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Der Tropfen, der dich weckte

12.12.2019

Ein Windhauch,
der Pollen stäubt von der Blüte,
der Fussel fällt aus dem Haar.
Sie bleiben, was sie sind,
bis sie der eiserne Fuß des Schicksals zertritt.

Tropfen gleiten vom Moos zur Erde,
aus Wolken ins Wasser.
Untergegangen und verschmolzen
sind sie unauffindbar,
ohne verschwunden zu sein.

Das Kind, das nicht weiß,
daß Tautropfen
und Schneeflocken
zwei Gestalten eines Stoffes sind,
empfindet nicht weniger getreu
als der Dichter, der es weiß
und der Verwandlung nachsinnt
mit dem Klöppel der Zunge,
der leicht oder heftig
gegen die Glocke der Stille schlägt.

Den Tropfen,
den Kristall des Lichts,
die gefrorene Träne des Wanderers im Schnee,
die Eisblume am Fenster
kannst du zerlegen, schmelzen,
verdunsten lassen,
den Tropfen,
der auf das weiche Blatt des Schlafes fiel
und dich weckte,
nicht.

Jemandes Haut kannst du ritzen,
ihm ein Haar ausrupfen,
die Träne von der Wange ihm küssen,
dem Haut, Haar und Träne zu eigen,
bleibt dir verborgen
und er sich selbst.

Die Dinge der Welt kannst du
wie das Wassermolekül
zerlegen, analysieren,
oder diese Sätze,
doch nicht jenen,
der sie sagt,
und er sich selber nicht.

Du oder ich,
wir sind uns jeder selbst
wie das befruchtete Ei,
in dem sich zwei Lebensstränge
ununterscheidbar
verflochten haben,
sind uns selbst
und eins dem anderen
die Welt.

Nur manchmal klingen wir
wie zwei Saiten einer Geige,
die der Meister,
den wir göttlich nennen,
mit einem warmen Bogenstrich
gemeinsam beben läßt,
und scheinen uns verschmolzen
wie eins ins andre rinnend
Tränen –
und rasch fliegt auf der Ton
mit unsres Rauschens Doppelschwinge,
wird leiser und erstirbt
in einer Lichtung, fern
und aller Sehnsucht unzugänglich.

 

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