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Konfusionen und Klärungen

31.01.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Manche älteren Männer wirken bodenständig, tüchtig, hirnschwielig, Beruf, Familie, Herkunft stehen solide hinter ihnen, und gesammelte Mineralien, Versteinerungen, Sanduhren auf den Regalen hinter dem Schreibtisch scheinen vom Herdfeuer einer gehüteten Passion zu sprechen. Man redet kopfnickend über den Krieg in der Ukraine und die Frage, ob das russische Reich einen autonomen Kulturkreis bilde und dies erweiternd über den Krieg überhaupt als historische Konstante. Doch plötzlich berührt man einen empfindlichen Nerv, ein Stichwort genügt, Seele oder Aura oder Metempsychose, und es scheint den biederen, pausbäckigen Kerl, der eben noch mit beiden Beinen auf der Erde stand, ein Schwindel zu ergreifen, er hebt ab, verliert sich in ein Tohuwabohu irrlichternder Begriffe, zwielichtiger Mythen, Wahnideen. Wittgensteins Memento, nicht über Dinge zu reden, die Schweigen gebieten, wird bei Strafe des schmählichsten Strauchelns und Taumelns ins Bodenlose mißachtet.

Spiegelbildlich dazu ist das Erlebnis, einen philosophisch Dilettierenden und Delirierenden mit einem rhetorischen Kniff, dem Stichwort „Perserkriege“ oder „Schwellenzeit“ auf den Boden des Sagbaren, begrifflich Erhellten, argumentativ Erfüllbaren zurückzuholen.

Wer zu viel überblickt, kann nichts mehr sehen. Dies ist das Verhängnis des spätzeitlichen Wucherns abstrakter Begriffe und universalistischer Ansprüche in Theorie, Politik und Moral.

Die begriffliche Konfusion, als könne man eine Moraltheorie universalistisch aufbauen und begründen, verkennt die fatale Eigenschaft unserer Begriffe, nicht vollständig durchsichtig zu sein und aus hübsch präparierten Puzzleteile kein ganzes, alles erklärendes Bild ergeben zu können; bei der Bildung von moralischen Begriffen verfahren wir schon nicht schlecht, wenn wir von Präzedenzfällen des Rechts und seiner Übertretung ausgehend zu Ähnlichkeiten menschlicher Verfehlungen in anderen Bereichen des Handelns gelangen, um hieraus probeweise Kriterien für unsere moralisch-kasuistische Urteilskraft abzuleiten. Doch abstrakte, allgemeine Regeln, Postulate, moralische Gesetze, die ungeachtet der spezifischen kulturellen und historischen Situation in allen Ecken und Winkel der Welt, allen Ländern und Kulturkreisen, zu allen Zeiten ihren eisernen Dienst für die Kritik und moralische Zurechtweisung ausüben könnten, suchen wir vergebens.

„Der Angriff Rußlands auf die Ukraine war ein imperialer Überfall und ist zu gemäß Völkerrecht zu ächten.“ – Doch in wessen Interesse und zu welchem Behuf wird dies Recht ausgelegt und beschworen? Warum soll es keine imperialen Ausdehnungen eines Großreichs geben, zumal der Angegriffene im Bündnis mit Fremdmächten sich längst bewaffnet und innerhalb des eigenen Territoriums Regionen unter Beschuß genommen hat, die Rußland wie die Krim und das Donezbecken nicht ohne historisch-strategischen Grund für sich beansprucht. Rußland weiß und fühlt sich seit Jahrzehnten durch die zunehmende Umzingelung durch die Westmächte bedroht, zumal deren Verbündeter oder Vasall, die Ukraine, die Option sowohl zur Mitgliedschaft in der EU als auch in der NATO zugesprochen erhielt. Je näher und länger man hinschaut, um so unklarer und zweideutiger wird die Lage, ein eindeutiger, moralisch unabweisbarer Grund, mit ins allgemeine Kriegsgeschrei auszubrechen, scheint nur moralisch überhitzten Gemütern (und ironischerweise darunter besonders kriegshysterischen Frauen) das absolute Gebot der Stunde.

Wir verstehen, wenn das Gesagte mit einer erhellenden Geste verbunden ist. „Dort kommt Peter!“ – Am Klang der Stimme erkennen wir, daß der Sprecher eine Begegnung unbedingt vermeiden möchte.

