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Die Tartüfferie der Avantgarde

07.02.2016

Immer wenn wir beobachten, daß ein Tun oder Sagen anerkannt oder verworfen, gelobt oder getadelt wird, wissen wir, daß es sich bei den betreffenden Tätigkeiten um Tätigkeiten handelt, die in normative Kontexte eingebettet sind.

Auch Feststellungen und Behauptungen können in normative Kontexte eingebettet sein. Wenn du deiner Freundin Geschichten auftischst oder als Zeuge vor Gericht Auslassungen vorbringst, die sich als Lügen und Falschaussagen erweisen, wirst du nicht gelobt, sondern getadelt und bestraft.

Es ist ein Fehlschluß anzunehmen, Kontexte entbehrten des normativen Sinnes, weil sie in Form deskriptiver Aussagen dargestellt werden können. Wir können beschreiben, wie eine Gruppe junger Leute Ball spielt, einer fängt den Ball, läuft mit ihm trippelnd um andere Mitspieler herum, wirft ihn dann einem anderen zu, dieser fängt ihn seinerseits auf und tut es dem ersten gleich, bis er den Ball wieder auf einen dritten Spieler derart wirft, daß dieser nicht fähig ist, ihn aufzufangen: Er wird getroffen und geht vom Spielfeld. Hier erkennen wir den normativen Sinn des Spiels, der sich dann erfüllt, wenn mehr und mehr Mitspieler aus dem Spielfeld geschlagen und „hinausgeworfen“ werden.

Gruppen existieren dank eines normativen Drucks, der mehr oder weniger gleichmäßig oder ungleichmäßig auf ihre Mitglieder verteilt wird. Ein genialer Maler erfindet eine neue Stilrichtung, indem er den akademischen Zwang abwirft, Gegenstände durch geschickte Anwendung von Perspektiven und die technisch ausgefeilte Verteilung von Licht und Schatten darzustellen, und sich ganz auf das losgelöste Spiel von Formen und Farben konzentriert. Diese programmatisch und propagandistisch gefeierte neue künstlerische Freiheit der Abstraktion bildet alsbald einen neuen normativ wirksamen Druck aus, insofern der neue Stil Schule macht und viele sich avantgardistisch dünkende Maler ihm nacheifern. Den Sinn des Normativen in solch stilbildenden modischen Strömungen ersieht man leicht an der Tatsache, daß alle nach akademischer Manier vorgehenden und gegenständlich malenden Künstler alsbald als altmodisch oder geistig zurückgeblieben diskreditiert und von den Treffen und Ausstellungen der neuen Malerschule ferngehalten und Maler, die dem neuen Stil untreu werden, schleunigst aus der Gruppe der Avantgarde ausgeschlossen werden.

Wir bemerken, daß der soziale Druck des Normativen stärker, langwährender und tiefgehender ist als alles Gerede von der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks oder der Freiheit der individuellen Kundgabe, das diejenigen so beredt im Munde führen, die den wahren Sinn des Normativen in ihren Ateliers, von ihren Kathedern aus oder in ihren Redaktionsstuben einfach dadurch erfüllen, daß sie tun, was immer sie tun.

Wenn ein genialer Komponist als dernier cri des avantgardistischen Komponierens verfügt, alle alltäglich vorfindlichen und zufällig aufkommenden geräuschvollen Klangmaterialien könnten und sollten in die musikalischen Kompositionen einfließen, ohne vorab in einem Prozeß der Auswahl gemäß Kriterien des vorgeblich schönen oder unschönen Klingens gefiltert zu werden, werden a priori alle Komponisten als unmodern oder geistig hinter der neuen Avantgarde zurückgeblieben diskreditiert, die nach klassischer oder traditioneller Manier Klänge und Akkorde oder Melodien komponieren, die sie vorab einer Auswahl nach Kriterien des schönen und unschönen Klingens unterworfen haben.

Wir bemerken, daß die sogenannten Avantgardisten in den Künsten gern große Worte von der unbeschränkten Freiheit des künstlerischen Ausdrucks und der revolutionären Erweiterung des Kunstbegriffs im Munde führen, in der Praxis dagegen, wenn es um die Auswahl und die Karriere ihrer Schüler, die finanzielle Förderung ihrer Programme und die Besetzung von Leitungsämtern in Hochschulen und Redaktionen geht, sich als die unbarmherzigsten und fanatischesten Streiter pro domo gerieren.

Die genialste Tartüfferie derjenigen, die sich als neue Avantgarde ins Licht setzen wollen, besteht in der Flucht ins Paradoxe. Kunst wird dann als Antikunst, Theater als Antitheater, Musik als Geräusch definiert. Hier scheint jeglicher Sinn eines Normativen unterhöhlt und aufgehoben, denn wenn jedwedes sinnleere Gerede zwischen beliebigen Leuten auf einer Bühne als Theater und eine leere Leinwand als vollkommenes Kunstwerk deklariert werden können, scheint es keine Grenzen des Erlaubten und Verbotenen mehr zu geben. Doch der sinnwidrige Applaus nach Beendigung des Nichtstücks, das ungläubige Glotzen der Besucher vor der leeren, aber mittels Rahmung oder Hängung notdürftig als Werk ausgegebenen Leinwand bezeugen den tieferliegenden Sinn des normativen Kontextes, nämlich, etwas als Theaterstück oder Bild anzuerkennen.

Indes ist die Flucht ins Paradoxe eitler Schein und Selbstbetrug, denn in dem Falle, daß keine den Werken inhärierenden Qualitätskriterien den Sinn des Normativen erfüllen, gelten die unbarmherzig inkludierenden und exkludierenden Regeln und Machtinstanzen derjenigen, die über die Zulassung zu den Präsentationsformen der Künste, die Theater, die Ausstellungshallen, die Konzertsäle, die Redaktionen der Kunstzeitschriften und die Lehrstühle an den Kunsthochschulen, verfügen. Denn wenn Kunst dasjenige ist, was eine bestimmte Kunsthalle einer Ausstellung für wert hält, hat die Leitung der Kunsthalle die volle Macht, der Künstler ist in eine armseligere und ohnmächtigere Lohndienerrolle als der mittelalterliche Kunsthandwerker gegenüber seinen Auftraggebern zurückgeworfen, und ähnlich für die anderen genannten Institutionen.

Alle Grenzen des Darstellens und Sagens aufheben zu wollen heißt, nichts darstellen und sagen zu können. Antikunst ist insofern eine Flucht vor der Verantwortung, die damit beginnt, ein Wort statt eines anderen zu sagen, eine Farbe statt einer anderen zu fixieren, einen Klang gegen die Stille oder das Tohuwabohu des Weltenlärms zu setzen. Der Künstler hat sein Werk zu rechtfertigen gemäß den Kriterien, die er selbst für seine Gestaltung gesucht und gefunden, entwickelt und definiert hat.

Wir sind frei, die Instanz, vor der sich die Kunst zu rechtfertigen hat, die psychische Realität oder schlicht die Seele zu nennen, denn sie meldet den immer wieder neuen, immer wieder unerfüllten und nur in den vollkommenen Werken erfüllbaren Anspruch auf die Gewinnung von Orientierung und Klarheit, Ordnung und Übersicht, Selbstverständigung und Läuterung an.

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