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Mein Körper, dein Körper

04.01.2016

Unterwegs zu einer transzendentalen Semantik VIII
oder: Warum Roboter nicht sterben können

Ich sehe mein Gesicht (wie meinen Rücken) nur vollständig, wenn ich in den Spiegel schaue. Dein Gesicht ist ein wichtiger Ausschnitt meines Gesichtsfelds, sobald wir uns unterhalten oder sonstwie interagieren, denn in deiner Mimik spiegeln sich deine emotionalen Befindlichkeiten und deine Intentionen wider. Dagegen sind mir meine Wünsche oder Ängste, meine Absichten und Vermeidungsneigungen unmittelbar gegeben, ich muß sie von keinem äußeren Medium ablesen.

Wir sagen einfach: „Schau mal her!“, „Dreh dich um!“ oder „Sie rannte direkt auf mich zu“ und müssen nicht umständlich sagen: „Wende mir deinen Kopf zu!“, „Dreh deinen Körper um 180 Grad!“ oder: „Sie bewegte ihren Körper schnell in Richtung meines Körpers“, denn dieser umständlichen Umschreibungen bedarf es nicht, da wir bei Aussagen über das Handeln von Personen mittels Verwendung des Personalpronomens den Körper der jeweiligen Person miteinschließen, denn in jedem Selbstbezug ist die selbsthaft gegebene leibliche Präsenz immer schon mitgemeint.

Wenn wir uns treffen und einander die Hände reichen, spürst du den Druck meiner Hand als Druckempfindung deiner Hand, du fühlst nicht die Druckempfindung oder die Wärmeempfindung, die ich habe, wenn du meine Hand drückst. Und doch weißt du, was ich empfinde, wenn du zu stark zudrückst und ich spontan „Au!“ ausrufe.

Wir sehen unsere Körper anders an als andere Gegenstände in unserer Welt, weil sie anders als diese Dinge gleichsam auf der Oberfläche der Haut und der Oberfläche der Gesten, der Mimik, der Haltung den Hintergrund unserer Gefühle und Intentionen durchlässig oder transparent machen. Denn ich weiß, was mit dir los ist, wenn du hohläugig und hilflos dreinblickst und es dir die Sprache verschlagen hat, nämlich daß du dich von den Anforderungen deiner Umwelt überfordert fühlst und mit einem Angstzustand reagierst. Deine Augen und deine Mimik sagen mir, was dein Mund mir nicht eigens sagen muß.

Auch die Dinge unserer Umwelt sehen wir immer im Anschnitt und Ausschnitt unseres Gesichtsfelds, auch wenn wir wissen oder voraussetzen, daß sie sich nicht in nichts auflösen, wenn sie daraus verschwinden. Doch sind alle die Geräte und Häuser und Autos um uns in einen weniger intimen, in einen neutraleren Raum der Bezugnahme entrückt als es der ist, in dem wir mit den Körpern unserer Mitmenschen wohnen. Anders wieder geht es uns mit den Pflanzen und Tieren: Jene, die wir essen, scheinen uns seltsamerweise weniger nah und intim zu sein als die Pflanzen und Tiere in den Parks und Zoos.

Wenn ich dich einmal mit einer freundlichen oder gar liebenswürdigen Geste oder mit einem herzlichen Zuspruch oder mit einem harmlosen Scherzwort berühre und bewege, lächelst du, wenn mit einer groben Geste oder einem barschen Wort verstöre, machst du ein finsteres Gesicht, wobei mir sowohl dein Lächeln wie deine finstere Miene unmittelbar einleuchten. Es bedarf keiner Interpretationskunst oder mimetischen Hermeneutik, um uns auf der Ebene körperlicher Kommunikation und Interaktion zu verständigen.

Ein Ding unter Dingen wie das Handy oder die Kreditkarte oder die Einkaufsliste haben für uns im Gegensatz zum je eigenen Körper und zum Körper des anderen keine mentale Relevanz, sondern gehen ganz in ihrer alltäglichen Funktion auf, unseren Zwecken zu dienen. Wenn wir eine Bankkarte verlieren, sind wir verärgert und in unseren Alltagsroutinen eingeschränkt. Wenn uns der Tod einen geliebten Menschen entreißt, zeigt unsere Trauer, daß wir uns in unserem Leben selbst gemindert fühlen.

Daß wir ein Schicksal haben, können wir auch so ausdrücken, daß wir sagen: Als ein verkörpertes Selbst sind wir da, wo wir stehen und sitzen und liegen, sind wir so und so alt, sind wir so und so gesund oder krank, stehen wir mehr oder weniger fern von der Schwelle des Todes. Wir können dem Wissen, auf diese und keine andere Weise als wir selbst mit unserem Körper leben zu müssen, nicht entfliehen.

