Grammatik des Selbstbezugs
Unterwegs zu einer transzendentalen Semantik VI
oder: Warum sich Roboter nicht den Kopf waschen können
Roboter könnten sich auch dann nicht den Kopf waschen, wenn sie humanoide Roboter oder Androiden wären und genauso aussähen wie du oder ich und über eine mehr oder weniger prächtige Haarfülle verfügten. Würden sie in diesem Falle das Programm „Haare waschen“ exekutieren, wüschen sie sich nicht den Kopf in dem Sinne, wie DU DIR DEINEN Kopf und ICH MIR MEINEN Kopf wasche, sondern sie wüschen einen Kopf, irgendeinen Kopf, irgendeinen Gegenstand, den WIR als IHREN Kopf bezeichnen, einen Gegenstand, den sie SICH nicht als IHREN Kopf zuschreiben können, einen Gegenstand, der zufälligerweise die Kopfattrappe ist, die zu ihrem biologisch-technischen System gehört.
Betrachten wir Sätze, in denen das Selbstverhältnis ausgedrückt und abgebildet wird, das Selbstverhältnis, das gleichsam die Schulter des Atlas bildet, auf dem unsere Welt ruht, aber auch die Achillesferse, wo wir am leichtesten zu verletzen sind. Zum Abgleich stellen wir diesen Sätze andere Sätze zur Seite, die ihnen zwar ähnlich sehen, aber von anderer grammatischer und semantischer Struktur sind und daher kein Selbstverhältnis abbilden:
1.1 Hans wäscht Ulrike die Haare.
1.2 Ich wasche dir die Haare.
1.3 Du wäschst mir die Haare.
2.1 Hans wäscht sich die Haare.
2.2 Ich wasche mir die Haare.
2.3 Du wäschst dir die Haare.
In den Beispielsätzen unter 1 wird der Sachverhalt dargestellt, daß ein Akteur ein Objekt handhabt, das zum Körper des Handlungsadressaten gehört:
Akteur > Objekt (Adressat)
In den Sätzen unter 2 wird das Selbstverhältnis ausgedrückt und dadurch abgebildet, daß der Handlungsadressat in einer reflexiven Form des Personalpronomens und zwar jeweils im Dativ Singular benannt (sich, mir, dir) wird, das direkte Objekt wie gewöhnlich im Akkusativ (die Haare).
Grammatisch und semantisch entscheidend für den Ausdruck des Selbstverhältnisses ist der Umstand, daß das Reflexivpronomen das Pronomen ist, das sich auf die zugehörige handelnde Person (die erste, zweite oder dritte Person) bezieht und mit ihr natürlich im Numerus (und in reicher flektierenden Sprachen als dem Deutschen oder Englischen auch im Genus) übereinstimmt:
ich (mich)
du (dich)
er (sich)
Nicht unwesentlich ist zudem der Umstand, daß die syntaktisch geregelte Wortfolge nach der syntaktischen Grundeinheit aus Subjekt und Prädikat (Hans wäscht) zuerst die Nennung des Adressaten oder der Person (sich) vorschreibt und erst dann die Nennung des direkten Objekts (die Haare). Wir erkennen hierin eine syntaktische Hierarchie im Sinne des Vorrangs der Lebendigkeit, der Nähe und der Relevanz, der gemäß der lebendige Adressat zuerst zu nennen ist, insbesondere wenn er mit dem Subjekt des Satzes identisch ist, wodurch eben das Selbstverhältnis zum Ausdruck kommt.
Wir erkennen die singuläre Bedeutung des reflexiven Bezugs und seiner Darstellung mittels des Reflexivpronomens auch daran, daß wir in einem Satz mit reflexiver Bedeutung des Prädikates sein direktes Objekt wegnehmen oder durchstreichen können, ohne dadurch seinen Sinn prinzipiell zu verändern:
Hans wäscht sich (die Haare).
Wogegen wir den Satzsinn prinzipiell modifizieren, wenn wir statt des direkten Objekts das Reflexivpronomen durchstreichen:
Hans wäscht (sich) die Haare.
