Philosophieren XXIII
Unsere sinnlichen Eindrücke lassen sich mittels angemessener Ausdrücke auf Skalen des Mehr oder Weniger, des Stärker oder Schwächer, des Größer oder Geringer, des Höher oder Tiefer abtragen. Denn es ist der sinnlichen Erfahrung eigentümlich, eine Empfindungs- oder Gefühlsqualität wie dunkel und licht, weich und rauh, süß und sauer, hoch und tief, erhaben und flach mit einem quantitativen Maß zu spezifizieren.
Dieser Kaffee schmeckt bitterer als der, den du mir gestern gebraut hast. Diese Kirschen schmecken sauer, der säuerliche Geschmack ist aber bei weitem nicht so intensiv wie der einer Zitrone. Diese Iris changiert in den Farbwerten ihrer Blütenblätter von einem rötlichen Blau bis zu einem bläulichen Violett. Das Gemälde zeigt eine südliche Landschaft im Abendlicht – die Dämmerung sinkt hernieder, der blass durchschimmernde Mond ist von Dunst umhüllt, die eigentliche Nacht aber ist noch fern.
Jene Passage in der Sinfonie von Bruckner klingt wegen des Vibratos der Geigen weich, doch dieser Eindruck des Weichen und Sanften wird vor dem Hintergrund der plötzlich einbrechenden schroffen und schnellen Staccati in den Blechbläsern erschüttert. Das Trompetensignal in der Sinfonie von Mahler macht mir einen so unabweisbar-triumphierenden, herrisch-strahlenden Eindruck der Intensität, als könne er durch keinen intensiveren Eindruck übertroffen oder ausgelöscht werden – es scheint mir der intensivste Eindruck dieser Art, den ich je hatte.
Wir nuancieren und raffinieren unsere Ausdrücke für sinnliche und ästhetische Eindrücke, indem wir sagen: Deine Hand ist kühl im Vergleich mit der Sommerhitze, das Bier ist eiskalt, der Wein hat Zimmertemperatur, die Suppe ist lauwarm, die Nudeln sind brühwarm, die Esse ist glühendheiß. Das Stillleben macht einen unterkühlten Eindruck, der Schauspieler hat keine Miene verzogen und gab den eiskalten Charakter des Mörders gut wieder, das Kitschgemälde mit Motiven aus der Welt der Zigeuner verströmt die schwülen Dünste vulgärer Sinnlichkeit.
Mit Hilfe der grammatischen Funktionen der Bildung des Komparativs, des Superlativs und des Intensivums der Adjektive und Adverbien können wir unsere Ausdrücke für sinnliche und ästhetische Eindrücke in Hinsicht auf ein Mehr oder Weniger, Höher oder Tiefer, Lauter oder Leiser, Wärmer oder Kälter, Intensiver oder weniger Intensiv auf sinnfeldbezogenen Skalen einer relationalen Metrik der Empfindung und des Gefühls ein- und abtragen.
Du hörst, dass dieser Ton höher klingt als der zuvor gehörte, du hörst dass der dritte der Reihe höher klingt als der zweite, der nächste Ton aber, hörst du, klingt von den vier Tönen der Reihe am höchsten. Du kannst nicht nur den Höhenunterschied der Töne hören, sondern auch feststellen und schlussfolgern: Wenn der jetzt gehörte Ton höher klingt als der zuvor gehörte, muss der nächstfolgende Ton, der höher klingt als sein Vorgänger, auch höher klingen als der zuerst gehörte Ton. Wir können deine Höreindrücke und die Richtigkeit der Verwendung der Ausdrücke für deine auditiven Eindrücke überprüfen, indem wir die Töne von einem Tontechniker mittels elektronischer Tonaufzeichnungsgeräte auf dem PC-Screen auf einer Tonskala objektivieren und urteilen, ob du richtig oder falsch lagst mit deinen Zuschreibungen.
Wenn du die vier Töne hintereinander hörst und hörend ihre Tonabstände und Höhenunterschiede ermisst, hörst du nicht nur eine willkürlich anmutende Reihe von Tönen, sondern eine Melodie oder den Anfang einer Melodie. Das rührt daher, dass du den Bogen des Hörens als zeitlichen Vorgang und als Einheit eines zeitlichen Vorganges sinnlich wahrgenommen hast – und Melodien sind als Zeitverlauf gehörte Töne. Spontan vermögen wir einer beliebigen Abfolge von Tönen den Charakter einer scheinbar künstlerisch gewollten Melodie zu verleihen, indem wir die Reihe der Töne als Zeitgestalt wahrnehmen.
