Ichfarben und weltengrau
oder vom Unterschied zwischen Phänomen und semantischem Gegenstand
Ein Beitrag zur Philosophie der Subjektivität
Du kannst jedermann oder doch den Einsichtigen deiner Sprachgemeinschaft bedeuten, du habest Zahnschmerzen, wenn du sagst, du habest Zahnschmerzen. Die Verständigung über deinen Schmerz ist insofern unproblematisch, als du nicht davon ausgehen mußt, daß die anderen beim Erleben starker Lustempfinden das Wort gebrauchen, das du beim Erleben starker Unlustgefühle gebrauchst.
Aber jemandem den spezifischen Erlebnisgehalt eines Schmerzes zu vermitteln oder zu verdeutlichen, ist deshalb schwierig und meist unmöglich, weil dir hierzu die Beschreibungsmittel bald ausgehen – „ziehend“, „stechend“, „pulsend“, „hämmernd“, das sind letzte metaphorische Fluchtpunkte, hinter denen der Abgrund des Schweigens aus Beschreibungsschwäche und Sprachnot gähnt.
Stoßen wir beim Versuch, dem eigenen Erleben – und alles Erleben hat diesen Charakter, eigen oder gleichsam ichfarben zu sein – Ausdruck in welchem Mitteilungsmedium auch immer zu verleihen, nicht auf eine objektive, notwendige Grenze, diesseits derer das schweigende Selbsterleben und jenseits derer der Bericht und die Beschreibung des Erlebens stehen, die aus nichts als Wörtern gemacht sind, also Vehikeln der Mitteilung, von denen jede Spur des Selbstseins getilgt ist?
Wir geben dem Impuls nach, noch tiefer und radikaler zu fragen: Ist nicht die Idee, das subjektive Erleben philosophisch oder theoretisch beschreiben und erhellen zu wollen, konfus, widersprüchlich, sinnlos? Denn jede Theorie setzt die Dritte-Person-Perspektive voraus, und diese auf die Erste-Person-Perspektive anwenden zu wollen riecht nach einer ausgemacht faulen Sache.
Ist nicht eine wahre Fundgrube solch fauler Angelegenheiten die philosophische Terminologie, die beispielweise das kleine Wörtchen „ich“ durch das große Wort „Ich“, mehr noch: „das Ich“, glaubt ersetzen und adäquat übersetzen zu können?
Was passiert, wenn wir in grammatisch sonst wohlgebildeten Sätzen „ich“ durch „Ich“ oder „das Ich“ ersetzen? Wenn das eine Wort mit dem anderen bedeutungsgleich wäre, müßten der Sinn und der Wahrheitsgehalt der beiden Sätze, des ursprünglichen und des neugebildeten, identisch sein. Machen wir die Probe!
Wenn ich als Angeklagter vor Gericht stehe und angesichts der Folgen meines kriminellen Handelns reumütig mich zu meiner Tat bekenne, sage ich etwa:
Satz 1:
„Ich bekenne mich der Tat für schuldig.“
Satz 2a:
„Das Ich bekennt sich der Tat für schuldig.“
Da wir wissen, daß sich in grammatisch wohlgeformten Sätzen Substantive durch Pronomina ersetzen lassen, können wir Satz 2a in den Satz umformen:
Satz 2b:
„Es bekennt sich der Tat für schuldig.“
Wir haben hier eine ähnliche Umformung wie in folgender Reihe:
Satz 3a:
„Ich bekenne mich der Tat für schuldig.“
Der Gerichtsschreiber notiert:
Satz 3b:
„Er (der Angeklagte N. N.) bekennt sich der Tat für schuldig.“
Die Sätze 1 und 2 bzw. 3 sind der grammatischen Form nach ähnlich, aber ihre Wahrheitsbedingungen sind verschieden:
Satz 1 ist ein deklarativer oder performativer Satz, dessen Wahrheitsbedingungen erfüllt sind, wenn die sprechende Person unter normalen Bedingungen (bei mentaler Gesundheit, Glaubwürdigkeit und Sprachkompetenz) sich die Kausalität der genannten Handlung zuspricht und zugleich tatsächlich die Handlung vollzogen hat.
Satz 2 ist ein konstativer oder deskriptiver Satz, dessen Wahrheitsbedingungen erfüllt sind, wenn der genannte Täter die Handlung tatsächlich vollzogen hat (ob er sich dazu bekannt hat oder nicht).