Denn dieser Satz läßt offen, wessen Haare Hans wäscht, seine eigenen oder die einer anderen Person.
Zur ausdrücklichen Darstellung selbsthafter Bezüge gelangen wir mit Sätzen wie:
1.1 Mir ist schwindlig. (Es schwindelt mich.)
1.2 Ich fühle mich gut.
2.1 Mir träumte.
2.2 Mir ist, als ob ich träume.
3.1 Mich dünkt, als sei ich hier schon einmal gewesen.
3.2 Es kam ihm so vor, als sei er hier schon einmal gewesen.
3.3 Ihm war nicht klar, ob er nicht vom Wege abgekommen sei.
3.4 Er war sich sicher, daß er den Schlüssel eingesteckt hatte.
4.1 Er wußte, daß er den Schlüssel eingesteckt hatte.
4.2 Ich weiß, daß dies meine Hand ist.
5.1 Die Melodie mutete ihn traurig (heiter, scherzhaft, grotesk) an.
5.2 Der Vers machte auf ihn den Eindruck des Traumhaften (Tänzerisch-Beschwingten, Rätselhaften).
6.1 Er konnte sich den Fehltritt nur schwer verzeihen.
6.2 Er fühlte sich verpflichtet, sein Versprechen zu halten.
Wir verwenden reflexive grammatische Konstruktionen dieser Art, um mentale Zustände auszudrücken, die zum Ich-Pol gleichsam offen oder transparent sind, oder um es anders auszudrücken, die das Selbstverhältnis mehr oder weniger durchscheinen lassen.
1 Dazu gehören Leibempfindungen wie das Schwindelgefühl oder die Qualifizierung des eigenen Befindens als gut oder schlecht. Wenn es dir nicht schwindelig wäre, wäre kein Schwindel vorhanden. Wenn du nicht derjenige wärest, dem es gut oder schlecht ginge, wäre an deiner Stelle niemand, der sich so der so fühlte. Wir bemerken, daß der Selbstbezug singulär ist in dem Sinne, daß er nicht von einem anderen vertreten oder repräsentiert oder simuliert werden kann.
2 Wir unterscheiden das Wachbewußtsein von den mentalen Zuständen des Schlafs, wobei auch der Traum selbsthafte Bezüge aufweist, die sich aber von denen unterscheiden, die in der Traumerzählung vorwalten. Wenn du dich an einen Traum erinnerst, in dem du dich verirrt hast, bist du es, der jetzt davon berichtet, der sich im Traum verirrt hat.
Das Gefühl des Wachen zu träumen verweist auf Grenzerfahrungen, wie sie uns die Psychose erschließt, bei der ein Ichzerfall mit dem Zerfall sprachlicher Strukturen einhergeht. Wenn der Patient Stimmen hört, die von nicht anwesenden Personen geäußert scheinen, ist er derselbe, der jetzt dem Arzt davon berichtet, wie der, von dem er berichtet, daß er Stimmen gehört habe. Das Ich mag sich, wie die Psychiatrie diagnostiziert, bis zu extremen Graden dekomponieren, aber es bleibt virtuell in der Person vorhanden, von der wir hoffen, daß die Therapie sie wieder rekomponiere.
3 Wir verfügen in der Sprache über das vielfältigste Referenzmedium oder Mittel des Weltbezugs, das uns die Realität unmittelbar erschließt: Wir wissen, daß der Satz „Schnee ist weiß“ wahr ist genau dann, wenn Schnee weiß ist. Die Identität des angeführten Satzes mit dem Satz ohne Anführungszeichen sehen wir unmittelbar. Zu sagen, „Schnee“ habe dieselbe Bedeutung wie Schnee, ist überflüssig und tautologisch. Doch das Referenzmedium oder Mittel des Weltbezugs unserer Erfahrung ist der sprachlich strukturierte mentale Zustand des Meinens, Glaubens oder Überzeugtseins, den wir mittels der obliquen Rede ausdrücken, in der unser mentaler Zustand des Überzeugtseins im Hauptsatz und der Inhalt unserer Überzeugung im Nebensatz ausgedrückt werden. Hier ist der semantische Unterschied von Extension und Intension relevant: Wenn Hans gestern im Park war, gilt immer, daß es unwahr ist, daß er gestern nicht im Park war. Doch wenn ich glaube, Hans gestern im Park gesehen zu haben, gilt nicht, daß daraus die Unwahrheit des Satzes folgt, Hans sei gestern nicht im Park gewesen.