Alle sinnlichen Eindrücke und alle ästhetischen Eindrücke sind in einen Zeitverlauf eingebettet und nehmen eine Zeitgestalt an. Hier kannst du dem Ursprung des menschlichen Zeitempfindens und des subjektiven Zeitbegriffs nachspüren. Du hältst Kühlung suchend die Hand in den Bach. Die heranströmenden Tropfen üben eine mehr oder weniger starke Druckempfindung auf deiner Haut aus, die du mit dem Tastsinn erfasst. Der in sehr kleinen Zeitabständen fluktuierende Wechsel dieses Mehr oder Weniger der Druckempfindung gestaltet sich dir spontan als mitempfundener Zeitverlauf. Der visuelle Eindruck der Bewegung von Wolken oder im Wind bewegten Wipfeln der Bäume, von einer sich intensivierenden oder abschwächenden Lichtquelle wie bei der Morgen- und Abenddämmerung, vom Auf und Ab der Meereswellen und vom Kommen und Gehen der Tiede, von den zu- und abnehmenden Phasen des Mondes oder der Scheinbewegung der Sonne haben wir je schon in Zeitgestalten von kurzen oder langen Dauern, von Tag und Nacht, Monat und Jahr eingebettet.
Wanderers Nachtlied
Johann Wolfgang von Goethe
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Der ästhetische Eindruck eines Gedichts wie des Goetheschen „Wanderers Nachtlied“ muss gewiss anhand der verwendeten sprachlich-poetischen Techniken und Formen wie der metrischen Einheiten, Reimformen, Lautverwandschaften oder der symbolischen Werte der gebrauchten Begriffe im Einzelnen analysiert und überprüft werden. Dabei gilt es indes, die Einheit der dichterischen Töne in der Zeitgestalt mit zu bedenken und zu ermessen. Die Zeitgestalt wird determiniert durch die Zeitformen der verwendeten Verben. Hier zeigt sich: Alle Zeitformen des Goetheschen Gedichts determinieren die unmittelbare Gegenwart, außer den beiden letzten. Die neutrale Aussage der ersten beiden Verse stellt dir unvermittelt die Situation vor Augen: Es ist Abend, du bist hochgestiegen, du hast den Gipfel der Wanderung, des Tages, des Lebens erklommen. Im vierten Vers wirst du unmittelbar auf dein aktuelles Gefühl angesprochen, dieses Spüren wird dir unmittelbar unterstellt und suggeriert. Was du spürst, ist ein Weniger an Intensität des Erlebens, des Hörens und Sehens, des Fühlens und Leidens, als es der gewesene Tag, das verdämmernde Leben dir abverlangt hat. Was du in der Ruhe des Entrücktseins vom Lärm des Tages und von den bunten Melodien des Lebens noch spürst, ist weniger laut, weniger stark, weniger intensiv als ein bloßer Windhauch. Mit dem folgenden Vers wird im Äußeren vorweggenommen, was dir geschieht, wenn das Weniger als ein Hauch zu nichts weniger als einem verhauchten Stummsein wird, wenn die Stille und das Schweigen vollkommen werden. Die beiden letzten Verse sprechen dich wiederum unmittelbar an: Gesteigert von der feststellenden Aussage zur persönlichen Aufforderung und Beschwörung: zu warten, dass bald auch du zur dir dann ganz anheimgefallenen, innerlich gewordenen Ruhe finden wirst. Das Raffinement des Gedichts zeigt sich darin, dass die mittels der Zeitformen evozierte Zeitgestalt gleichsam nach oben unabgeschlossen ist und nach hinten oder vorne eine Öffnung hat: Du wirst aufgerufen zu warten, auf dass auch du bald Ruhe fändest. Die dichterische Zeitgestalt mündet also in die Erwartung, gewährt deinem Spüren gleichsam eine Mündung in die nächste Zukunft, die dir gnädig bereitet ist: die gefühlte, schon greifbare, nahe und nächste Erfüllung.