Auch die natürlichsten und elementarsten Körperempfindungen wie Hunger und Durst, das Schmerzempfinden oder das sexuelle Lustgefühl sind verselbstet: Wir sagen zwar etwa: „Mein Magen grummelt“ oder: „Ich nage am Hungertuch“, doch meinen wir dies nicht in der Weise, wie ein Meßgerät am Roboter anzeigt, daß seine Batterien neu geladen werden müssen. Wir meinen vielmehr einfach: „Ich habe Hunger.“ In der Wendung: „Mich dürstet“ erkennen wir die sprachliche Darstellung des Selbstbezugs mittels einer Reflexivkonstruktion.

Die Bedeutung der Verselbstung unserer Körperempfindungen zeigt sich auch in dem sprachlichen Umstand, daß wir von Sätzen wie: „Hier gibt es einen Körper, der Hunger hat“ oder: „Dieser Körper hier verspürt ein Hungergefühl“ nicht ohne weiteres zu den vollständigen Sätzen kommen: „Ich habe Hunger“ oder: „Peter hat Hunger“, denn auch mit einem Zusatz wie etwa: „Dieser Körper hier, der mit dem Namen Peter gerufen wird, hat Hunger“, kommen wir nicht zu der gemeinten Aussage, auch wenn du Peter hießest, bliebe ja unklar, inwiefern der Peter gerufene Körper DEIN Körper ist.

Ja, die Ipseität oder Verselbstung der Körperempfindungen ist so vollständig und integral, daß Aussagen wie: „Hier gibt es ein Hungergefühl“ oder: „Hier gibt es ein Schmerzempfinden“ logisch-semantischen Unsinn darstellen, denn in unserer Welt kann es keinen Hunger oder Schmerz geben ohne jemanden, der ihn hat.

Den meisten körperlich bedingten Vorgängen wie den Leibempfindungen, den unmittelbaren Wahrnehmungen oder den Krankheiten und Schmerzempfindungen sind wir wehrlos ausgesetzt und können nur gegebenenfalls auf sie reagieren, wie wenn wir ein Glas Wasser trinken, um unseren Durst zu löschen, oder uns von dem grellen Licht abwenden oder Medikamente einnehmen, um Selbstheilungsprozesse anzuregen oder unsere Schmerzen zu lindern.

Wenn wir sterben, erleiden wir den Tod meist infolge einer schweren unheilbaren Krankheit. Das Enden unseres Lebens erleben wir wohl in Zuständen der Entkräftung und Erschöpfung oder des allmählichen Nachlassens und Schwindens unserer geistigen Fähigkeiten, sodaß unser Orientierungssinn verblaßt und erlischt und unser Selbstgefühl farblos wird und sich soweit verdünnt, daß die Grenzen unserer Identität verschwimmen. Nur wir können in der Weise sterben, daß wir gleichsam das letzte Wegstück unserer Lebensreise zurücklegen, während Tiere, geschweige denn humanoide Roboter in diesem starken Sinne nicht sterben können, denn ihr Leben ist nicht von der Art, daß das Bild der Reise und des Weges auf sie zutreffen könnte.

Ob wir allerdings durch schwere Krankheiten wie Demenz und Alzheimer in unserem Selbstbezug so einschneidend alteriert werden, daß wir unser Sterben nicht mehr als unser Sterben erleben, sondern so sterben, wie Tiere verenden, bleibt eine offene Frage.

Sterbend scheinen wir uns in herausgehobener Weise selbst ausgesetzt zu sein, weshalb man die Einsamkeit des Sterbens betont. Doch dies ist ein Schein, denn wir sind immer so einsam, wie wir im Tode sind, nur daß diejenigen, die den Sterbenden begleiten oder beobachten, seine Lage als extreme Form der Vereinsamung auffassen, weil sie bemerken, daß das Sterben nicht prinzipiell aufgehalten, nicht stellvertretend vollzogen und nicht abgenommen werden kann. Das Unaufhaltsame, Unvertretbare und Nichtsimulierbare des Sterbevorgangs verstärken und verdichten den Eindruck der Einsamkeit des Sterbenden.

Doch unser Leben ist insgesamt von der Art, wie es sich im Sterben zeigt: Keiner kann es uns abnehmen oder stellvertretend für uns leben. Und doch gibt es mitten in der Einsamkeit und dem Dunkel der menschlichen Existenz die Mächte der Liebe und Freundschaft. Ja, es ist geradezu die Bedingung ihrer Möglichkeit, daß wir sind, wie wir sind, einsam in unserer Haut und gleichsam der Haut unseres Selbst, einsam und ausgesetzt den Unbilden oder dem Schabernack, den unvorhersehbaren Volten und Pirouetten des Schicksals, des großen Abenteurers, Spielers und Narren.

