Die Welt, in der wir wohnen
Unterwegs zu einer transzendentalen Semantik II
oder: Warum Roboter ihre Hand nicht erkennen
Wenn die Empfindung immer jemandes Empfindung ist, heißt jemand oder man selbst zu sein, leiblich zu sein, in dem Sinne, daß du den roten runden Fleck in deinem Gesichtsfeld wahrnimmst, aber weder im Gesichtsfeld eines anderen noch als neutrales unbezügliches Ereignis in der Welt.
Jemand oder man selbst zu sein heißt nicht, ein Organismus unter anderen toten und lebenden Entitäten zu sein, sondern in deinem Leib und mit deinem Leib in der Welt zu wohnen.
Die Welt so betrachten, daß sie der Ort ist, in dem du leibhaftig wohnst, wirft ein anderes Licht auf die Welt, als sie so zu betrachten, als wäre sie eine ungeheures Reservoir oder eine unübersehbare Ansammlung von Dingen und Ereignisse, unter denen unter allen anderen ein Organismus haust, der einmal in jenem Grab ruht, auf dem ein Grabstein mit deinem Namen zu lesen sein wird.
Die Welt so zu betrachten, daß sie der Ort ist, in dem du einen roten runden Fleck wahrnimmst und ihn Sonne nennst, wirft ein anderes Licht auf die Welt, als sie so zu betrachten, als wäre sie ein von deinem Leben und Wohnen abgetrennter Raum, in dem es die Erde, den Mond und die Sonne gibt und auf der Erde dies und jenes, unter allem anderen ein Wesen, das sagt: „Sonne“.
Wenn wir in einer Welt leben, in der du den Satz sagen kannst: „Ich sehe einen roten runden Fleck, und dieser Fleck ist die Sonne“, müssen wir davon ausgehen, daß diese Welt so geartet ist, daß sie die Wahrheit des Satzes: „Ich sehe einen roten runden Fleck, und dieser Fleck ist die Sonne“ möglich macht.
Die Welt, in der wir wohnen, ist eine Welt, in der Sätze wie: „Ich sehe einen roten runden Fleck, und dieser Fleck ist die Sonne“ wahrheitsfähig sein können. Eine Welt, in der Sätze über unsere Empfindungen und in der unsere Gedanken wahr sein können, muss eine Eigenschaft mit den Sätzen, mit denen wir Wahres über sie sagen, gemeinsam haben. Diese Gemeinsamkeit oder Isomorphie drückt sich darin aus, daß wir von unserer Welt und unseren Empfindungen und Gedanken, die sich auf eben diese Welt beziehen, sprechen können.
Die Welt, in der du als sensibles Lebewesen deinen Empfindungen wahre Aussagen zuschreiben kannst, ist eine Welt, in der du als Zeichen gebendes und empfangendes Lebewesen empfindest und sprichst.
Freilich ist die Sonne, von der die Physiker und Kosmologen als Stern unter Sternen handeln, dieselbe Sonne, von der du eine visuelle Wahrnehmung hast. Und auch wieder nicht.
Denn die Bedingung der Möglichkeit, daß die Physiker und Kosmologen den Stern Sonne beschreiben, ist gleichursprünglich mit der Bedingung der Möglichkeit, daß du sagen kannst: „Ich sehe einen roten runden Fleck, und dieser Fleck ist die Sonne.“
Die Welt, in der wir wohnen, ist der Ort, der die Bedingung der Möglichkeit eröffnet, daß du nicht niemand sein kannst, sondern immer als jemand und du selbst empfindest, sprichst und handelst.
Wenn wir uns bei einem Treffen die Hand geben, spürst du den Druck meiner Hand, aber es ist deine Hand, die gleichsam das volle Gewicht der Empfindung trägt. Eine Empfindung, die zugleich offen ist für die Erzeugung der Vorstellung, wie es wohl für mich sein könnte, deine Hand in der meinen zu spüren.
Was macht den Unterschied des Satzes: „Mein Handschuh liegt auf dem Tisch“ zu dem Satz aus: „Meine Hand schmerzt“?
Der Handschuh, der auf dem Tisch liegt, ist ein Gegenstand in der Welt, der vielleicht niemals in dein Blickfeld hätte geraten können, wenn er beispielsweise mein Handschuh wäre. Dein Handschuh könnte mein Handschuh sein, aber deine Hand niemals meine Hand.