Wir sind auch darauf geeicht, den Anfangs- und Endpunkt einer Bewegung in einer Zeitgestalt zu verknüpfen und zu verdichten: Du stehst auf einer hohen Terrasse und kannst Front und Hinterhof des gegenüberliegenden Hauses einsehen. Ein auffallend elegant gekleideter, junger, dunkelhäutiger Mann, mit Glacéhandschuhen und breitkrempigem Hut, einen scheckigen Dalmatiner an der Leine, betritt das Haus durch den vorderen Haupteingang. Dann siehst du, wenige oder einige Zeit später, den elegant gekleideten Mann mit dem Dalmatiner das Haus durch den Hinterausgang verlassen. Du sagst dir, es müsse derselbe Mann sein, der vor Kurzem das Haus betrat, und er müsse eine gewisse Zeit gebraucht haben, um den Weg vom Ein- zum Ausgang zurückzulegen. Wie immer du an letzter Gewissheit bei der Angabe der Identität des Mannes zurückbleiben magst (du kannst von deinem entfernten Beobachtungsposten aus nicht mit letzter Gewissheit ausmachen, ob es sich um den denselben Mann handelt, dazu bedürfte es genauerer Beobachtungs- oder Messverfahren) – um die Gewissheit der Annahme des Zeitverlaufs ist dir nicht bange, denn: Wenn derselbe Mann den Eingang betritt, der auch später den Ausgang nimmt, muss er eine Zeit gebraucht haben, um den Weg zu gehen. In solchen Fällen musst du demnach, um das ganze Stück der Zeitgestalt in Händen halten zu können, die spontane Verknüpfung der sinnlichen Eindrücke des Anfangs- und Endpunktes einer Bewegung mittels der Hypothese der Identität des Gegenstands ergänzen.
Die Nuancierung, Differenzierung, Abschattung unserer sinnlichen Eindrücke führen uns in den Intimbezirk der sinnlich-ästhetischen Qualifizierung: Du hörst jeden einzelnen Ton als Element einer aktuell mitgegebenen Obertonreihe, aber auch als Element einer virtuell mitgegebenen Tonreihe, die präzise Gestalt annimmt, wenn du mindestens drei Töne der Reihe vernommen und in die Zeitgestalt einer harmonischen Reihe eingebettet hast: Dann nämlich bist du in der Lage, den zuerst gehörten Ton einem Tongeschlecht, einer Tonart wie A-Dur oder g-Moll, zuzuordnen.
Auf der Leinwand siehst du auf durchgehend schwarz grundierter Fläche nur da und dort, wie absichtslos hingestreut, winzige Lichtpunkte oder helle Tropfen aus dem Hintergrund aufschimmern. Das Gleichgewicht kippt, wenn du des purpurn-gelblich schwelenden Flecks in der rechten oberen Bildecke gewahr wirst. Auge, Tastsinn und Gleichgewichtssinn sind gleichzeitig und gleichsinnig aufgerufen, das Dargestellte zu decodieren, und so gelingt es dir. Du erfährst, dass die scheinbare Gleichsinnigkeit und Ruhe der Tröpfchenwelt immerdar oder gerade jetzt ins Ungleichgewicht oder in Gefahr gebracht wird durch eine schmutzig-magische Sonne, ein Licht der Unruhe, der Ungewissheit und der Schmerzen. Dabei bildest du spontan die Zeitgestalt eines zunächst ruhigen Dahingleitens, wenn du von links nach rechts das Bild mit Blicken abtastest, und eines plötzlichen stürzenden Ablaufs, wenn du in die Nähe des feindseligen Gestirnes kommst. – Wir sehen jeden Farbtupfer als Element auf der Skala ihm mehr oder weniger ähnlicher Farbwerte und zugleich auf der Folie der Kontrast- und Komplementärfarben.
Das Bonmot, Architektur sei gefrorene Musik, hält näherer Betrachtung nicht stand. Wenn man sagte, Architektur sei sichtbare Musik, käme man der Wahrheit vielleicht näher. – Du siehst gleichsam ertastend an dem tragenden Pfeiler der romanischen Basilika die drückende Last, die ihm der Rundbogen des Daches aufbürdet, du ertastest mit Blicken die Spannungskräfte, die der Pfeiler von oben nach unten und von unten nach oben weitergibt und austauscht. Du siehst mit dem Auge und zugleich mit dem Tastsinn. Und mehr noch: Die Säule meistert mit ihrer wuchtigen Form gleichsam die Aufgabe, unter den erschwerten Bedingungen des Spannungs- und Lastenausgleichs aufrecht und gerade zu stehen. Du siehst also nicht nur mit dem Auge und dem Tastsinn, in den sinnlichen Eindruck des Gesehenen ist gleichsam auch der laufende Kommentar des Gleichgewichtssinns mit eingeschrieben und einverwoben. Ja, noch mehr: Am besten ertastet du mit Blicken die Elemente der Architektur wie Säule, Bogen und Kuppel, wenn du dich um die Dinge herumbewegst, wenn du die unsichtbaren Druck- und Spannungsfelder der tragenden Elemente und die luftig-graziösen Gesten der getragenen gleich sichtbar und fühlbar gewordene Auren der Dinge wahrnimmst. Dabei kann es dir geschehen, dass du angesichts der unter Spannung stehenden, unter Druck ausharrenden Säule innerlich einen Klang zu vernehmen wähnst, der sich aus der Übertragung des Stimulus des visuellen Systems ins auditive System spontan gebildet hat. Du siehst, was du siehst, nicht nur, sehend hörst du es auch.