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Paradox

02.11.2015

Oder wie wir der semantischen Hydra entkommen

Wenn jemand aufgrund seiner Beobachtung annimmt und äußert, es befänden sich drei Leute im Zimmer, ist nicht sofort und immer klar, ob es in Wahrheit vier sind, weil er vergessen hat, sich selbst mitzuzählen, oder ob die Angabe richtig ist.

Betrachten wir die Aussage und verallgemeinern sie so, daß bestimmte Beobachtungssätze nur dann gültig sind, wenn der Beobachter die Beobachtung auf sich selbst anwendet. Der Beobachter äußert seinen Beobachtungssatz in der Sprache S, in der er von den beobachteten Objekten, sich eingeschlossen, behauptet, daß sie sich im Zimmer befinden.

Wenn wir sagen, daß der Beobachter auf diese Weise, nämlich wenn er sich bei seiner Beobachtung der Anzahl von Personen in einem Raum selbst mitgezählt hat, richtig gezählt und demnach eine wahre Aussage über seine Beobachtung gemacht hat, äußern wir eine Aussage über die Beobachtung und den Beobachtungssatz, die wir als richtig oder wahr kennzeichnen. Die Sprache, die wir benutzen, um die sprachliche Äußerung des Beobachters als wahr zu kennzeichnen, nennen wir die Metasprache MS zur Objektsprache S.

Der Satz p ist wahr in S.
MS sagt aus über S.

Wir befinden uns ironischerweise mit der Metasprache MS über S in einer ähnlichen Situation, wie der Beobachter, der bei der Zählung der im Zimmer befindlichen Personen vergißt, sich selbst mitzuzählen. Denn zu sagen:

Der Satz p ist wahr

impliziert die Aussage:

Es ist wahr, daß der Satz p wahr ist

und diese die Aussage:

Es ist wahr, daß es wahr ist, daß der Satz p wahr ist.

Es ist mit der Sprache so wie mit den Beobachtern, die sich selbst und sich gegenseitig beobachten: Es hat kein Ende, weder im Unendlichen der finiten Zahlen noch im Überunendlichen der transfiniten Zahlen, wir können jeder Beobachtung ihre Beobachtung und jeder Sprache ihre Metasprache hinterherschicken.

Hier scheint nur die Alternative zu fruchten: Entweder verbieten wir als strenge Bedenkenträger den Aufstieg zu weiteren Metasprachen nach MS1 oder wir werfen die Kennzeichnung einer Aussage als wahr zum alten Eisen und bekennen uns zu einem fröhlich-bedenkenlosen Relativismus. Den metasprachlichen Aufstieg zu verbieten ist reine Willkür. Den Wahrheitsbegriff zu verwerfen führt in die noch tiefere Paradoxie, etwas zu behaupten, von dem man gleichzeitig weiß und behauptet, daß man nicht berechtigt ist, es zu wissen und zu behaupten.

Was machen wir, wenn folgende Aussage auftaucht?

Der Satz, daß alle Sätze falsch sind, ist wahr.
Alle Sätze sind falsch.

Dann hat uns die Paradoxie am Schlafittchen: Wenn alle Sätze falsch sind, dann auch der Satz, der diese Wahrheit ausspricht, also ist es keine Wahrheit und der Satz ist wahr. Daher widerspricht er sich selbst.

p: Alle Sätze sind falsch.
Daraus folgt: p und nicht-p.

Oder was tun mit dieser seltsamen semantischen Hydra:

Für alle Sprachen gilt: No (sentence of one) language can be translated in (a sentence of) another language.

Wenn die Regel im Englischen aufgestellt ist, scheint sie nicht für das Deutsche zu gelten, denn sie behauptet ja implizit, daß kein Satz einer Sprache in einen Satz einer anderen Sprache übersetzt werden kann. Wenn die Regel also für das Deutsche nicht gilt, gilt sie nicht für alle Sprachen. Also widerspricht sich die Regel selbst.

Wo sehen wir den Ursprung der Paradoxie, wo liegt bei alledem der Hund begraben? In der Unmöglichkeit, über den Begriff von Sätzen oder der Sprache überhaupt verallgemeinern zu können, also im Begriff „alle Sätze“ oder „alle Sprachen“. Wir können keinen vollständigen und konsistenten Begriff von allen Sprachen bilden, denn dann sind wir in der törichten Position unseres Beobachters, der vergessen hat, sich selbst mitzuzählen. Aber wir benötigen ja eine Sprache, um den Ausdruck „alle Sprachen“ bilden zu können, und diese Sprache können wir, anders als der Beobachter, der, zur Einsicht gekommen, sich selbst mitzählt, nicht selbst mitzählen. Denn würden wir uns selbst mitzählen, gelangten wir zu dem Ausdruck „alle Sprachen plus 1“. Und wie die Hydra, der zwei Köpfe nachwachsen, wenn man ihr einen abgeschlagen hat, gelangen wir sogleich zu dem Ausdruck („alle Sprachen + 1) + 1“, was im Ausdruck mündet „alle Sprachen + n“, wir kämen an kein Ende!