Durch den deklarativen Satz verleiht das sprechende Ich dem Gehalt des Satzes Geltung, insofern es die Verantwortung für ein Handeln übernimmt, das von ihm ausgeführt worden ist. Leider können wir durch deskriptive Sätze die Wahrheit ihrer Aussage nicht garantieren; insofern muß der aktenkundige Satz, N. N. habe die Tat begangen, anderweitig durch Zeugenaussagen bestätigt, anhand von Indizien dokumentiert und verifiziert werden, gegebenenfalls kann er auch falsifiziert werden, wenn Zeugen ihm widersprechen. Indes wird er meist schlagartig verifiziert, wenn der Täter sich vor Gericht zu seiner Tat bekennt und sagt: „Ich bekenne mich der Tat für schuldig.“
Hier berühren wir einen weiteren Unterschied, der performative Ich-Aussagen von deskriptiven Aussagen erhellt: den Unterschied der epistemischen Erfüllungsbedingungen von Sätzen. Der schuldige Täter mußte sich nicht selbst beobachten oder langwierige und umständliche methodische Beobachtungen seines Innenlebens anstellen, um herauszufinden, daß er der Täter war. Er weiß es aufgrund der Tatsache, daß er sich daran erinnert, dann und dort die Tat begangen zu haben; während die Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei in der Tat manchmal langwierige und umständliche Methoden der Beobachtung und Analyse anwenden müssen, um dem Täter die Kausalität der Tat eindeutig nachzuweisen.
Der Täter muß den Tatvorgang nicht wie in einem inneren Film sich vor Augen führen, um darauf zu kommen, daß er es war, der die Tat begangen hat. Er erinnert sich daran, auch wenn er kein inneres oder mentales Bild, keine innere Repräsentation vor Augen hat, die seine Erinnerung als Erinnerungsbild stützt. Dagegen stützt sich die Staatsanwaltschaft mit Vorliebe auf bildliche oder auch akustische Dokumente wie Videoaufzeichnungen, Fotos oder Modelle des Tatorts und Tatvorgangs, um ihre Anklagepunkte zu untermauern.
Es führt demnach philosophisch in die Irre, das kleine Wörtchen „ich“ durch das große Wort „das Ich“ zu ersetzen, weil dadurch die wesentlichen Unterschiede der Satzfunktionen von performativen und deskriptiven Sätzen einschließlich ihrer unterschiedlichen Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen verwischt werden.
Die Tatsache, daß du nicht mit meinen Geschmacksknospen im Mund und in der Nase schmecken kannst, wie mir der Kuchen mundet, hindert dich nicht daran, zu fragen, wie mir der selbstgebackene Kuchen schmecke. Und eben dieselbe Tatsache hindert mich nicht daran, dir zu antworten „sehr lecker“ oder „für meinen Geschmack etwas zu süß“.
Es sei hier darauf aufmerksam gemacht, daß wir ab ovo aufgrund der leibgebundenen Struktur unserer Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken allesamt in einer subjektiven Welt leben und die Welt aus der Ich-Perspektive auffassen. Wir müssen uns nicht reflexiv in innerpsychische Abenteuer stürzen, um uns dessen zu vergewissern; jeder sieht die Welt gleichsam ichfarbig oder ichgetönt. Auch der Mond, von dem du nicht zweifelst, daß er weiter munter seine Runde dreht, wenn du dich umgedreht hast, um weiterzuschlafen, war dir soeben als visuelles Wahrnehmungsphänomen in der Jeweiligkeit, Kontingenz und raumzeitlichen Singularität deiner Ich-Perspektive gegeben, als du aufwachtest und ihn im Fenster erblickt hast. Und doch weißt du, daß es derselbe Mond ist, den bereits dein verstorbener Großvater gern betrachtet und auf seinen Nachtbildern festgehalten hat, und derselbe kosmische Gegenstand, den Menschen nach aufwendigen und riskanten Flugmanövern betreten haben.
Wir unterscheiden demnach die Welt, die uns phänomenal auf sensorischer Basis als Funktion unserer Empfindungen und Wahrnehmungen gegeben ist, von der Welt, von der wir etwas wissen oder zu wissen meinen. Mit dem Satz: „Ich sehe, wie in dieser Stadt ein Nebenfluß in einen großen Strom mündet“ formulierst du einen Wahrnehmungseindruck; mit dem Satz „Koblenz ist die Stadt, wo die Mosel in den Rhein mündet“ ein Wissen, das allen sprachbegabten Lebewesen unserer Art zur Verfügung steht, auch solchen, die blindgeboren sind oder nie in der Stadt Koblenz waren, um die geäußerte Tatsache selbst in Augenschein zunehmen.
Definition (1): Auf Basis unserer sensorischen Organisation erleben wir die Welt aus der phänomenologischen Ich-Perspektive. Auf Basis unseres Wissens oder unserer epistemologischen Perspektive erfahren wir die Welt als semantisch identifizierbare Gegenstände und Ereignisse.
