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Der zerrissene und der gestillte Mund

08.03.2016

Wer das Glück gelassen verschmäht, dem läuft es hinterher wie ein Hündchen.

Die ihr Leiden zur Schau stellen, haben noch nicht genug gelitten.

Der Schüler schreibt mit der Hand. Die Hand schreibt für den Meister.

Durch den Abfall vom Gesetz werden die Juden häßlicher als die Karikaturen der Antisemiten.

Die schurkische Seele ergötzt sich, wenn der Vordermann stolpert.

Der schurkische Geist des Journalisten ergötzt sich am Skandal.

Sie hassen aus tiefem Sklaveninstinkt die Ordnung und die Ruhe. Wie auch anders? Kommt wer in ein Zimmer, in dem alles an seinem rechten Platz ist, kann er nicht mäkeln und muß nichts verrücken. Kommt wer in einen Garten der weichen Fülle von Blumen und Bäumen und Sträuchern, der seelenvollen Harmonie der Beete und Gewässer, kann er nicht raunzen und muß nicht zum Spaten greifen und zur Heckenschere. Er ist zur ruhigen Betrachtung eingeladen. Doch wenn sie sich nicht einmischen und dazwischenreden dürfen, werden sie mißmutig. Wenn sie stillsitzen sollen, werden sie krank.

Unruhe, Aufruhr, Widerspruch sind Symptome einer Geisteskrankheit, die als schicke Mode gilt.

Große Worte stehen für sich wie der windschiefe Apfelbaum auf der Hochebene der Eifel. Sie brauchen keinen Kommentar. Oder tausend wie die ersten Worte der Genesis.

Der zerrissene Mund ist die Öffnung der nicht versöhnten Leere.

Der stille Mund nährt sich von innen.

Die Probe auf das Gesagte ist das Schweigen, dem es Raum gibt.

Mit den Deutschen ist kein Staat zu machen. Als wäre ihnen die Sehnsucht nach dem Nomadentum und der ewigen Wanderschaft angeboren.

Auch ihre Kriege verraten solche Spuren: Als begeisterte Wandervögel brachen sie auf, als Landser verirrten sie sich in den östlichen Steppen.

Welche Verletzung, welche Heimsuchung spricht aus dem Wanderer Schuberts.

Die Eruption des Aufbruchs ist so gewaltig, daß eine Heimkehr, eine Wiederkehr, eine Ankunft ausgeschlossen scheinen.

Die tiefste Ordnung birgt die heilige Liturgie. Der gestillteste Mund, der die Hostie empfing.

Der zerrissene Mund, der sich nicht einmal an seiner Klage ersättigen mag.

Der Mund, der sein Wort nicht fand.

Der Mund, der am Kuß zu ersticken glaubt.

Die Höhle des Munds, begierig, die Welt zu verschlingen.

Der Mund, der die Zunge als Eindringling und Parasiten empfindet.

Die auf ewiger Wanderschaft in das ferne Land sind, wo die wahre Speise zu finden.

Ist sie nicht ganz nah, das zugesprochene Du?

Dichtung, Mund, der die Erinnerung schmeckt.

So manche sind nicht im Mund, der für sie spricht.

Der Mund jenes, der sprach „Ich bin die wahre Speise“, spricht nun aus der Stille des Schnees, der Steine, des am Wegrand verblassenden Veilchens.

Rhetorik, der Kriegsdienst der Worte.

Das Schweigen Jesu vor Pilatus.

So mancher sprach einmal Wahres, da ihm die Zunge den Dienst verweigerte.

Andere wieder, die nur radebrechen, schreiben.

Und ist es nicht ein guter Grund zu schreiben, wenn man sich mündlich nicht verständigen kann?

Aus der Fülle schreiben oder aus der Leere – aus der Quelle trinken oder jungfräulich bleiben mit der Zunge.

Mit dem ersten besten Wort die auffliegende Lerche der Empfindung abschießen.

Der stille Mund, die dem Geschwätz der Bienen hingehaltene Blüte.

Wovon der Mystiker weiß, was die Zunge immerdar vor sich hinschiebt wie der Wind das Blatt.

Mit den immer leiser, immer langsamer vor sich hingesprochenen Worten müde werden, wie die Konturen der Büsche, die im abnehmenden Licht verschwimmen, wie der Regen, der in der Nacht vertropft, wie der Duft der Erinnerung, der sich auflöst im Abendwind.

Der klaffende Mund, den man den Toten zubindet.

Mit welch einem Mund spricht die Seele der Toten?

Die Gelegenheit, die Situation, der Ort binden den Sinn, die Tragweite und die Schwungkraft der Worte. Du wirst verstimmt oder entrüstet sein, bei Gelegenheit einer Trauerfeier statt einer feierlichen und gedämpften Totenrede eine Plaudertasche Schnurren und witzige Anekdoten aus dem Leben des Verstorbenen palavern zu hören. Die Liebeslaube erträgt nur leise, schmeichelnde und kosende Töne, während sie der scharfe Tonfall des Exerzierhofs und des Appells oder das bohrende Fragen des Schulmeisters verabscheut.

Die antike Rhetorik und Ästhetik macht die Beobachtung der Angemessenheit der Rede, ihres formalen Aufbaus und ihres Schmucks zu Ort und Gelegenheit des Vortrags zur verbindlichen Regel. Wir können aus der Lehre vom griechischen Prepon und lateinischen Decorum eine Linie in den alltäglichen Umgang und die Kultur der Sprechakte ziehen.

Wer bei jeder Gelegenheit dasselbe im selben Tonfall zum besten gibt, erweist sich nicht als starker Charakter, sondern als starre, verknöcherte Seele.

Auch in der Dichtung sollen wir den Dingen nach dem Munde reden und nicht Blume und Stein, Wind und Wetter, Engel und Maschine mit dem Einheitskleister eines Einheitsjargons übertünchen.

Freilich geben die Zerrissenen heute den Ton an. Sie schleppen sich entweder am Krückstock eines verlogenen Humanismus, gemäß dem allen alles gehört und alle am Einheitsbrei des niedrigsten Niveaus und des geringsten Widerstands satt werden, sprich geistig ersticken sollen, in die Öde der globalisierten Satellitenstädte oder zielen mit der schwarzen Spucke des Nihilismus auf die schönen Augen der Sappho oder die Eulenaugen der Droste.

Nur in der gelassenen Abwendung von der Moderne eröffnen sich Räume, freier zu atmen, kühner, geistvoller, hochsinniger mit Worten zu spielen, liebender die verloren geglaubten Schatten mit dem Blut der Seele zu beschwören.

Gelangen wir durch die Hinterhöfe des modernen Seins und die Schlachthöfe der Geschichte wieder zur freien Aussicht zurück, wo der windungsreiche Strom der Tradition unter uns glänzt? Zum Glauben an die Wirkmacht der Namen, zum Glauben an die Macht der Verwandlung durch das dichterische Wort?

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