Indes ist die Bedingung der Möglichkeit für Liebe und Freundschaft, nämlich die Tatsache der selbsthaften Einsamkeit und schicksalhaften Jemeinigkeit des Menschen, in eben dem Maße auch die Bedingung der Möglichkeit für ihr Gegenteil, Haß und Feindschaft. Tiere hassen nicht, sie richten, ausgelöst von instinkthaften Verhaltensstimuli, ihre Aggression gegen den Angreifer oder die Beute. Der Hungernde, der seinem Mitgefangenen im Lager aufs Haupt schlägt, um ihm den letzten Krümel zu rauben, muß den Beraubten nicht hassen, um die Tat begehen zu können. Der instinktive Anteil unseres aggressiven Handelns erschöpft und erklärt nicht das fanatische und abstrakte Element im menschlichen Haß. Vielleicht ist es die Annahme, der andere habe ein bevorzugtes Schicksal, wie die Annahme Kains, das Opfer seines Bruders Abel finde Wohlgefallen und das Leben Abels sei leicht und gesegnet durch die Gnade von oben, jene Annahme, die Kain zu seiner Mordtat inspiriert hat.

Wenn das stärkere Affenmännchen das schwächere in der Position des dominanten Hordenführers und Befruchters der Weibchen ablöst, auch wenn dies nicht ohne brutale Maßnahmen abgehen mag, wird sich das abgesetzte und in der Hierarchie abgesunkene Männchen bald mit seiner neuen Position abfinden. Die Verstörung, die der gedemütigte, herabgesetzte und erniedrigte Mensch an sich erfährt, ist tiefgreifender: Er will nicht mehr sein, der er ist, er ist in seinem Selbstverhältnis verstört und irritiert. Deshalb sind Formen der Demütigung, von der Verspottung über die Bloßstellung und Verhöhnung bis zur körperlichen Mißhandlung, Entstellung und Vergewaltigung, die ganz gewöhnlichen Strategien im Umgang mit dem Feind.

Liebe bedeutet Fürsorge. Ihre Taten tuen Gutes nicht nur dem, der es verdient, sondern auch demjenigen, der es sich eigentlich wegen ungehörigen oder schlechten Verhaltens verscherzt hat. Die Liebe versöhnt den Schlechten daher mit sich selbst, indem sie ihm Verzeihung gewährt und vergibt.

Wir leben und sterben, wie wenn ein Reisender aufbricht, unterwegs unvorhergesehene Ereignisse und Abenteuer erlebt, sein Lebensziel während der Reise neu erwägt oder in Frage stellt, neu entwirft oder verwirft, vielfach Abzweigungen und Umwege nimmt, schließlich an einer Stelle unversehens auf ein unüberwindliches Hindernis trifft oder die aktive Führung des Lebens aufgibt und gleichsam das Ruder fahren und sich einfach von den Wellen des Lebensstromes forttragen läßt – wir leben als solche, die unterwegs sind, auch wenn wir uns immer wieder in die Reservate unserer Kultur einnisten, die wir Heimat nennen. Denn wir reisen auch im engsten Zimmer, und im engsten Zimmer zu zweien, wenn wir miteinander reden oder interagieren.

Tiere und Roboter sind nicht in dem Sinne unterwegs, wie wir lebend unterwegs sind, auch wenn Tiere vieles erleben und starke Eindrücke haben mögen, ihre Erlebnisse und Eindrücke werden dennoch nicht gleichsam als jene synthetische Einheit des Zeiterlebens gebündelt, die uns ermöglicht, uns an die Stationen, Strecken, Abzweigungen und Abenteuer unserer Lebensreise zu erinnern und von ihnen zu erzählen.

Roboter können nicht sterben, weil sie gleichsam unsterblich sind: Wir können uns denken, daß ihre schadhaften Teile immer wieder ausgetauscht und ihre Softwareprogramme stetig gewartet und auf den neuesten Stand gebracht würden. Doch Wesen, die nicht sterben können, wie wir sterben, haben keine Geschichte, existieren geschichtslos und ohne Erinnerung. Insofern ist es ein mehr als befremdliches Ideal, zu erwarten oder gar mittels logischer Scheinbeweise nachweisen zu wollen, daß die Seele des Menschen, losgelöst von jeder Verkörperung, unsterblich sein oder ewig weiterexistieren könnte. Wenn es solche unsterblichen Seelen gäbe, stünde von vornherein fest, daß WIR solche Wesen NICHT sein können, denn die Endlichkeit unseres Weges ist gerade dasjenige, was mit der selbsthaften Weise unseres Lebensvollzugs notwendig verbunden ist.

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