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Europas Leid und Erlösung

13.10.2015

Kleine philologisch-metaphysische Betrachtung zur Europa-Ode des Horaz, Oden, Buch III, 27

In dieser umfangreichen Ode im ersten sapphischen Strophenmaß, die viele Ausleger ungefüg, skurril oder gar verunglückt dünkte, scheint uns der Dichter in ein krauses Dickicht von Namen, Gesichtern, Omina zu entführen, deren Bezüge sich kaum oder erst allmählich lichten. Nennen wir die Grundstimmung des Gedichts also ominös.

Viele im Gedicht auftauchende Namen sind Tiernamen: Eule oder Uhu, Hund, Wolf, Schlange, Rabe, Pferde und Löwen, die Monster des Meers, im Mittelpunkt natürlich der weiße Stier, in den sich Zeus oder Jupiter verwandelt, um in seiner Gestalt Europa, königlichen Geblüts von Vater Agenor, zu entführen und, bei Licht betrachtet, zu vergewaltigen.

Mythische Namen sind das Sternbild des Orion, die Nymphen, der Orkus und die elfenbeinerne Traumespforte des Hades.

Als geographische Namen werden verwendet Hadria, Kreta und Europa.

Menschliche Namen fassen wir im Namen der Galatea, von der sich das Ich des Gedichts wie nach einer Liebesaffäre verabschiedet, und natürlich im Namen der Europa selbst, die mit ihrem Klage-Monolog den meisten Raum und die meiste Zeit beansprucht (Strophen 9 bis 17).

Namen von Göttern fassen wir im Namen des Jupiter, der Venus und ihres Sohnes Amor.

Der Name und die Gestalt der mythischen Europa scheint vom Namen und der Gestalt der scheinbar historischen Galatea heraufbeschworen oder evoziert zu werden – wir sollten indes gerade wie bei allen Namen von Geliebten, ob männlich oder weiblich, von denen die Oden des Horaz bevölkert oder heimgesucht werden, in denen sie gefeiert oder verflucht werden, stets des fiktionalen Charakters der Dichtung eingedenk sein. Das bewahrt uns vor den Fallstricken einer kurzatmigen psychologisierenden Scheindeutung. Nennen wir also den Namen der Galatea ein Supplement des Namens der Europa. Die Ersetzung oder Supplementierung beginnt in Strophe sieben, sie wird zwar bis zum Schluß der Ode aufrechterhalten, aber bleibt unerklärt. Sie bleibt rätselhaft und ominös.

Natürlich ist der Name, der uns die ganze Ode über am eindringlichsten präsent ist, der Name des Dichters selbst: Er bleibt indes wie in allen Gedichten, denn dies folgt aus ihrer Struktur, ungenannt. Doch hat auch der Name des Horaz einen Stellvertreter, nämlich im Gebrauch der ersten Person der direkten Rede. Und sogar dieses fiktionale oder gedichtete Ich hat wiederum einen Stellvertreter oder ein Supplement: Es verkörpert oder verwandelt sich in den Augur der zweiten Strophe, der die guten und bösen Omina beschwört.

Wir gewahren eine Entsprechung zwischen der Verwandlung des Dichter-Ich in einen Augur oder einen vates, der Verwandlung des göttlichen Jupiter in einen Stier, der Verwandlung der mythischen Königstochter Europa von einer Jungfrau in das geschändete Mädchen sowie der Verwandlung der verfluchten Tochter in die gepriesene und erhabene Gattin des Jupiter.

Außerdem gewahren wir Bewegungen in Form von Ortswechseln und Reisen. Da ist die Reise, die den Abschied der Galatea einleitet und die sie von der Ostküste Italiens in Richtung Illyrien über das adriatische Meer bringt. Und da ist im östlichen Mittelmeerraum, genauer von Sidon aus, die Reise der Europa, auf die sie der Stier in Richtung Kreta bringt. Auch die „Reise“ des Traums aus dem Hades durch das elfenbeinerne Tor, hinter dem die Trugbilder hausen, zu Europa gehört zu diesen imaginären Bewegungen. Einen impliziten Bezug zum Orkus wollen wir am Rande nicht unerwähnt lassen: Er verkörpert sich in den der Europa zugeschriebenen Söhnen von Zeus her, Rhadamanthus und Minos, die zu Unterweltsrichtern bestimmt sind.

Doch die wesentlichen Bewegungen, die die Ode formen, sind natürlich die seelischen Wandlungen, allen voran die Verwandlung der Europa von der jungfräulichen Tochter ihres Vaters, die am Meeresstrand unschuldig Blumen pflückt für die Nymphen, zu dem von einem Stier sodomitisch geschändeten und vom Vater verfluchten Mädchen. Und endlich die Verwandlung der verworfenen Frau durch die göttliche Ironie der Venus in die erlöste und erhobene Gattin des Jupiter, nach der ein neuer Erdteil benannt wird.

