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Philosophieren XXXIII

24.08.2013

Ein Dach ruht sicher auf vier tragenden Wänden. Nimmst du eine weg, bleibt die Sache noch stabil, auch wenn es ungemütlich werden kann. Bei zwei Wänden könnte das Dach noch halbwegs getragen werden, aber dann steht dir von vorn und hinten oder von links und rechts die Unbill von Wind und Wetter ins Haus. Was geschieht, wenn nur eine Wand noch hält, müssen wir uns nicht ausmalen.

Nimm in diesem Bild das Dach als den Sinn und Zweck gemeinsamen Redens und Tuns, die uns in so unterschiedlichen Formen wie einer harmlosen Unterhaltung, in Struktur und Management eines Unternehmens oder im Aufbau und der Verbreitung einer religiösen Gemeinschaft entgegentreten. Das Dach ist das merkwürdige, scheinbar luftig-abstrakte und dennoch so unheimlich wirksame Etwas, das entsteht, wenn du und ich oder wir und ihr uns zusammentun, um zu heiraten und eine Familie zu gründen, eine Kirche zu stiften, eine Firma oder eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung aufzubauen.

Das Dach ist die verkörperte Vernunft der durch unser gemeinsames Reden und Tun begründeten Institution. Die Mauern sind die vier elementaren Komponenten und Faktoren der Grundsituation des Redens und Tuns: Abgegrenztheit des Gegenstands, auf den sich unser Reden und Handeln bezieht, Reziprozität und Transparenz der beiderseitigen Erwartungen, Eindeutigkeit der Situation und Bestimmtheit und Festigkeit unserer Absichten, zu reden und zu handeln.

Bekanntlich kann man das Bild vom Dach und den Mauern auch umkehren und sagen, im Falle von Institutionen trage das Dach die Mauern: Nur in ihrer wechselseitigen Verknüpfung finden die elementaren Komponenten der Situation gemeinsamen Redens und Tuns den Raum ihrer vollen Entfaltung. So etwa, wenn wir beide eine kleine Firma gründen, sagen wir eine Zoohandlung mit ein paar Haustieren wie Vögeln und Nagern, zur Hauptsache aber Artikeln für den Bedarf des Haustierhalters wie Nahrung, Streu, Sand, Spielzeug für Tiere, Käfige usw. Mit dieser Begriffsbestimmung haben wir bereits den Gegenstand, auf den sich unser gemeinsames Reden und Tun bezieht – unsere erste tragende Wand –, klar abgegrenzt: Handel mit Artikeln für den Bedarf von Haustierhaltern. In dieser Form erscheint der Gegenstand auch in der Satzung der Firma als Unternehmenszweck und in der Urkunde, die wir beim Notar beglaubigen, der das neue Unternehmen am Registergericht der Stadt und Kommune eintragen lässt.

Nun könntest du mit mir an einen Schlawiner und kleinen Gauner geraten sein, der die Firma nur als Vorwand nutzen will, um mit dem GmbH-Vertrag wedelnd und dem Geschäftsführergehalt auf dem neuen Konto bei der Bank mit einer solchermaßen leicht erschlichenen Bonität einen möglichst großen Kredit zu ergattern – und mit dem abkassierten Geld das Weite zu suchen. Ich hätte dich darin getäuscht, dass mein Begriff des Gegenstandes unseres gemeinsamen Redens und Tuns derselbe wäre wie dein Begriff – aber das war nicht der Fall, denn ich verfolgte einen anderen Zweck mit ihm als du. Solltest du meinen geheimen Absichten auf die Schliche kommen, bevor es zu spät wäre, tätest du gut daran und handeltest vernünftig, mich wegen des Betrugsversuchs vor die Tür zu setzen. Der Sinn und Zweck unseres gemeinsamen Redens und Tuns wäre damit verlorengegangen, das Dach der Vernunft über der Institution Firma hat ein Loch bekommen.