Wenn wir in einer sozialen Welt ohne rechtliche Regelung der Eigentumsverhältnisse lebten, gäbe es weder meinen Handschuh noch deinen Handschuh, sondern nur Handschuhe, von denen mal ich mal du uns bedienten. Aber auch in dieser ziemlich unerfreulichen Welt (denn in ihr besäße derjenige besagten Handschuh, der sich am schnellsten, schlauesten oder brutalsten seiner bemächtigt hätte), wäre meine Hand immer noch meine Hand und deine Hand deine Hand.
Die Tatsache, daß deine Hand nicht meine Hand und dein Schmerz in deiner Hand nicht mein Schmerz in meiner Hand sein kann, gehört zu den fundamentalen Tatsachen der Welt, in der wir wohnen.
Wenn schlaue Neurotechniker dein nervöses System mit meinem nervösen System über ein KI-WLAN solcher Art verbänden, daß immer dann, wenn du Schmerzen in deiner Hand verspürtest, ich diese Schmerzen mitverspürte, fühlte ich nicht deinen Schmerz in deiner Hand, sondern wäre durch deinen Schmerz kausal veranlaßt, meinen Schmerz in deiner Hand zu spüren.
Warum kann ein Bio-Roboter oder Neuro-Roboter keinen Schmerz in seiner künstlichen Hand empfinden? Nicht etwa deshalb, weil diese Hand künstlich ist und nicht aus Fleisch und Blut wie meine und deine Hand, sondern weil diese Roboterhand kein Gliedmaß sein kann, von dem der Roboter als von seiner Hand sprechen und sagen könnte: „Meine Hand schmerzt.“
Warum kann der Roboter nicht von seiner Hand als von seiner Hand reden? Weil er die transzendentale Grenze, an der wir gleichsam wohnen und von der aus wir von uns und unserer Welt reden, niemals erreichen kann.
Wir kennen psychotische Erkrankungen, bei denen die transzendentale Grenze, von der aus wir von unserer Hand, unseren Empfindungen und unseren Gedanken sprechen, gleichsam durchlässig und löchrig geworden ist, sodaß der Kranke glaubt, seine Hand werde von fremden Mächten gelenkt, seine Gedanken ihm von fremden Mächten eingegeben oder auch entwendet. Wir können diese Form des Ichzerfalls nur von der transzendentalen Grenze aus diagnostizieren, von der her wir verstehen, weshalb der Kranke seine Hand nicht mehr als sein Gliedmaß identifizieren kann. Die Voraussetzung dafür, daß wir vom Ichzerfall sprechen, ist die Welt, in der wir wohnen und unsere Hand als unsere Hand empfinden.
Es ist beinahe lächerlich zu glauben, wir könnten einem Bio-Roboter die transzendentale Grenze, von der her wir von unserer Welt sprechen, technisch applizieren, indem wir ihm beispielsweise eine Kamera einbauen, mit der er jetzt visuelle Einwirkungen von Lichtquanten erhält, die wir als das Bild eines Sonnenuntergangs sehen, und ihm dazu noch eine Sprachbox einpflanzen, die bei Befragung, was er denn jetzt sehe, den Satz ausspucken läßt: „Ich sehe die Sonne untergehen“.
Warum ist dies beinahe lächerlich? Nun, weil der Roboter den Seheindruck nicht als seinen Seheindruck mit sich als demjenigen identifizieren kann, der ihn hat, wie wir es tun, wenn wir dasselbe sagen, nämlich: „Ich sehe die Sonne untergehen.“
Wir bemerken, daß die Wörtchen „mein“ und „dein“, „sein“ und „ihr“, „unser“ und euer“ sowie „ihr“, also die ganz gewöhnlichen Personalpronomina, transzendentale Begriffe oder Grundbegriffe der transzendentalen Semantik darstellen, die die Grenzen der Welt bezeichnen, in der wir wohnen.
Natürlich sind die Personalpronomina Ableitungen des transzendentalen Grundbegriffes „Ich“. Denn wenn ich von deiner Hand rede, dann in dem Sinne, daß ich annehme, daß du dich zu deiner Hand verhältst wie ich zu meiner Hand.
Wir können freilich beschreiben, wie ein Orang-Utan mit einem abgeschälten Zweig als Werkzeug in einem Ameisenhaufen stochert und sich Ameisen herausfischt. Wir reden davon, daß der Affe seine Hand zweckgerichtet einsetzt. Aber hier ist die Rede von „seiner“ Hand eigentlich metaphorisch: Denn es handelt sich um eine Hand, die wir in einer Welt beobachten, die nicht unsere Welt ist und in der die Hand des Affen gleichsam eine abstrakte oder objektive Hand darstellt, eine Welt, die wir von jeglichem transzendentalen Bezug abstrahiert haben. Damit befinden wir uns im Raum der Wissenschaft.