Ohne die begleitende Geste verstehen wir meist nur, was man Satzradikal nennen könnte, die semantische Hülle: „Der uns da entgegenkommt, heißt Peter“; aber dies ist im konkreten Falle nicht gemeint.

Die gewöhnliche Dummheit (den linken Handschuh über die rechte Hand stülpen zu wollen) ist harmlos gegenüber der philosophischen Konfusion und der kategorialen Verwirrung.

Die Konfusion in der modische Behauptung, was wir den freien Willen nennen, gründe in der Unberechenbarkeit von Quantenereignissen (im Gehirn).

Die kategoriale Verwirrung in der Identifikation von Physischem und Mentalem: „Das Gehirn denkt, rechnet, entscheidet, erinnert sich.“

Die Konfusion in der Verwechslung von Absicht und Voraussage: „Ich werde morgen kommen“– aber er kommt dann doch nicht, weil er verhindert ist, weil er dich belogen habe.

Die Verwirrung in der Identifikation von Ursache und Grund oder die begriffliche Unklarheit aufgrund der Äquivokation beim Gebrauch der Konjunktion „weil“: „Er hat ihn getötet, weil er sich paranoid von ihm verfolgt glaubte.“ – „Er hat ihn beleidigt, weil er ihn verachtete.“ – „Wir gehen nicht spazieren, weil es regnet.“ – Dagegen: „Wir gehen spazieren, obwohl es regnet.“

Daß es morgen regnen wird, können wir mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen, wissen können wir es erst, nachdem es geregnet hat.

Ein Modell dessen, was wir nach menschlichem Ermessen NICHT voraussehen können, gibt Thomas Mann in seinem „Zauberberg“: Alles sieht danach aus, als handele es sich bei dem Duell zwischen dem geschwätzigen Humanisten und eitlen Philanthropen und dem verkrachten Visionär des Untergangs und des reinigenden Terrors um eine zwar düstere, aber doch durch konventionelle Regularien abgesicherte Angelegenheit; dann aber zielt Naphta nicht auf den verhaßten Settembrini, sondern erschießt sich selbst.

Die Konfusion durch den Begriff der Ähnlichkeit: Der Sinn der naturalistischen und realistischen Malweise besteht nicht in der Ähnlichkeit mit den abgebildeten Dingen; denn die Blumen auf den Bildern, und wirkten sie auch wie Sinnestäuschungen, duften nicht und locken keine Bienen an.

Worin besteht die Ähnlichkeit zwischen dem Kruzifixus auf Golgotha und dem von Konstantin gebrauchten Kreuz als Siegeszeichen bei der Schlacht an der Milvischen Brücke?

Die begriffliche Konfusion in der Verwechslung von Negation und Abwesenheit: Der Freund, mit dem wir uns im Park verabredet haben, ist nicht gekommen. Doch die Situation, in der wir den Park als leer empfinden, obwohl er von Besuchern wimmelt, die Wege als labyrinthisch und den offenen Ausgang als zugeschlagenes Tor, ist nicht in der Feststellung enthalten, daß der Freund nicht gekommen und unsere Verabredung mißglückt ist, sondern in der mysteriösen Faktizität der Abwesenheit des anderen.

Die Konfundierung der Prädikate notwendig und hinreichend: Hätte man in einem Labor alle Bedingungen chemisch-physikalischer Natur hergestellt, die für das Entstehen von Leben notwendig sind, bliebe immer ungewiß, ob sie ausreichen, eine spontan reproduktionsfähige Erbsubstanz hervorzubringen. Genauso kann man sagen: Er hatte alle Chancen, beruflich erfolgreich zu werden, die Angebetete zu erobern, eine neue Erfindung zu machen, doch hat er sie leider nicht genutzt.

Die Konfusion in der Verwechslung der Begriffe „Ich“ und „Bewußtsein“ oder „Selbstbewußtsein“: Im leichten Gespräch, im seichten Geplauder, ja selbst bei der Befragung vor Gericht oder im gelehrten akademischen Diskurs wählen und setzen wir die Worte nicht nach reiflicher Überlegung und in einer vorbedachten bewußten Entscheidung; und dennoch werden unsere Verlautbarungen uns auf die Weise zugesprochen und angerechnet, daß wir sie zu verantworten haben und nötigenfalls auf Nachfrage zu bestätigen, zu begründen, zu rechtfertigen wissen. Wir sind es, die reden, aber zugleich konnte Heidegger mit gnomenhafter Schläue behaupten, es sei die Sprache, die spricht; denn die grammatische Struktur, die wir mit unseren Äußerungen gleichsam ausfüllen, reicht in Dimensionen, die sich unserem Bewußtsein entziehen.

