkennung sind im sozialen und intentionalen Kontext das Apriori gegenüber dem Chaos, der Unordnung, der unstrukturierten Masse von Ereignissen.
Ein logisch-semantisches Instrument, mit dem wir korrespondierende Mengen von Tatsachen, Ereignissen und Eigenschaften bilden, ist die Negation: An den geraden Monatstagen verabreden wir ein Telefonat oder das Senden einer E-Mail, damit haben wir den Rest der ungeraden Daten ausgeschlossen. Gestern hat es nicht geregnet; die Tatsache, daß es gestern nicht geregnet hat, ordnen wir der Menge aller Zeitstrecken zu, an denen es am definierten Ort hätte regnen können – denn in unserer Welt korrespondieren die Ereignisse, die nicht geschehen sind, mit den Ereignissen, die hätten geschehen können.
Wenn wir uns zu einem Spaziergang verabredet haben und wir machen den Spaziergang, korrespondiert unsere verwirklichte Entscheidung mit allen möglichen Entscheidungen, die wir nicht verwirklicht haben, wie faul auf dem Sofa zu liegen, TV zu schauen, zu lesen usw.
Die wirkliche Welt, deren Pfad wir aufgrund unserer Handlungen abschreiten, korrespondiert trivialerweise mit der Menge aller möglichen Welten, die wir aufgrund dieser Handlungen ausschließen und gleichsam links liegen lassen.
Wir beobachten, wie ein Mensch außer Atem über die Straße läuft, und beobachten dann, daß ein zweiter ihm hinterherläuft, wild gestikulierend und schreiend. Wir kombinieren sodann unsere Beobachtungen in einer kausalen Hypothese der Art: Weil der eine den anderen verfolgt, einholen will oder bedroht, läuft der erste außer Atem über die Straße. Damit begründen wir die Korrespondenz der beobachteten Ereignisse des Entlaufens und Verfolgens mittels einer kausalen Verknüpfung der korrespondierenden Intentionen der Handelnden.
Wir können uns irren und die beiden Ereignisse waren nicht kausal verknüpft; indes, wenn der Verfolger den Verfolgten einholt und ihm mit Gewalt das geraubte Gut aus der Tasche zieht, sehen wir klarer.
Wir verstehen demnach, was wir in die natürlichen oder konventionellen Ordnungen der Korrespondenz als Beobachtungen, Wahrnehmungen, Begriffe eintragen können. Wir verstehen, was ein Bild ist, aus der Korrespondenz zwischen weißer Leere und figürlichem Umriß, zwischen Nicht-Farbe und Farbe, zwischen einer Farbe und ihrer Komplementärfarbe, wir verstehen, was Musik ist, aus der Korrespondenz zwischen Stille und Klang, zwischen Ton und Oberton, zwischen Klang und harmonischem Mit-Klang.
Wir verstehen mittels Benennung der uns begegnenden Phänomene die Welt, insofern wir mit jedem Namen und Begriff die Implikation des korrespondierenden oder ausgeschlossenen Namens und Begriffs mitvollziehen: Die Farbe Blau läßt uns sogleich die Komplementärfarbe Gelb mitsehen oder begrifflich implizieren, dagegen die Farben Rot und Grün sowie das Nichtfarbliche ausschließen.
Mit dem Setzen eines getuschten Flecks auf dem weißen Blatt gibt uns der Zen-Maler Einsicht in die Faktizität des Daseins, der Fleck, der auf dem leeren Blatt auftaucht, korrespondiert unserem Bewußtsein. Wenn der Fleck sich in den Schaum einer Woge verwandelt, korrespondiert der Schaum dem Drama unserer Existenz, das von derselben Woge der Zeit, die sie aufschäumen ließ, wieder verschlungen wird.
Wenn wir „Ich“ sagen, implizieren wir die ganze Welt des Gesprächs, das wir sind, denn wir können uns nur benennen und von uns nur sprechen, wenn wir von dir und wir von uns, wenn wir von uns und ihr von mir, wenn wir von ihnen und sie von uns reden, oder anders gesagt: Ich kann von mir nur sprechen, wenn du und wir und sie von mir sprechen. Das bewußte Ich ist am Nullpunkt eines Korrespondenzmusters und Koordinatennetzes positioniert, das von den Knotenpunkten des grammatisch-semantischen Musters der Personalpronomina aufgespannt wird.
Die Genesis spricht uns vom ursprünglichen Gegensinn von Chaos und Ordnung, von der Nacht des Schweigens und dem Licht des schöpferischen Worts, sodann von der geistreichen Scheidung der korrespondierenden Gegensätze von Tag und Nacht, Himmel und Erde, Stern und Blume, Tier und Mensch – und deutet das Drama der Existenz an, das sich von Eden bis nach Golgatha vollziehen wird.
Das Wort formt uns aus dem Stoff der Schwere und Trübe, der Undurchsichtigkeit und Unförmigkeit, dem Lehm, und haucht uns den Geist ein, der uns mit der Erinnerung an das selig in sich schwebende, in sich sprechende, sich sprechende Licht begabt.
Weil die Erde ein um das leuchtende Zentralgestirn unseres Sternsystems kreisender Massekörper ist, gibt es für uns oben und unten, leicht und schwer, Himmel und Erde, Licht und Dunkelheit, das ewig Göttliche und das irdisch Verwesliche, Heiterkeit und Trübsinn. Die physische Ordnung unserer planetarischen Existenz und die metaphysische Ordnung unserer geistigen Existenz korrespondieren aufgrund von Schwerkraft und Licht.
Die Metapher vom Sündenfall ließe sich in einer Welt ohne Schwerkraft nicht bilden. Ebensowenig wie die Metapher der Erhebung, des Schwebens, der Erlösung und Auferstehung.
Schwerkraft und Licht sind die Musen der Dichtkunst.
Man könnte sagen, das Bild vom Schweben einer Blüte, einer aus sich leuchtenden Blüte, die des Stengels zum Ausgleich der Schwerkraft nicht bedarf, sei das Bild des vollkommenen Gedichts.
„O!“ und „Ach!“ drücken die ewige lyrische Korrespondenz aus, Jubel und Klage, Ode und Elegie, Liebeslied und Totenklage, in den Psalmen Davids umschlingen sie sich gern.
Wenn das Wort schöpferisch ist, kann die Natur nicht geistlos sein.
Geistreich zeigt sich die Natur im Walten der großen Korrespondenzen: in den energetischen Schwingungen der atomaren Struktur, im Periodensystem der chemischen Elemente, im symmetrischen Wachstum der Kristalle, in der Korrespondenz von Blüte und Licht, von Auge und Sonne.
Die schwebende Blüte des Gedichts nährt sich von einer geistigen Sonne, der brennenden Sehnsucht des Menschen nach reiner und vollkommener Schönheit.