Wir erinnern daran, daß jedes Gedicht eine Art kleine oder größere Reise und eine Bewegung in der Zeit darstellt, denn es beginnt gleichsam am Ufer der ersten Zeile und wird mit mehr oder weniger günstigem Fahrtwind bis ans gegenüberliegende Ufer der letzten Zeile geführt – wenn es nicht Schiffbruch erleidet, unfreiwillig, wenn das Gedicht aufgrund der Untüchtigkeit des Kapitäns zur Navigation scheitert und verunglückt, absichtlich, wenn es der fatale Wunsch des Dichters nach sensationellem Effekt oder der hehre Wunsch des Dichters nach grandioser Ausdruckssteigerung so verfügt. Solch ein Untergang kann natürlich höchst bedeutsam und symbolisch ausdrucksstark gestaltet sein.

In unserer Ode gelangt Europa immerhin ans andere Ufer, nach Kreta. Jedoch nicht, ohne zuvor die äußersten Drangsale und Ängste erlitten zu haben. Hier tauchen als Supplement oder Analogie der in der Eingangspassage (dem Galatea-Teil) beschworenen Omina – des Uhus Schrei, der schwangere Hund, die graue Wölfin, die trächtige Füchsin oder die Schlange – vor der gepeinigten Europa die Monster der Tiefe auf und sie erfaßt panischer Schrecken, über dem Abgrund des Wassers schwebend, vor sich in der düsterer Nacht nur Sterne und Wellen.

Vielleicht kommen wir dem Rätsel der Beziehung zwischen dem Einleitungsteil (Galatea-Motiv) und dem Hauptteil des Gedichts näher, wenn wir Galatea als mythischen Namen der Nereide lesen – warum sonst sollte Horaz ihn gewählt haben? Galatea ist nicht nur als Tochter des Nereus den Abgründen der Tiefe verbunden, vor denen zu schaudern Europa gezwungen wird: Wir finden außerdem in der Beziehung Galateas zum Kyklopen Polyphem, dem einäugigen Ungeheuer, die Parallele der Beziehung der Europa zu ihrem Ungeheuer, dem weißen Stier.

Die Technik mit dem raffiniertesten und subtilsten expressiven Gehalt, die Horaz in dieser wie in anderen Oden verwendet, um den seelischen Zuständen und inneren Bewegungen seiner Protagonisten Ausdruck zu verleihen, ist die direkte Rede als Darstellung eines inneren Monologs oder Selbstgesprächs. Dabei nimmt die Rede der Europa dramatische Färbung an, insofern sie sich in der Konfrontation mit der Stimme des Vaters gleichsam überschlägt: Ist doch die Stimme des Vaters wiederum Teil des Monologs der Tochter, sodaß die Tochter dem Vater die Stimme leiht – eine Technik der Selbstverdopplung, die uns singulär anmutet.

Oder sollen wir sagen, daß schon der Monolog der Europa unterschwellig von der aus der Ferne grollenden Stimme des Vaters (wir sagen: aus der Tiefe ihres Inneren aufsteigenden Stimme des Vaters) gleichsam vibriert? Denn natürlich spricht hier die Tochter als pura virgo, als Tochter aus gutem Haus, die dem römischen pater familias untertan ist und ihm ihre Unschuld und jungfräuliche Unversehrtheit gleichsam als Pfand ausgehändigt hat. Sie hat dieses Pfand nicht nur ohne den Segen des Vaters entwertet, sondern darüber hinaus in sittlich verwerflicher Weise, indem sie sich einem wilden Tier hingab. Die Ungeheuerlichkeit, mit der hier die Tabuverletzung ausgetragen wird und die im Todeswunsch der Tochter und im Todesfluch des Vaters gipfelt, erinnert uns an die Vehemenz, mit der die geschändete Lucretia ihre verletzte Ehre als matrona mit dem Tod zu sühnen gedachte.

Fragen wir uns, wie ein römischer Mann von Schrot und Korn wie der Dichter Horaz, der ganz den Werten des mos maiorum sich verpflichtet fühlte und ihre Restaurierung an den gesetzlichen Maßnahmen zur Festigung der institutionellen Ehe- und Familienbande durch das Wirken des Augustus rühmte, wie ein solcher vir Romanus sich in die extremen Seelenlagen einer in äußerste Bedrängnis geratenen jungen Frau einzufühlen und sie mittels genauer Bezeugung durch das dichterische Wort zum Ausdruck zu bringen verstand.

Wir finden noch andere sublime Züge in der dichterischen Gestaltung: Europa fragt sich, ob sie vielleicht all das Schreckliche nur geträumt habe und sie Opfer eines Trugbilds geworden ist, wie es die Götter gleichsam mit unterweltlichen Heimsuchungen den Menschen antun. Wir kennen diesen Zug der Verleugnung an den psychotischen Reaktionen auf traumatische Erfahrungen.

