Skip to content

Schalen und Früchte

23.08.2016

Die Härte der Schalen von Eicheln oder Schildkröten: Wehrhaftigkeit des Lebens, Wille zu dauern und zu überdauern. Aber jede Schale muß geöffnet werden oder einen Ausgang zulassen: Nur so gelangt der neue Samen an andere Orte, nur so krabbelt die Kröte ihres Weges, knabbert am Blatt, kann sich paaren.

Krankheit als Verschalung und Verkrötung der Seele: der Panzer der Melancholie, der Starrsinn der Katatonie, das undurchdringliche, unwiderlegbare Wahnsystem des Paranoikers.

Bei Annäherung des Feindes, bei feindlicher Berührung kapselt sich der Igel in seine stachlige Rüstung.

Wenn sich die Welt voller Dämonen oder als Raum dämonischer Mächte offenbart: die Abkapselung und Einmauerung der irischen Mönche.

Die asketischen Lebensformen des Fanatikers, des Partisanen, des Terroristen bilden sichtbare oder unsichtbare Schalen, unter denen er seine geheimen Pläne ausbrütet oder auf deren Innenseite er seine Attentatsphantasien kritzelt.

Auch in die abgedichtete Zelle der Stille bohrt der Dämon ein winziges Loch, durch das er das feine Rohr obszöner Geräusche steckt.

Wie die Muschel um ihre versehrte Stelle die harte Perle läßt die mißtrauisch gewordene Seele um ihre Wunde die harte, undurchdringliche Kapsel ihrer Maske wachsen.

Je verstörter der Mensch, umso maskenhafter seine Mienen, umso geisterhafter seine Gesten.

Die Stacheln der Akazie. Woher weiß sie um die Weichheit der Zunge von Zebra und Giraffe?

Alkohol und Rausch als Schalen der empfindsamen Seele.

Die Fruchtschalen und Fruchtbecher der Blumen und Pilze, die explodieren, wenn der Finger des Winds darüberstreicht.

Die schalenlos-ungeschützte Lebensfrucht der Mikroben hält das Gleichgewicht des Daseins durch meeresdunkle Verborgenheit und chaotisches Gewimmel.

Nacktheit, Blöße, Schalenlosigkeit als Gefahr.

Schwelle, Tor und Fenster als verletzlichste Punkte des individuellen und des politischen Körpers.

Das Labyrinth als Schale und Versteck: Es kann den feindlichen Eindringling in die Irre führen, in die Verzweiflung, in den Wahn. Doch muß es mindestens zwei Eingänge haben: So werden die Anstrengung und die Angst der Überwachung verdoppelt, vervielfacht. Kafka hat dies erfaßt in der genialen unvollendeten Erzählung „Der Bau“.

Die närrischen, absurden, verzweifelten Versuche, sich vor dem inneren Feind, dem Tod, in einer undurchdringlichen Schale zu verbergen, wie hinter der glorios glänzenden Marmormaske des eigenen Namens.

Tollwütige Exzesse der Wollust, um in der Kapsel und Zitadelle der Macht oder des Imperiums das Beben nicht wahrhaben zu wollen, das den Untergang heraufbeschwört – oder jenes Scharren von Füßen vor der Tür, jenes Pochen an der Wand …

Die Seele, die nicht schlafen kann: Sie hört den Feind im Rauschen des Winds, der Gräser, des Wassers, im Klappern der Fensterläden, im Wehen des Vorhangs.

Auf dem Wachtposten stehen und nicht einschlafen dürfen: die Daseinsform der provozierten Seele.

Versöhnung beruht meist auf Verleugnung. Die Kraft läßt nach, das Schlafbedürfnis ist unwiderstehlich, die Tür steht sperrangelweit offen: Da scheint die blaue Nacht herein und die eindringenden Dämonen lächeln, bevor sie tödlich zuschlagen, mit einemmal wie gute alte Freunde.

Nur im einigermaßen sicheren Raum der Liebe und der Freundschaft lockern wir uns, lugen wir wie die Kröte mit ihrem wackelnden Kopf aus dem Panzer hervor, gehen wir aus uns heraus. Doch auch Liebe und Freundschaft sind Schalen, die durch Abschirmung, Exklusivität und verschlossene Türen oder geheime Orte die Schatten ferner rücken, die Zunge lösen, die Lider schwerer werden lassen.

Die politische Ordnung: die Riesenschildkröte des Staats.

Wenn man allerdings die Kröte der politischen Ordnung ihrer harten, wehrhaften Schale beraubt, zerfällt der Staat – zuletzt bleibt ein Gewusel emanzipierter Triebtäter, die sich gegenseitig bei lebendigem Leibe auffressen.

Diejenigen, die der Kröte Staat den Panzer rauben wollen, gerieren sich als Menschenfreunde, als Hüter der Humanität und als milde Vertreter einer universalistischen Moral, sorgen aber mit ihrem scheinbar harmlosen Geschwätz für die Zunahme der Gewalt, der Rohheit, der Barbarei.

Humanistisch gesinnte Köpfe wähnen, das Ethos von Liebe und Freundschaft solle möglichst weit und tiefgreifend auf die politische Ordnung ausgedehnt werden. Sie vergessen dabei, daß auch Liebe und Freundschaft von den Schalen der Obhut, Intimität und Exklusivität umhüllt und geschützt werden; sie vergessen zudem, daß die souveräne Macht in ethischen Dingen eigenen Wesens ist und von den Motiven, die in Familien und unter Freunden ihren Ort haben, geradewegs in die Irre der Ohnmacht und Unterwerfung geleitet wird.

Wer seine Türe nicht gegen unwillkommene Gäste abschließen kann, sollte sie auch nicht für willkommene öffnen dürfen.