Was ist nun im rechten Falle der Gegenstand, der Begriff, das Unternehmen? Sind es wir beide als Unternehmer, sind es der Verkaufsraum und das Büro, die Verkaufsartikel oder das Geld in der Kasse und auf der Bank? Keins von alledem und auch nicht alles zusammen. Das Unternehmen ist das einigende Band aller Teilmomente, das nur dadurch zustande kommt, dass wir, die sprechenden und handelnden Aktoren, uns gegenseitig bestätigen, dass dieser ominöse, abstrakte Gegenstand namens Firma tatsächlich existiert. Wenn wir es tun und danach handeln, tun es auch unsere Kunden, unsere Lieferanten und unsere Hausbank. Sobald einer der wichtigen Aktoren sein Veto einlegt und die Existenz der Firma bestreitet oder leugnet, betreibt er ihren Untergang: Kunden gehen bekanntlich nicht zu Läden, deren Existenz sie leugnen, Lieferanten beliefern nichtexistente Abnehmer nicht mit Waren und Banken versehen nichtexistente Klienten nicht mit günstigen Krediten.

Wenn die Sache mit rechten Dingen zugeht, erwartest du von mir, was ich von dir erwarte – die zweite tragende Wand: dass wir uns um den Fortbestand der Firma kümmern, pünktlich unser Termine wahrnehmen, die Verwaltungsarbeiten sorgfältig und akkurat erledigen, die Buchhaltung regelmäßig überprüfen und mit dem Steuerberater abgleichen, die rechtlich verordneten Bestimmungen über Hygieneschutz, Impfmaßnahmen und Sauberkeit einhalten und die Lager- und Verkaufsräume von einem Beamten des Gesundheitsamts überprüfen und abnehmen lassen, gut ausgebildete und qualifizierte Fachkräfte in Vorstellungsgesprächen auswählen, die neuen Angestellten mit ihrem Arbeitsumfeld vertraut machen, Lehrlinge und Azubis ausbilden, wenn wir ausbildungsberechtigt sind, beziehungsweise eine Ausbildungsberechtigung bei der IHK und dem Arbeitsamt erlangen, auf arbeitsrechtliche Bestimmungen wie Sicherheitserfordernisse und Urlaubsansprüche achten, uns um Werbe- und POS-Maßnahmen kümmern, die Lieferanten mit Bestellungen neuer Artikel beauftragen, den Verkaufsraum reinigen und dekorieren und mit neuen Artikeln versehen und die Kunden freundlich und fachlich engagiert bedienen. Wir tun gut daran, unsere beiderseitigen Erwartungen zu harmonisieren und genau aufeinander abzustimmen, zu synchronisieren und zu vertakten und zum Beispiel auf einem Monatsplan präzise festzuhalten, was wer wann zu tun und zu erledigen hat.

Liegen wir mit unseren reziproken Erwartungen quer und überkreuz und bürdest du mir Arbeit auf, die eigentlich du zu erledigen hättest und umgekehrt, ist der Wurm in der Sache und auf unserem Unternehmen ruht kein Segen. Die Saat des Streits und aufreibender Auseinandersetzungen ist ausgestreut, sobald sich die beiderseitigen Erwartungen in Bezug auf das, was es gemeinsam zu bereden und zu tun gibt, widersprechen, auslöschen oder neutralisieren.

Hinsichtlich der geforderten Eindeutigkeit der Situation – die dritte tragende Wand – können wir, sollte man meinen, schlecht in die Irre gehen, handelt es sich doch schlicht und ergreifend um die Gründung und Führung einer Firma in der Rechtsform einer GmbH mit genau abgestecktem Unternehmenszweck und Unternehmensgegenstand. Sollte ich oder du nicht völlig darüber im Klaren sein, um welche Situation es sich handelt, wäre ich oder du entweder so furchtbar dumm oder so unrettbar verrückt, dass ich oder du geistig nicht in der Lage und völlig überfordert wäre, eine Firma zu gründen, geschweige denn vernünftig zu führen, oder ich oder du müsste wegen geistiger Beschränktheit oder Demenz für unzurechnungsfähig erklärt werden, was zur Folge hätte, dass ich oder du die Berechtigung verlöre, eine Firma zu gründen und zu führen.

