Die Welt im Lichte des Glaubens und Sagens
Der psychische Zustand, etwas anzunehmen oder zu glauben, ist der Elementarzustand, von dem wir ausgehen müssen, wenn wir ein adäquates Konzept einer Person entwickeln oder uns selbst verstehen wollen.
Da draußen gibt es Häuser und fahrende Autos, Leute, die herumlaufen, und Bäume, die seltsam beziehungslos herumstehen. Objekte zuhauf – doch nichts, was auch nur entfernt an das erinnerte, was wir einen psychischen Zustand und noch weniger, was wir den psychischen Zustand des Glaubens nennen könnten.
Aber wenn du aus dem Fenster schaust und meinst, da unten deinen Freund Manfred entlanggehen zu sehen, wirst du vielleicht sagen: „Ich glaube, da geht mein Freund Manfred.“ Und wenn du dir sicher bist, ihn erkannt zu haben, sagst du einfach „Schau mal, da geht mein Freund Manfred!“
Zu sagen, daß da etwas sei, ist demnach die bis zum höchsten Grad der Gewißheit gesteigerte Form des Annehmens oder Glaubens. Also setzt unser elementarer Sprechakt des Sagens, daß p oder das Behaupten den inneren Zustand des Glaubens voraus. Wir können auch sagen: Sprechen ist eine Ableitung oder Funktion des Glaubens und wäre ohne diese nicht, was es ist – nämlich nur ein sinnloses Lallen.
Die Dinge in der Welt und die Welt scheinen demnach nicht an sich zu existieren, denn ihre Art des Daseins ist eine Abbildung unseres Glaubens und Sagens. Kein Ding sei, wo das Wort gebricht.
Aber wir wissen doch, daß dein Freund Manfred, wenn er aus deiner Sicht entschwunden und um die Ecke gegangen ist, hübsch brav und ungestört seines Weges geht, wie die Murmel, die hinter den Baum gerollt ist, nicht verschwindet, sondern gleich wieder in ganzer Gestalt an der anderen Seite hervorrollt.
Doch wenn wir wieder schauen, was du von der Sache mitbekommst, ist es nichts anderes als der Glaube, dein Freund gehe seines Wegs oder die Erwartung – eine spezielle Form des Glaubens, nämlich die Annahme, das und das werde geschehen –, die Murmel werde gleich wieder hinter dem Baum hervorrollen.
Können wir nicht sagen: Egal, was du siehst oder nicht siehst, in der Wirklichkeit geht schließlich, unabhängig von deinen Mutmaßungen und Glaubensvorstellungen, etwas vor, nämlich: der von deiner Wahrnehmung unabhängig existierende Freund Manfred läuft die Straße entlang?
Das klingt plausibel, hält aber einer näheren Prüfung nicht stand. Denn die Tatsache, daß dort dein Freund geht, daß er den Namen Manfred hat, ja daß dort ein Mensch geht, daß er auf einer Straße entlangläuft, all dies sind Beschreibungen, die ohne deinen Glauben oder das System deiner Glaubensannahmen nicht möglich wären.
Heißt das am Ende, daß dort keine Menschenseele unterwegs wäre, wenn du nicht des Glaubens wärst, daß dies der Fall ist? Ja, so wenig plausibel es auch anmuten mag!
Mündet dieser Gedanke, wenn wir ihn konsequent zu Ende denken, nicht in puren Idealismus oder schlimmer, im Solipsismus?
Nein. Denn die sprachlichen Begriffe, die wir verwenden, um die Welt zu beschreiben und aus ihr etwas herauszugreifen, vom dem wir sagen, der Gegenstand mit der und der Eigenschaft existiert, haben wir regelhaft im primären Spracherwerb erworben und regelhaft auf Vorkommnisse unserer Umwelt angewandt. Wir haben diese Begriffe nicht erfunden, sondern erlernt, sie gründen in den uns unzugänglichen Tiefen des Sprachsystems, die vielleicht gar nicht einmal besonders tief, sondern nur unfaßbar sind.