Die Intuition ist das Senkblei, das die Tiefe unserer Erfahrung ermißt.

Was wir Seele nennen, ist die Atmosphäre, die um jede Person weht, und deren Vibrationen und Ausstrahlungen wir mit dem Seismographen und Lichtmesser der Intuition unmittelbar, vorbewußt, ohne Zuhilfenahme von sprachlichen Begriffen registrieren.

Die Äußerungen und Selbstdeutungen oder Selbstbilder einer Person können mit dem, was wir als ihre Ausstrahlung und Atmosphäre wahrnehmen oder wittern, bis zu Formen pathologischer Selbsttäuschungen in Widerspruch stehen.

Der eine sieht nur ein tropisch-wirres Geranke, der andere den Tiger, der darin lauert.

Die Lichtung in der Abendlanddämmerung, in der sie den irisierenden Zauberquell und die lunare Gestalt der Anmut hinterließen: Mozart und Goethe.

Die Sicherheit des Taktgefühls in den Versen Goethes, die einem durchsichtig schimmernden Gewande gleich die leisen Regungen noch der zartesten Empfindung erahnen lassen.

Kein poetisches Metronom vermag diesen Takt zu zählen.

Das Sprachgenie, das alle Regeln der Syntax und Semantik aus dem FF kennt, wird begriffsstutzig, wird dumm aus der Wäsche schauen, wenn es nicht ahnt, was es bedeutet, wenn die Geliebte sich in Schweigen hüllt.

Es gibt keine Regel, keine Konvention, keinen sprachanalytischen Feinschliff für die Mannigfaltigkeit der Situationen, in denen durch die Rinde des gemeinsam gewachsenen Verstehens gleichsam das Harz des Schweigen sickert.

Der Aspekt am Gesehenen, der uns unvermutet aufgeht, wie beim Umschlag des Hasenbilds ins Entenbild, kann nicht vorausgesehen, nicht vorausgesagt werden.

Die Pointe besteht nicht darin, daß uns ein Licht aufgeht, das einen Winkel, der im Dunkel lag, plötzlich erhellt, sondern darin, daß wir das Ganze in einem neuen Licht sehen.

Die Griechen sahen wohl das funkelnde Gewirr am nächtlichen Sternenhimmel, doch dann sahen sie die Sternbilder, den Orion, die Zwillinge, den Schützen, den Stier, den Wagen und all die anderen.

Physiognomisch sehen heißt ein Gesicht sehen, wo von einem Tier die Maske animalischer Funktionsbedeutung für Freund und Feind, Artgenosse und Beute, Drohung und Furcht wahrgenommen wird.

Das Gesicht ist ein Kryptogramm der seelischen Gestalt.

Die Landschaft, das Bild, das Gesicht – sie bleiben nicht unberührt von dem Blick, mit dem wir fragend oder findend, bestürzt oder beglückt darüber hinstreifen.

Die Konfundierung des Begriffs der Reflexion mit dem Modell der Spiegels; doch wir sehen uns nicht durch ein inneres Augen im inneren Spiegel unserer Gedanken, sondern sehen, wie die Landschaft, das Bild, das Gesicht den Blick zurückgibt, den wir auf sie werfen (oder es verwehren und unseren Blick gleichsam absorbieren und verschlucken).

Wir können oft, was uns an Gedichten der Meister rätselhaft vorkommt, durch noch so angestrengtes Deuten und Grübeln nicht ausfindig machen; dann werden wir der Sache überdrüssig, die lyrische Gestalt verblaßt, das fremdartige Gesicht zerrinnt, wir sind müde, dösen, träumen. Plötzlich schrecken wir auf und es wird uns klar: Ja, der Vater konnte das Kind vor dem Dämon, dem Erlkönig, nicht retten; er erweist sich als der väterlichen Güte und Macht überlegen. Und dies Dämonische und Unbezwingliche, welches der Kultivierung, Zähmung und Sublimierung sich nicht fügt, hat Goethe mittels dramatisch-epischer Verdichtung der Volkssage in ein symbolisches Bild verwandelt, gemäß dem das Dämo­nische in der Seele des Kindes liegt, also unser aller Seele.