Hinsichtlich der geforderten Bestimmtheit der Absichten der beteiligten Aktoren – die vierte tragende Wand – kann die leider allzu verbreitete Janusköpfigkeit menschlicher Affektlagen auch in unserem so hoffnungsfroh begonnenen Unternehmen ein- und durchschlagen. Wenn du mir heute noch nachträgst, dass die Frau, die wir vor vielen Jahren beide begehrt und geliebt haben, sich schließlich für mich entschieden und mich geheiratet hat und dir trotz guten Willens und bester Absichten, mit mir eine Firma aufzubauen, immer wieder die böse Absicht in die Quere kommt, dich wegen der damaligen Zurücksetzung schadlos zu halten und zu rächen, wirst du die für das Gelingen unseres gemeinsamen Unternehmens nötige Bestimmtheit und Festigkeit der Absicht, die Firma mit mir vernünftig zu führen, am Ende nicht durchhalten und beherzigen, sondern früher oder später das schmale Dach ökonomischer Vernunft über uns zum Einsturz bringen.

Wir sprechen von Vernunft und meinen keine Sache in deinem oder meinem Kopf, auch wenn man öfters einmal Köpfchen haben muss, um Vernunft walten zu lassen. Die Vernunft ist eine in Institutionen und Einrichtungen wie Liebe, Freundschaft, Kameradschaft, Ehen und Familien, Unternehmen und Verwaltungen, Kirchen und Gemeinden verkörperte Struktur reziprok abgestimmter Erwartungen und Absichten hinsichtlich des Aufbaus und der Erhaltung einer gemeinsamen Situation des Redens und Tuns.

Aber ist Liebe nichts Irrationales, eine Gefühlsgeschichte bar jeder Vernunft, wirst du vielleicht fragen. Das ist das romantisch verkürzte Verständnis des Begriffs, nach dem sich zwei Liebende in die Eremitage einer Passion des gegen- und wechselseitigen Redens und Tuns einschließen. Die zur Vernunft offene Liebe ist ein Bündnis oder Pakt auf der Grundlage des Versprechens, einander dafür Sorge zu tragen, die im Spiele befindlichen beiderseitigen Erwartungen und Absichten auf die geteilte Grundsituation des Redens und Tuns abzustimmen. Das erfordert gelegentlich den Einsatz erhöhter Aufmerksamkeit füreinander, das Überwinden und Umgehen von eingetretenen Hindernissen oder von Herzen kommende Hinweise auf erfreuliche, erheiternde, beglückende Blickachsen und Aussichten. Je näher sich die Liebe an der intimen Passion ansiedelt und je ferner der öffentlich deklarierten Ehe, desto fragiler und durchlässiger für die Unbill der Witterung ist ihr schmales Strohdach der Vernunft. Oft genügt ein Funke des Missverstehens, des bösen Willens oder bloßer Laune, und es steht in hellen Flammen.

Die Vernunft von Ehe und Familie ist im Kind verkörpert, das Kind ist der eigentliche Sinn und Zweck der Grundsituation gemeinsamen Redens und Tuns, um die es dabei geht. Das Kind bedarf der Hut und Pflege, der Ernährung und Erziehung, mit einem Wort der Verantwortung der Erwachsenen. Für einen Schwächeren und Anlehnungsbedürftigen Verantwortung tragen heißt, seine Lebensbedürfnisse wahrzunehmen und zu befriedigen, sein Verlangen nach Aufmerksamkeit, emotionale Nähe und Bestätigung zu erfüllen und ihm die Gelegenheiten und Möglichkeiten der Entfaltung und Reifung seiner Persönlichkeit mit einem Weitblick und einer klugen Voraussicht in Aussicht zu stellen, über die das Kind noch nicht verfügt. Die Abstimmung der beiderseitigen Erwartungen und Absichten und die Definitionsmacht über die Grundsituation liegen bei den Eltern, die sich darüber zu verständigen haben, dass und wie sie das geteilte Thema Erziehung gemeinsam schultern. Wenn ein Elternteil den Bund bricht und die Erwartungen des anderen enttäuscht und andere Absichten als die vernünftig ausbedungenen und erforderten im Schilde führt, handelt er unvernünftig, gleichgültig was ihm die Leidenschaft insinuiert und ins Ohr flüstert. Schließlich pflegt auf diese Weise das Dach der Vernunft über dem Haus der Ehe und Familie abgetragen zu werden.

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