Wie könnte ein Entkommen vor der Hydra aussehen? Wir könnten die Anwendung des Wahrheitsbegriffs regionalisieren und lokalisieren und damit auf der einen Seite an unserem Urteil über die Wahrheit und Richtigkeit einer Aussage in einer Region und auf einer Ebene festhalten, ohne uns damit aber auf der anderen Seite zu verheben und ihre Richtigkeit und Wahrheit für alle Sprachen und alle Ebenen zu beanspruchen.

Wir können in der Folge nur kleine und begrenzte semantische Hierarchien zulassen, die die besondere Qualität haben, sich gegenseitig zu überlappen. Wir können den Beobachter beobachten und den Sprecher verstehen, wenn wir sie von unserer Region und Ebene aus betrachten, die nicht bedeutungsäquivalent sind mit ihrer Region und Ebene, sondern mit ihrer Region und Ebene eine gemeinsame Teilmenge bilden.

Und so scheint es sich in der Tat zu verhalten, wenn wir von der alltäglichen Praxis unserer Sprachverwendung ausgehen. Um deine Bitte um ein Glas Wasser zu verstehen, muß ich nicht einen extraterrestrischen Standpunkt einnehmen, um mir die Bedeutungsgleichheit des Begriffs Wasser in allen Sprachen der Welt vor Augen zu führen oder alle Verwendungen des Begriffs, die dein Sprachgebrauch impliziert, etwas, was wie gezeigt nicht nur praktisch unmöglich, sondern auch theoretisch ausgeschlossen ist.

Doch wenn du deine Bitte um ein Glas Wasser aussprichst und dabei auf die Kanne mit Milch zeigst, weiß ich, daß bei deiner Verwendung des Begriffs etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Ich kann deine Sprachverwendung korrigieren, weil wir nun einmal die Bedeutungen „Wasser“ und „Milch“ ordentlich auseinanderhalten, muß deshalb aber nicht von einem extraterrestrischen Standpunkt aus dekretieren, daß deine Sprachverwendung aus dem Grund nicht richtig ist, weil es sich in allen Sprachen so verhält. Warum sollte es nicht eine Sprache geben, in der sich die Bedeutungen von Wasser und Milch überlagern?

Im Unterschied zu den paradoxen Folgen des Ausdrucks „alle Sprachen“ können wir unter Einhaltung gewisser Bedingungen beim Ausdruck „alle Mengen“ einer definierten Anzahl von Mengen von Paradoxien verschont bleiben. Und die Mengentheorie ist sprachunabhängig und gilt in allen Sprachen. Wir können die Gleichmächtigkeit zweier Mengen dadurch bestimmen, daß wir jedes Element der Menge A auf je ein Element der Menge B abbilden. Das gilt für beliebig viele Mengen. Also auch für die Mengen aller Mengen, die gleichmächtig sind. Sie ist demnach gleichmächtig mit den in ihr enthaltenen Mengen. Die Mengen der natürlichen und der rationalen Zahlen sind aufeinander abbildbar und daher gleichmächtig. Die Menge dieser beiden Mengen ist demnach gleichmächtig mit den in ihr enthaltenen Mengen. Für Sätze und Sprachen gilt dies wie gesehen nicht: Denn der Satz, der über alle Sprachen geht, gehört einer Sprache an, die semantisch mächtiger ist, als die Sprachen, über die er reicht und aussagt.

Dies gilt auch für die sprachliche Verwendung der Negation, der Junktoren, der Quantoren und der logischen Implikation: Sie durchqueren wie universelle Paßwörter alle Sprachen. Wenn es auf der Gegenerde eine Flüssigkeit gibt, die genauso aussieht und schmeckt wie Wasser, aber kein H2O ist, und alle Menschen ausschließlich diese Flüssigkeit trinken, und wenn es auf der Gegenerde eine Flüssigkeit gibt, die weder so aussieht noch so schmeckt wie Wasser, in Wahrheit aber H2O ist, und alle Vögel trinken entweder von der einen oder anderen Flüssigkeit, dann trinkt dort kein Mensch Wasser und einige Vögel trinken Wasser.

So kommen wir zu Ludwig Wittgenstein und seinem Begriff des Sprachspiels in einer Lebensform zurück. Bekanntlich bilden Sprachen wie Spiele keinen univoken und einheitlichen Begriff, sodaß es von vornherein ausgeschlossen ist, den paradoxen Begriff des Spiels aller Spiele und der Sprache aller Sprachen oder den Begriff „alle Sprachen“ definieren zu wollen. Ich kann nicht gut gleichzeitig Fußball spielen und Patience legen. Ich kann nicht mit einer musikalischen Komposition die Topographie einer bestimmten Landschaft darstellen, wenn wir hier von gewagten Metaphern einmal absehen wollen. Die Regeln, die beschreiben, wie ich in die Absatzfalle gerate, sind andere Regeln als die, die mir anweisen, wie ich eine musikalische Modulation durchführe oder das Thema einer Fuge engführe oder in den Krebsgang bringe.