Wenn wir alltäglich die Sprache wie den Hammer und das Zeug Heideggers gebrauchen, und sie dient unseren Zwecken und setzt deren Erlangung durch Unbotmäßigkeit oder kleine und größere Macken keinen Widerstand entgegen, bemerken wir nicht die Feinheit und Vielschichtigkeit ihres Aufbaus. So entgeht uns, wenn wir unseren Freund Peter mit seinem Namen herbeirufen oder er uns mit unserem, die außergewöhnliche Tatsache, daß wir überhaupt Namen haben und sie mit der Art unserer spezifisch humanen Lebensweise aufs innigste und nahtlos verknüpft und verwoben sind.

Plötzlich wird klar, daß, wer namenlos ist wie das Tier (denn unserem Hund gaben WIR den Namen und er versteht ihn nicht als Namen, sondern als klangliches Reizschema), nicht von sich reden kann, kein autobiographisches Gedächtnis oder die Möglichkeit hat, sich über die Kette der Namen seiner Ahnen mit der Geschichte zu verbinden.

Das Stöhnen und der Schrei sind Ausdruck und inhärenter Bestandteil des Schmerzes; der Ausruf des Erstaunens wie „Aha!“ oder „Na klar“ ist Ausdruck und inhärenter Bestandteil der Erkenntnis. Keins von beiden ist ein Bericht, eine deskriptive Darstellung, weder des Schmerzes dort noch der jähen Einsicht hier.

Die wir unvermutet in einem zerlesenen Buche finden, gepreßte Blüten, mögen eine Erinnerung heraufbeschwören, doch den Glanz, den Duft, die Heiterkeit des Tages, an dem sie gepflückt und ins Buch eingelegt wurden, hat sie eingebüßt.

Der Flügel des schöpferischen Augenblicks streift unversehens die Blätter, unter deren Schatten wir wandeln, und ein Schauer glänzender Tropfen geht auf uns nieder, der uns gleichsam aus dem somnambulen Schlendria durch die Dämmerung aufweckt.

Die Sprache wird saftlos, trocken, papieren, gerät sie unter die Herrschaft der intellektuellen Mandarine, die an den Schaltstellen der Ämter, der Katheder, der Redaktionen den Ton angeben. Schon wer eines ihrer porösen, durchsichtigen Blätter augurenhaft lächelnd oder silenenartig grinsend zwischen den Fingern reibt, daß es knistert und knirscht, macht sich verdächtig; die gar darangehen, sie mit zynischer Heiterkeit zu zerreißen und die Schnipsel auf die öde Chaussee der öffentlichen Meinung zu schütten, haben um ihren Ruf, ihre Stellung, ihre soziale Existenz zu fürchten.

Die ausgelaugte Sprache der Intellektuellen wird zum Fetisch, den die Pädagogen, Redakteure und Kirchendiener in öffentlichen Buß- und Gedenkzeremonien anbeten. Weh dem, der abseits steht und lacht, weh dem, der nicht krähend ins Knie bricht und den Staub der großen Wahrheit küßt.

Die Ablösung und Auflösung des schöpferischen Ausdrucks durch den toten Algorithmus ist der Pyrrhussieg der technisch-rationalen Zivilisation.

Der intellektuelle Jargon der Mandarine bewahrt uns vor den Flammen, in denen das Genie der Sprache das Erz der Dichtung aus dem Urgestein der Erde schmilzt.

Der subtile Gärtner pfropft das edle Reis auf die wild sich der Sonne entgegenreckenden Glieder des archaischen Stamms.

Jedes Ursymbol wurzelt, wie Spengler sah, im Boden einer ursprünglichen Landschaft. So auch die Dichtung, in der das Symbol meist unwillkürlich ausstrahlt. Der Dichter bildet, erfindet, konstruiert es nicht, das Symbol macht ihn sich untertan, es spricht und singt durch ihn, wie die Gesänge der Ströme in Hölderlins Hymnen.

Kein Wunder, wenn die gerodete, planierte, asphaltierte Landschaft keine Gesänge mehr hervorsprudeln läßt, sondern im besten Falle nur das Geheul der Klage über ihren Verlust.

 

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