Dabei kann unser Meinen unterschiedliche Grade aufweisen: vom bloßen Bedünken oder Vermuten bis zur starken Glaubensgewißheit. Wir bemerken, daß das Selbstverhältnis des Glaubenden zum Inhalt seines Glaubens durch die grammatische Konstruktion eines Hauptsatzes und des ihm mittels Konjunktionen wie „als ob“ oder „daß“ angefügten Nebensatzes oder durch einen Hauptsatz und einen ihm angefügten Infinitiv ausgedrückt wird, wobei wir die Subjektivität des Glaubensinhalts oder der Meinung durch Verwendung des Konjunktivs im Nebensatz verstärkend kennzeichnen.
Wir erkennen, daß Sätze über unser Meinen die wichtigsten grammatischen Formen darstellen, mit denen wir Selbstbezug und Weltbezug verbinden: Sie sprechen unsere Erfahrung aus.
4 Doch nur Sätze, in denen wir ein Wissen darstellen, drücken eine Erfahrung aus, deren Inhalt wahr ist oder einer Tatsache entspricht. Ob solche Sätze überhaupt mittels methodischer Verfahren gerechtfertigt werden können, ist eine offene Frage, denn jemand könnte sich freilich in dem täuschen, was zu wissen er annimmt wie in 4.1. Für den Rest der Fälle handelt sich meist nur scheinbar um eine Form des Wissens wie in 4.2, denn hier wäre die Annahme, nicht zu wissen, daß dies meine Hand ist, augenscheinlich sinnlos.
5 Aussagen über ästhetische Empfindungen und Wahrnehmungen drücken den Selbstbezug der Anmutung aus, bei der die Aussage über eine Anmutungsqualität, wie daß sich die Melodie heiter oder traurig anhört oder der Vers beschwingt ist, nicht den Anspruch erhebt, etwas Wahres über den Gegenstand auszusagen (denn eine Melodie kann ja nicht heiter oder traurig sein). Noch schreibt sich der Sprecher selbst die Anmutung zu: Denn eine Melodie als heiter oder traurig aufzufassen heißt nicht, selbst heiter oder traurig zu sein. Es heißt, sich vorzustellen, wie es wäre, aufgrund des Gehörten heiter oder traurig zu sein, oder sogar, wie es wäre, wenn ein anderer aufgrund des Gehörten heiter oder traurig wäre. Wir befinden uns im ästhetischen Raum möglicher oder virtueller Zuschreibungen von Anmutungsqualitäten, die aus dem realen Ich gleichsam ein mögliches oder fiktives Ich machen.
6 Aussagen über moralische Forderungen oder Verpflichtungen setzen einen Selbstbezug voraus, bei dem derjenige, der einer Forderung nachgekommen oder nicht nachgekommen ist oder ein Versprechen oder eine Verpflichtung einhält oder nicht einhält, eine Person ist, die sich sowohl mit der Person, die in der Vergangenheit die Verpflichtung eingegangen ist, als auch mit der Person, die morgen oder übermorgen ihr Versprechen erfüllt oder nicht erfüllt, identifiziert. Ein moralische Person zu sein heißt, derselbe zu sein, der beispielsweise vor zwanzig Jahren ein eheliches Treuegelöbnis eingegangen ist, und es noch heute zu halten gedenkt. Da die materielle Zusammensetzung der moralischen Person einschließlich der Neuronen ihres Gehirns heute nicht mehr dieselben Bestandteile aufweist wie vor zwanzig Jahren, kann die moralische Person und das Ich, das von seiner Verpflichtung spricht, nicht derselbe Gegenstand wie der Körper sein, aus dessen Mund der Satz geäußert wird.
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