Sollen wir auf den Begriff der Richtigkeit der Anwendung sprachlicher oder repräsentationaler Mittel im Allgemeinen verzichten, weil es kein Superregeln für alle Spiele und Sprachen gibt? Doch gäbe es solche Superregeln, benötigten wir Super-Super-Regeln, die uns anwiesen, wie wir die Superregeln anzuwenden haben.

Wenn ich mir eine Übersicht über die Landschaft, die ich gerade durchwandert habe, verschaffen will, besteige ich einen Berg und halte Umschau. Ich bin als Beobachter Teil der Landschaft, die ich beobachte, und gewahre, daß der Bach, den ich überquert habe, tatsächlich die Dörfer zu verbinden scheint, durch die ich gegangen bin, was ich unterwegs nicht bemerkt habe. Ich kann nicht gleichzeitig sehen, was mir im Rücken liegt, sondern muß mich dazu umwenden, wobei die Vorderansicht verschwindet.

Wenn ich mir zu Hause meinen Wanderweg auf einer topographischen Karte anschaue, bin ich als Beobachter nicht mehr Teil der Landschaft, kann aber, was ich auf dem Berg stehend in Teilansichten gewahrte, nunmehr in einer Totalansicht betrachten. Ja, ich kann meine Annahme, der Bach verbinde nur die Dörfer, durch die ich gegangen bin, anhand der Karte korrigieren, denn in Wahrheit läuft er in einem großen Bogen an einer weiteren Ansiedlung vorbei, die meinem Rundblick verborgen geblieben war.

Eine topographische Karte kann mehr oder weniger genau, detailreich und angemessen die reale Gegend repräsentieren, sie kann auch Fehler enthalten, die wir anhand präziserer Karten oder von Fotographien aus dem Flugzeug korrigieren können. Aber wir wissen nicht, was es heißen könnte, topographische Karten am Maßstab einer Super-Karte messen zu wollen, einer Karte, die die Landschaft auf vollkommene und ideale Weise abbildete.

Wenn du als Schüler auf die Frage nach der Winkelsumme im Dreieck richtig mit 180 Grad geantwortet hast, war dann deine Antwort insofern richtig, als sie dir eine schlechte Note erspart hat oder einen Vorteil in deiner schulischen Karriere, oder war es umgekehrt, du hast am Ende eine gute Note bekommen und deine schulische Laufbahn mit Bravour bestanden, weil deine Antworten im Schnitt mehr richtig als falsch waren? Etwas richtig zu tun und zu sagen ist deshalb für uns von lebenswertem Vorteil, weil es richtig ist, der Maßstab des Richtigen kann nicht der Vorteil sein, den wir mit unserem Tun und Reden einheimsen, denn so mancher baut seine Karriere auf einer faustdicken Lüge auf, während ein anderer im Schatten steht, weil er das Richtige getan und gesagt hat.

Wir bemerken, daß wir die semantische Hydra wohl aus der Höhle formaler Sprachen zu verbannen vermögen, wenn wir sie als Objektsprachen konstruieren, deren semantische Werte wir in ihrer Metasprache formulieren. In den informalen Sprachen wie unserer Muttersprache können wir immerhin das Risiko, von der Hydra unversehens gepackt zu werden, durch den Vorteil kompensieren, daß wir Fragmente oder Probestücke ihrer Semantik als Teil ihrer selbst formulieren können. Nichts hindert dich, mich in meiner Sprachverwendung zu korrigieren, wenn ich die Mehrdeutigkeit des Wortes „Gipfel“ in meiner Aussage: „Er hatte den Gipfel seiner Karriere erklommen“, nicht bemerke oder nicht auflöse, wenn es sich um die Karriere eines Bergsteigers handelt. Ebenso darf ich dich darauf hinweisen, daß du im Irrtum bist, wenn du annimmst, das Gegenteil von „alle“ sei „kein“ und nicht „einige“, denn wenn die Kinder nicht alle Kastanien eines Baumes aufgesammelt haben, haben sie doch einige aufgesammelt.

Wenn es auch keine Metasprache aller Sprachen gibt, sind wir deshalb nicht auf isolierte Sprachinseln verbannt. Denn wir können eine noch so exotische Sprache in unsere Muttersprache übersetzen und uns im großen und ganzen verständigen, weil sowohl die semantischen Funktionen der Bedeutung und die richtige Anwendung sprachlicher Konventionen als auch die semantischen Funktionen der Negation, der Satzverknüpfungen durch „und“ und „oder“, der Quantoren „alle“ und „einige“ und die logische Implikation alle Sprachen gleichmäßig durchqueren, auch wenn wir keine Hoffnung haben, durch Übersetzungen jeweils ein exaktes Gegenstück des fremden Idioms zu unserer Sprachverwendung nach Hause holen zu können.

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