Wir bemerken, daß die Welt, die wir beschreiben, nicht unabhängig von unseren Beschreibungen aufgefaßt werden kann, und daß unsere Beschreibungen nicht unabhängig von der Welt zustandekommen. Dieses intrikate Verhältnis ist nicht vollständig auflösbar und analysierbar, sondern gleichsam nur von Fall zu Fall zu beleuchten.
Die Physiker am CERN bei Genf beschreiben doch rein objektive physikalische Vorgänge, wenn sie zum Beispiel das Higgs-Boson erfassen und beschreiben? Das rätselhafte Boson wurde erst gefunden, nachdem der Physiker Peter Higgs die begründete Annahme oder die theoretisch fundierte Erwartung formuliert hatte, daß es existiert und beobachtet werden könne. Hätte er diese spezielle Form des Glaubens, die theoretisch fundierte Erwartung, es gebe dieses Teilchen, nicht formuliert, hätte man mittels des Large Hadron Collider in CERN gar nicht danach gesucht. Also sind die Beschreibung der Existenz und Funktion des Bosons und die Art der präzisen Messung, die seine Existenz und Funktion nachgewiesen haben, äquivalent.
Wenn du deinem Freund vom Fenster aus zurufst: „Hallo, Manfred, ich binʾs!“, wird er dich hören und verstehen, daß der Zuruf ihm gilt, und dich vielleicht sogar am Klang deiner Stimme erkennen. Auch wenn du nur „Hallo!“ rufst, wird er den Ruf auf sich beziehen, wenn er deine Stimme widererkennt, und wissen, was mit diesem Sprechakt der Aufforderung gemeint ist: „Bleib stehen, schau hierher, verweile kurz, auf daß wir ein bißchen plaudern!“ Zu kommen und tiefäugig blickend einzureden, was denn das akustische Klangphänomen an sich Bedeutungsträchtiges in sich trage, wo doch das Rauschen der Blätter im Eichenhain nur eben die Auguren zu deuten wußten, geht an der Sache vorbei, weil die hier hörbare Form der mundgerechten Aufbereitung von Lauten unser Verlangen nach Verständigung hinreichend bedient, und dies in einem Maße, daß kein Quentchen und Tüttelchen des Geheimnisvollen übrigbleibt.
Offensichtlich unterstellen wir dem Rufenden die Absicht, die wir an seiner Stelle ebenfalls hegten, nämlich unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wir entnehmen dem Laut die Erwartung, seiner Aufforderung zu entsprechen und innezuhalten. Gilt diese Affinität unseres Meinens und Sagens nur im Intimbereich der sprachlichen Verlautbarung und des intentionalen Handelns oder können wir sie auf andere Phänomene, akustische und visuelle ausdehnen? Nun, wir können die Dinge und Vorgänge so sehen, als wären wir bereit, sie in Worte zu fassen und unserem imaginären Nachbarn mitzuteilen oder ihn darauf aufmerksam zu machen. Wir können das Sichtbare wie einen großen Kuchen in Stücke teilen, die wir mit dem Schieber unserer Intentionen entnehmen, um sie im inneren Dialog unserem Alter Ego weiterzureichen und seine unersättliche Neugier vorübergehend zu stillen.
Wenn du nicht glauben und sagen könntest, dort gehe dein Freund, hätte diese Annahme keinen Ort in der Welt. Wir schälen gleichsam mit dem Messer unserer Annahmen und der sie artikulierenden Aussagen die Kerne dessen, was wir als existierend annehmen, aus dem ansonsten für uns ungenießbaren Fruchtfleisch der Welt heraus.
