Ego cogito
Über den reinen Gedanken als Synthesis des Bewußtseins
Ein Beitrag zur Philosophie der Subjektivität
Unser Dasein ist der Gedanke, daß wir da sind. Ohne den Gedanken, da zu sein, wären wir nicht da.
Wer glaubt, ein anderer zu sein, als er in Wahrheit ist, glaubt immerhin der zu sein, der er nicht ist, und erweist somit, nicht vergessen zu haben, was es heißt, jemand zu sein.
Wir können uns nicht vorstellen, was es hieße, vergessen zu haben, daß man jemand ist, weil alle Vorstellungen auf die synthetische Leistung des Ego cogito verweisen.
Auch die äußerste Vorstellung, vergessen zu haben, wer man ist, impliziert den Verweis auf die Synthesis des Bewußtseins, sich von der Vorstellung leiten zu lassen, jemand zu sein.
Es gibt keinen Inhalt des Bewußtseins, der nicht die transzendentale Form der Synthesis enthielte. Wir können nicht sinnvoll von Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen oder Phantasien reden, die nicht jemandes Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen oder Phantasien wären. Das visuelle Bild der Vase auf dem Tisch wäre ohne die unwillkürliche Leistung der Synthesis des Ego cogito überhaupt kein Bild. Wenn nicht du es bist, der das phantasmagorische Bild von der Vase auf dem Tisch des Restaurants an der Adria vor dem geistigen Auge hat, wo du in den Ferien des vergangenen Sommers den Mittagstisch aufzusuchen pflegtest, oder das Foto, das du von der Vase gemacht hast, als dein Erinnerungsbild identifizierst, könnte es vielleicht auf die Erinnerung eines anderen verweisen, doch als dein Erinnerungsbild könnte es dann nicht dienen.
Das „Ich denke“ hat keinen spezifischen Inhalt. Wenn ich dich aus deiner Zerstreutheit mit der Frage wecke, woran du gerade gedacht hast, wäre es in dem Maße unsinnig, wenn du antwortetest, du habest an dich gedacht, wie es sinnvoll wäre, wenn du antwortetest, du habest an einen verstorbenen Freund gedacht.
Das Ego cogito ist die Form des Gedankens schlechthin, überhaupt, an und für sich. Der einfachste sprachliche Ausdruck dieses Gedankens könnte lauten: „Ich meine, daß p“, wobei der Ausdruck „Ich meine, daß“ für die intentionale Struktur des Gedankens steht und die Variable p für einen beliebigen Gedankeninhalt wie eine Wahrnehmung, Erinnerung oder Erwartung.
Auch unsere Träume zeigen die unermüdliche Arbeit der transzendentalen Synthesis, denn auch Träume sind immer jemandes Träume, niemandes Traum ist nicht einmal ein Traum.
Der Gedanke ist kein Reflex eines Sachverhalts oder einer Tatsache, wie der Schatten auf dem Boden, der sich im Restdunkel auflöst, wenn die Sonne versinkt. Der Gedanke ist mächtig und, könnte man sagen, bewegt die Welt, insofern wahre Gedanken nicht nur die Voraussetzung richtigen oder sachgemäßen Handelns sind, wie der Gedanke, daß die schnellste Verbindung zwischen Frankfurt und Köln die ICE-Strecke über den Taunus und Westerwald darstellt, die adäquate Voraussetzung für meine Absicht ist, eine Fahrkarte für diese Strecke zu lösen, wenn ich morgen früh auf dem schnellsten Wege nach Köln gelangen möchte. Sondern das Ego cogito ist auch die Form meines Handelns selbst, da Handlungen, die ich nicht als die meinen identifiziere, vielleicht deine Handlungen und Körperbewegungen sein könnten, aber nicht meine wären und daher keinen Ansatzpunkt und keine Eingriffsfläche in der Welt neben deinen Handlungen und deinen Körperbewegungen fänden und somit ohne Wirkung und Erfolg blieben.
Der Gedanke oder das Ego cogito kann kein falscher Gedanke sein, denn könnte ich gedanklich das Dasein des Ego cogito widerlegen, müßte ich das Dasein des Ego cogito bereits voraussetzen, denn einen als fasch angenommen Gedanken zu widerlegen setzt das Dasein eines Gedankens überhaupt voraus. Wenn das Ego cogito aber kein falscher Gedanke sein kann, dann auch kein wahrer Gedanke, denn die Voraussetzung dafür, daß ein Gedanke wahr ist, ist die Möglichkeit, daß er auch nicht wahr sein könnte.
Daraus schießen wir, daß der reine Gedanke oder das Cogito die transzendentale Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß wir überhaupt von wahren und falschen Gedanken sprechen können.
Der reine Gedanke oder das Cogito sind keine Formen des Zeitbewußtseins, die zeitliche Indexierung unserer Gedanken leisten bekanntlich die Funktionen der Erinnerung, Vergegenwärtigung und Erwartung.
Wenn das Cogito zeitlich wäre, wüßte ich nicht, ob derjenige, der morgen in meinem Bett erwacht, ich selbst bin. Und wenn wir einander das Versprechen gemacht haben, uns in einem Jahr da und dort wieder zu treffen, und wir haben uns am vereinbarten Ort getroffen, ist derjenige, der vor einem Jahr das Versprechen tat, derselbe, der es nach einem Jahr erfüllt.