Und die traumatisierte Frau ergeht sich nicht nur in quälenden Bildern der Selbstverachtung und Selbstbestrafung, sondern bricht aus in Rache- und Wutphantasien: So will sie den verruchten Stier mit einem Dolch zerfleischen, sie will ihm die Hörner brechen, ein Bild, das uns als Phantasie der Entmannung und Kastration zu lesen naheliegt.

Es liegt aber die Größe der Ode in der ironischen Kadenz. Sie breitet mittels einer für Horaz typischen Anti-Klimax ein heiteres und versöhnliches Licht auf die Szene, die wir nicht ohne ein Lächeln verlassen: Einer Wundererscheinung gleich, so wie der Retter des Märchens oder der Engel der Legende dem Bedrängten in höchster Not erscheint, tritt Venus Europa zur Seite.

Der Ernst des Geschehens verflüchtigt sich augenblicks im milden Schein ihres schelmisches Lächelns oder im grellen Blitz ihres ironischen Grinsens, gepaart mit der Epiphanie Amors, der lässig mit schlaffem Bogen sich an sie zu lehnen scheint: Das Liebeswerk ist ja vollbracht, Jupiter hat geliebt und gezeugt. Und wie in der Tragödie in der den Knoten lösenden Anagnorisis nimmt sie Europa die Binde von den Augen und offenbart ihr die Identität des furchtbaren Stiers, den höchsten Gott. Mit der Nennung des göttlichen Namens ist der Weg frei für die Versöhnung der gequälten Kreatur mit ihrem Schicksal. Horaz versüßt sie gleichsam ironisch mit der Aussicht für die Erwählte, nunmehr gern die Hörner des Tiers brechen zu dürfen.

Wir haben das antike Fabula docet in der gnomischen Sentenz, mit der Venus Europa mahnt, ihr Leiden als großes Schicksal anzunehmen: bene ferre magnam/disce fourtunam (74f).

Dürfen wir so kühn sein und fragen, ob mit dieser unvermuteten Wendung nicht die tiefste Schicht menschlichen Daseins berührt ist, die Möglichkeit einer Antwort auf das Lebensleid, die einen fernen Horizont übernatürlichen Lichtes eröffnet? Die geschlechtliche Verbindung zwischen dem Gott und dem Menschen, wie sie die Alten gesehen haben und die unserem nüchternen oder allzu verfeinerten Empfinden so fern, beinahe ins Unnatürliche und Skandalöse entrückt ist, birgt sie nicht das Symbol der Versöhnung mit dem Schicksal, wenn wir in ihm die wundersame Möglichkeit der Empfängnis der göttlichen Gnade mitten im Unheil des Lebens gewahren?

So verstehen wir vielleicht oder glauben wir die Vergewaltigung Europas als Hinweis auf die Verstörung der menschlichen Ordnung durch den Gott zu verstehen, der sie in eine andere Dimension, die Dimension der Fruchtbarkeit aus Gnade, entführt. Wie sollte sich anders als im Schwindel und Abgrundgefühl, wie es Europa über den bodenlosen Wassern empfand, der Zustand der Heimsuchung der seelischen Ordnung durch den Gott bezeugen?

Ist nicht die Entführung Europas auf der physischen Ebene, was die Entrückung, von der die Mystiker künden, auf der metaphysischen?

Was der irdische Vater verflucht, vermag der himmlische zu segnen.

Horaz bricht ab, die Worte der Venus verhallen – eine Antwort der Erwählten bleibt aus. Dies weist auf die stumme Grenze des heidnischen Geistes, der nicht mit der von der Gnade ergriffenen Auserwählten mit dem Ja, dem Dank und Jubel des Magnifikat zu antworten vermag.

Bleibt Europa starr vor Staunen zurück? Verwandelt sie sich wieder zurück in ein Kind, das schweigend Blumen pflückt am Ufer? Wäre sie innerlich gleichgültig geworden, dumpf und versteinert unter einem fremden Himmel, hätte Vater und Mutter, die Heimat und die Penaten vergessen?

Die Sage indes vermeldet, daß sie schwanger ward vom Gott. Was können wir noch sagen von dem, was in einem als Frucht aufginge aus so fremdem Samen?

Wir mögen uns verwundern oder ärgern an der Gewaltsamkeit des göttlichen Übergriffs. Doch die süßliche Allegorie von Amors Pfeil nehmen wir gelassen hin.

Wird nicht auch die Prophetin, die Sibylle, gleichsam von Apollon vergewaltigt, ihre Seele gewaltsam umgewendet, auf daß sie ihre Weissagungen verkünde? Erinnert dies nicht an den heiligen Wahnsinn dessen, der von sich sagte, ihn habe Apollon geschlagen?

Inspiration, eine Wunde, die singt.

 

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