Wir können die Lage einer Stadt auch durch Angabe der Längen- und Breitengrade angeben, um sie an deren Schnittpunkt genau zu lokalisieren. Aus dieser geographischen Angabe ist gleichsam jede Ichfarbe und Ichtönung oder jeder phänomenale Einschlag der Ich-Perspektive getilgt. Während Aussagen aus der Ich-Perspektive eine je eigene Färbung und Tönung mit sich führen, sind Aussagen über semantische Gegenstände gleichsam weltengrau, denn semantische Gegenstände sind gleichsam von Natur aus farblos.
Mittels der Verwendung von Namen verwandeln wir gleichsam die an den Rändern unscharfen phänomenalen Wahrnehmungsgegenstände in semantische Gegenstände unserer Aussagen über die Welt. Daraus folgt, daß jene phänomenale Instanz, die in unseren Aussagen die Stelle der ersten Person einnimmt, kein semantischer Gegenstand ist.
Definition (2): Was wir mit „ich“ meinen, ist eine phänomenale Urgegebenheit und kein semantischer Gegenstand.
Aus der Äußerung des Beschuldigten, er bekenne sich der Tat für schuldig, können wir nicht folgern, daß er die Tat begangen hat, und also nicht das Wissen ableiten, daß er die Tat begangen hat: Er könnte lügen oder die korrekte Verwendung der sprachlichen Wendung „sich zu etwas bekennen“ nicht richtig gelernt haben. Das heißt, performative Aussagen lassen sich nicht ohne weiteres in deskriptive Aussagen umformen. Nur wenn wir anhand anderer Belege die Glaubwürdigkeit und die Sprachkompetenz des Angeklagten zu Recht unterstellen dürfen, gilt uns sein Schuldeingeständnis für sachentscheidend.
Erst wenn die Aussage des Beschuldigten „Ich bekenne mich der Tat für schuldig“ ihren begründeten Niederschlag im Urteil des Gerichts findet, daß N. N. die Tat begangen hat, schreiten wir im besten Fall vom Phänomen zum Objekt, von der performativen zur deskriptiven Aussage. Dazu ist entscheidend, daß wir die Identitätsbedingungen des Gemeinten angeben können: Der Beschuldigte vor Gericht muß als mit der Person identisch gewußt werden, die zu dieser bestimmten Zeit an diesem bestimmten Ort die Tat begangen hat. Wenn N. N. die Tat zu dem bestimmten Zeitpunkt beispielsweise in der Stadt Koblenz begangen hat, legen unsere semantischen Regeln für die Verwendung von Namen eindeutig fest, daß der gemeinte Ort die Stadt ist, wo Mosel und Rhein zusammenfließen. Der Name „Koblenz“ steht in dieser Aussage nicht für einen schwer oder gar nicht identifizierbaren phänomenalen Gegenstand, sondern für einen semantischen Gegenstand, dessen Identitätsbedingungen wir angeben können.
Definition (3): Als natürliche Lebewesen existieren wir in einer subjektiven phänomenalen Welt, insofern wir mittels unserer sensorischen Rezeptoren Eindrücke von Dingen empfangen, deren Identitätsbedingungen wir nicht angeben und von denen wir demgemäß nichts Objektives wissen können. Als sprachliche Lebewesen existieren wir in einer objektiven Welt, insofern wir mittels der Verwendung von Namen und Begriffen für semantische Gegenstände etwas über Ereignisse in der Welt ausmachen, insofern ihre Identitätsbedingungen durch die Verwendungsregeln für Namen und Begriffe eindeutig bestimmt werden, sodaß wir von ihrer Existenz oder Nichtexistenz wissen oder immerhin zu wissen vermeinen.
Natürlich leiten sich auch alle Formen deskriptiver Aussagen und alles wirkliche oder vermeintliche Wissen in letzter Instanz aus dem intentionalen Pol oder Ur-Strahl der Ich-Perspektive ab: Gäbe es uns nicht als natürliche Lebewesen in unserer phänomenalen Welt, hätten unsere Wahrheitsansprüche, die wir mit deskriptiven Aussagen erheben, keinen Ursprungsort.
Wenn auch die Instanz, die wir mit der Verwendung des Personalpronomens der ersten Person bezeichnen, selbst kein semantischer Gegenstand ist, so ist ihre intentionale Kraft doch die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß es eine Sprache gibt, mit der wir auf semantische Gegenstände verweisen und den Übergang vom Phänomen zum Gegenstand bewältigen können.