Das Leben, das wir hier fristen, müssen wir trotz seiner zeitlichen Etappen in einem Kontinuum über die Abgründe der Zeit und des Schlafs hinaus als unser Leben erfassen und auffassen, genauso wie wir unseren Körper trotz all der vielfältigen Metabolismen und Zellerneuerungen, die seine Identität als materielles Objekt vollständig auflösen und ersetzen, als unseren Körper erfassen und auffassen müssen, um überhaupt sinnvoll reden und agieren zu können.
Das Cogito hat keine Zukunft, aber es ermöglicht auf dem Hintergrund seiner Synthesis über die Zeit das Ende des zeitlichen Daseins vorstellen zu können. Nur weil wir als Cogito ins Dasein gelangen und bewußt existieren, haben wir auch ein Wissen um den Tod.
Daraus schließen wir, daß der reine Gedanke oder das Cogito die transzendentale und selbst nicht zeitlich strukturierte Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß wir überhaupt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen können.
Auf der großen Karte am Waldrand erkennen wir eine rote Pfeilmarkierung, die den Standort des Betrachters auf dem Bild der verschlungenen, sich überkreuzenden Wanderpfade angibt. Jeder, der vor der Karte steht und sich Orientierung verschaffen will, wird durch diese Markierung repräsentiert. Wenn wir am Ausgang unserer Wanderung den Wald verlassen, finden wir wiederum eine Karte am Waldrand, ebenso mit einer Pfeilmarkierung versehen, die den Strandort des jeweiligen Betrachters markiert – nur ist diese Markierung spiegelbildlich oder invers zu derjenigen der Ausgangskarte.
Wir gebrauchen dieses Beispiel als Modell, um die Tatsache zu veranschaulichen, daß es unsinnig wäre, von einem bestimmten Ort des Cogito oder unseres Bewußtseins im Raum zu sprechen. Es ist vielmehr umgekehrt: Orte oder Räume kann es wie Zeitpunkte und zeitliche Dimensionen nur unter der Voraussetzung des Daseins eines Bewußtseins oder Cogito überhaupt geben.
Daraus schließen wir, daß der reine Gedanke oder das Cogito die transzendentale Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß wir von Orten, räumlichen Dimensionen oder dem Raum schlechthin sprechen können.
Der reine Gedanke oder das Cogito ist kein logischer Gedanke, er kann nicht aus spezifischen Mustern der Inferenz oder der logischen Deduktion als Schlußfolgerung abgeleitet werden. Eine Aussage über die Wahrnehmung einer absichtsvollen Bewegung wie die Bewegung der Finger und eine Aussage über die Wahrnehmung des aufleuchtenden Lichts der Lampe legen den Schluß aus der Addition dieser Aussagen nahe, daß jemand den Lichtschalter erfolgreich umgelegt hat. Eine Aussage über die Wahrnehmung des Schattens auf der Sonne und eine Aussage über die Beobachtung der Planetenbewegungen von Erde und Mond um das Zentralgestirn legen den Schluß aus der Addition dieser Aussagen nahe, daß es sich um eine Sonnenfinsternis handelt. Dies sind Schlußfolgerungen auf je eine spezifische Kausalität, zum einen des Handelns, zum anderen eines physikalischen Ereignisses, nämlich der Lichtablenkung infolge der Planetenkonstellation. Eine Aussage über die Bedeutung des Begriffs „Morgenstern“ und eine Aussage über die Bedeutung des Begriffs „Abendstern“ legen den Schluß aus der Addition dieser Aussagen nahe, daß es sich bei beiden Aussagen um denselben Gegenstand, nämlich die Venus, handelt. Diese Schlußfolgerungen setzen, um bedeutungsvoll sein zu können, das Dasein des reinen Gedankens, des Cogito oder des Bewußtseins überhaupt voraus, doch dieses kann aus ihnen nicht logisch abgeleitet werden.
Zu sagen, Morgenstern und Abendstern bedeuten denselben Gegenstand, setzt ein Bewußtsein oder Cogito voraus, das in der Lage ist, überhaupt Bedeutungen zu bestimmen, zu verstehen und miteinander abzugleichen.
Daraus schließen wir, daß der reine Gedanke oder das Cogito die transzendentale und selbst außerlogische Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß wir bedeutungsvolle, das heißt wahre oder falsche Gedanken, gleichsam addieren oder subtrahieren und auf ihre logischen Beziehungen wie die der Implikation oder Negation hin analysieren können.
Was ist das, eine synthetische gedankliche Funktion, die außerzeitlich, außerräumlich, nichtlogisch sein soll, aber unser Dasein schlechthin ausmacht? Das wissen wir nicht und können es nicht wissen, denn alles Wissen ist eine Folge und Ableitung dieser synthetischen Funktion.
Wir können nur gleichnisweise reden, indem wir auf die Rede der Theologie und die biblischen Bilder zurückgreifen. Demnach ist Gott derjenige, der als erster und letzter vor der Schöpfung und zum Geschöpf spricht, dessen Rede ein Sprechakt ist, der hervorbringt, was er sagt und bedeutet. Gott ist also der erhabene Jemand überhaupt und damit der reine Gedanke, der außerzeitlich, außerräumlich, außerlogisch, aber schöpferisch ist. So können wir der biblischen Rede, wonach Er uns nach seinem Bilde schuf, einen vorläufigen, schattenhaften Sinn unterlegen, wenn wir unsere Form der Subjektivität als Spiegel des reinen göttlichen Gedankens dessen auffassen, der von sich sagt: „Ich bin, der ich bin.“