Oder wenn wir dieses Bild vorziehen wollen: Wir schöpfen mit den mehr oder weniger wohlgeformten Löffeln unserer Annahmen und Aussagen die genießbaren Brotkrümel aus der uns ansonsten ungenießbaren und gänzlich transparenten Wassersuppe der Welt heraus. Wenn allerdings unser Löffel ein Loch hat, bleibt unser Bemühen vergeblich.
Nun schweben die Aussagen über das, was wir glauben, nicht im luftleeren Raum herum, sondern sind mit dem Zentrum des Glaubenssystems fest verknüpft: Dies ist aber die Person, die etwas glaubt und etwas sagt, du und ich. Die Voraussetzung der sinnvollen Praxis des Glaubens und Sprechens ist der Glaubende und Sprechende. Die Annahmen über das, was ich glaube, müssen auch Annahmen sein, die du glauben kannst oder könntest, und vice versa. Nur auf der Grundlage dieser möglichen Verflechtung und isomorphen Abbildung unserer jeweiligen Annahmen erfahren sie die notwendige Konsistenz und Kohärenz.
Wenn du sagtest, dort gehe dein Freund Manfred, aber du glaubst, er liege zur gleichen Zeit in der Klinik im Koma, würde ich dir nicht glauben, denn die Annahmen sind nicht konsistent, weil wir vernünftige Menschen sind und nicht glauben, derselbe Gegenstand wie ein Mensch könne sich gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten aufhalten. Aber nehmen wir an, wir würden unser Glaubenssystem gänzlich umkrempeln und das, was uns bisher als inkonsistent galt, als triviale Annahme behandeln. Wenn ich dann vielleicht sagte: „Ich sehe, dort geht dein Freund Manfred, aber ich glaube, es ist Prof. Gadamer“, würdest du mir nicht glauben, und die Ausflucht, unser Glaubenssystem von der strengen Auflage der hier durchkreuzten Konsistenz zu befreien, um mir meine Meinung zu lassen, könnte nicht mehr verfangen: Hier sind wir mit unserem Latein und Deutsch am Ende. Die Aussage ist ja nicht vielleicht falsch, da Prof. Gadamer nicht mehr unter den Lebenden weilt, worin ich mich geirrt haben mag, sondern sie ist unsinnig, denn weder dein Freund noch Prof. Gadamer, lebte er noch, kann zweier Identitäten teilhaftig sein, und dies gilt unabhängig von Orts- und Zeitbestimmungen. Die Voraussetzung der Identität dessen, der etwas sagt, und der Identität dessen, worüber er etwas sagt, kann aus unserem Glaubenssystem nicht herausgestrichen werden, denn sie bildet gleichsam den Nagel, an dem es aufgehängt ist. Inwiefern diese beiden Typen von Identitäten, denn sie haben nur die Form, keinen Inhalt gemeinsam, sich spiegelnde Pole einer sogenannten transzendentalen Grundspannung darstellen, klingt nach einer schönen Theorie, entzieht sich indes unserer begründeten Erkenntnis.
Durch unsere Gabe, etwas annehmen und glauben zu müssen und zu können, kommen wir dazu, die von uns unabhängige Welt zu begreifen, und gleichzeitig zu begreifen, daß ihre Inhalte von der Leistung unserer Annahmen und Glaubensätze abhängig sind.
Etwas zu glauben heißt eine Person zu sein, die etwas glaubt. Wir können nicht etwas glauben ohne zu glauben, daß wir es sind, die etwas glauben. Was wir über das sagen, was wir glauben, setzt uns als Personen, die es glauben, voraus. Demnach ist die Sprache kein dem intentionalen Leben der Person vorgängige und es vollständig determinierende Struktur, auch wenn wir es nur mittels unserer Sprechakte des Meinens offenbaren und ausdrücken können. Das Personsein ist demnach keine kontingente Tatsache in der Welt, sondern eine notwendige Voraussetzung, eine Form ohne Inhalt, die Passform für alle kontingenten Weltinhalte.
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