Und diese Form der Betrachtung wenden wir auch auf uns selbst an: Auf diese Weise untersucht der Orthopäde und Chirurg unsere Hand, so beobachtet der Biologe das Verhalten des Affen, so der Physiker das Verhalten von Atomen, der Astronom die Bewegung der Planeten.
Dennoch ist die transzendentale Grenze, von der aus wir von unserer Hand und unserer Welt reden, die Bedingung der Möglichkeit, daß der Wissenschaftler seine Beobachtungen anstellt und seine Theorien entwirft.
Wie beinahe lächerlich allerdings, wenn semantisch unterbelichtete Neuro- und Bewußtseinsphilosophen uns weismachen wollen, daß die penetrante Art und Weise, wie wir von unserer Hand und unserer Welt reden, eine Funktion eines neuronalen Vorganges sei, den sie im Gehirn da und dort lokalisieren wollen. Denn freilich ist das Ich oder Selbst nirgendwo und niemals zu lokalisieren, denn es bildet ja allererst die transzendentale Grenze, von der her wir sagen können „hier“ und „dort“, aber auch „jetzt“ und „soeben“, „heute“ und „gestern“ und „morgen“, ja uns gar weismachen wollen, daß unsere penetrante Art und Weise, ich zu sagen und von uns und unserer Welt zu reden, nichts als ein biologisch nützlicher Schleier und Vorhang eines Gehirns sei, das niemandes Gehirn in einer Welt sei, die niemandes Welt sei.
Wie sollten wir die Selbsttäuschung und das Selbstmißverständnis von niemandes Gehirn sein, wenn doch unser Gehirn wie unsere Hand und unsere Empfindungen und unsere Gedanken Teile unseres Köpers sind, meines und deines Körpers, unsere jeweiligen Körper aber Teile unseres Ich und unserer Person sind, die, mein und dein Ich, meine und deine Person, nicht wiederum Teil der Welt in dem Sinne sind, in dem es Gehirne und Körper und Sonnen gibt, sondern in der mein und dein Ich, meine und deine Person die transzendentale Grenze der Welt darstellen, in der wir mit unserem Körper wohnen?
Wir können das Ich als Zentrum meiner und deiner Welt nicht lokalisieren, weder im Gehirn noch in einem anderen Bestandteil oder einer anderen Phase der Raum-Zeit-Welt. Wenn ich dich nach langer Abwesenheit wiedersehe und du rufst: „Hier bin ich!“, kann ich dich freilich einzig in deiner körperlichen Anwesenheit erfassen und erfahren. Doch wäre es ebenso lächerlich, wenn du aus diesem Grunde ausrufen würdest: „Hier ist mein Körper!“ oder „Hier ist mein Gehirn!“ Denn wenn du sagtest: „mein Körper“ oder „mein Gehirn“, sagtest du ja schon „ich“.
Es ist demnach ein Selbstmißverständnis besagter Neuro- und Bewußtseinsphilosophen anzunehmen, es gebe irgendwo in der Welt etwas, das wir Bewußtsein, Ich, Selbst oder Person nennen, lokalisieren und wissenschaftlich untersuchen könnten, wie wir Moleküle, Pflanzen und Sterne lokalisieren und wissenschaftlich untersuchen oder wie wir Gehirnteile lokalisieren oder Gehirne sezieren können.
Wir können das Ich oder die Grenze unserer Welt nicht lokalisieren oder wissenschaftlich untersuchen, denn könnten wir es, verwandelten sie sich augenblicks in einen Bestandteil oder Sachverhalt diesseits der Grenze.
Wir können das Ich oder die Grenze unserer Welt nicht in einem Satz der Art ausdrücken wie: „Ich sehe einen roten runden Fleck, und dieser Fleck ist die Sonne“, wie etwa: „Hier auf dem Gehirn-Scan sehe ich die Gehirnregion XYZ, und diese Region ist es, die mein Ich generiert“. Wir können, nachdem wir „ich“ gesagt haben, nur „ich“ wiederholen und haben demnach nichts wirklich Neues und Relevantes gesagt. Es wäre so, wie wenn ich sagte: „Ich sehe die Sonne untergehen“, und dann emphatisch nachsetzte mit dem Satz: „Ja, wirklich, das bin ich, der sagt: Ich sehe die Sonne untergehen.“ Denn mit dem Satz: „Ich sehe die Sonne untergehen“ habe ich schon alles gesagt, und wenn ich mehr sage, sage ich nicht mehr.
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