Eine, die ihre Tür jedem Dahergelaufenen auftut, nennen wir rechtens ein Flittchen.

Wer nicht ablehnen und verachten kann, kann auch nicht schätzen und achten.

Wer jedermanns Freund sein will, erweist damit seine schurkische Gesinnung.

Schalen, die das Lebenswasser bergen, sodaß es auf dem dürren Boden nicht zerfließt.

Die Formen der Dichtung gleichen Schalen und sind wie Becher, die ein köstliches Lebenswasser bergen können. Formlose Gedichte sind keine: Sie laufen über und ihr karger Sinn ist lauter sinnlose Ausschüttung von Worten.

Die Formen der Dichtung gleichen auch jenen getriebenen, gebrannten, bemalten Schalen aus Ton, Silber oder Porzellan, in denen glänzende Früchte gehäuft werden, um sie den Gästen des Hauses anzubieten: Man legt sie nach Sorten und Farben harmonisch neben- und übereinander, und wehe eine zeigt schon faulige Flecken, sie wird sogleich aussortiert und durch eine frische ersetzt. – Früchte aller Art und Färbung, gesunde und faule, kunterbunt über den Boden zu schütten erzeugt ein Durcheinander, das jedes ästhetischen Reizes ermangelt und unseren Sinn für Ordnung und Proportion beleidigt.

Das Heilige gibt sich nicht den profanen Blicken preis, sondern wohlbewahrt hüllen und bergen es Schale und Schild, Becher und Tabernakel, Vorhang und Rauch. Nur zuweilen, an festlichen Tagen oder zu außergewöhnlichen Anlässen von Not und Gefahr hebt der Priester den Vorhang zur Seite, öffnet das Allerheiligste, gießt aus dem Becher den geweihten Wein.

Das lebenspendende, heilige Blut birgt die kostbare Schale, der Heilige Gral, ihn zu erobern, zurückzugewinnen, zu besitzen gilt es die Bewährung der größten aventiure, gilt es Kampf und Krieg – und wenn die Ritter am Ende nicht wissen, ob das Gefäß leer ist oder nicht, mindert dies nicht seinen kultischen Wert.

Opferschale, in der Blüten und Früchte vor das geweihte Bild getragen werden, Schale, in der die Flamme lodert, zum Zeichen, daß ein Göttliches sei, das den geringen Schatten des Menschenwesens erhelle, halte, heilige.

Auch das Leiden und der Schmerz können zu Blüten und Früchten verwandelt werden, wenn sie auf der reinen Schale des Opfers dargebracht werden.

Früchte schälen, Äpfel, Birnen, Kartoffeln, und die sich ringelnden Schalen fallen in den Schoß. Die fleckigen Stellen aber und die Augen und aufgesprossenen Triebe schneidet man weg, und nur das Genießbare und Schmackhafte lassen wir gelten.

Der Fluch auf den Feigenbaum: augenblicks war er verdorrt.

Früchte, die nicht langsam und stetig reiften, sondern auf morastigem Grund und unter zu viel Glut, schmecken wässrig und fad. Die Geduld des langsamen Reifens unter herbem Wind und wechselndem Licht bringt gute Frucht.

Das langsame Reifen der Leibesfrucht im Mutterleib macht den Unterschied der Fühlweisen von Mann und Frau.

Das dunkle Warten der eingemachten Früchte im kühlen Dämmer des Kellers, das Nachreifen der Äpfel auf den Stellagen, doch die reifen Kastanien springen wie von selbst aus der stachlichten Schale.

Die Indigenen schälen den Zweig, bis er nackt ist, spitzen ihn zu, träufeln aus geheimnisvollen Früchten giftigen Saft auf die Spitze und machen sich auf zur Jagd.

Der häßliche Anblick verhutzelter und verfaulter Früchte, der Verwesungsgeruch, der von ihnen ausgeht.

Frühgereifte Früchte stillen den Durst des Munds, spätgereifte den Durst der Seele.

In mancher vollen, prangenden Frucht, die dem Auge kokett schmeichelt und den Mund wässrig macht, steckt ein Wurm.

Romantik: Die Schalen zerbrechen, den Mund des unmittelbaren Genusses an die überhängenden Trauben und Früchte hängen wollen. Als wäre die Welt schon oder noch oder wieder der Garten Eden.

Ästhetik ohne Form gleicht der Fülle der Trauben und Früchte ohne die Möglichkeit, sie zu keltern und zu kochen. Die Trauben zu keltern und den Wein reifen zu lassen, diese Mühen der Kultivierung sind indes die Voraussetzung dafür, den Wein auf dem Fest des kleinen Kreises zu kredenzen oder ihn heiliger Verwandlung zuzuführen.

Die Behausung als Schale des Daseins, des Überwinterns, des Überlebens. Von der Höhle des Urmenschen bis zum Appartement des Spätlings. Zuflucht, Versteck, Intimbereich. Wir sehen auf die beleuchteten Fenster gegenüber und wissen um eine anonyme, traurige Kollektivität.

Das einsame Kind im Zimmer des Krankenhauses. Das Entschwinden der Weltbezüge, wenn die Schatten wachsen, es immer dunkler wird. Im fernen Quietschen der Straßenbahn, im fahlen Schein des Scheinwerferlichts, das Decke und Wände abtastet, sogar im leisen Röcheln aus den Gängen, in denen schwache Funzeln ein schicksaldumpfes Licht aussenden, liegt noch eine Hoffnung, die wie die Kastanie schimmert, die das Kind in der Schublade des Krankenbetts verwahrt hat.

Der Mensch, das einzige Lebewesen, das sich künstliche Schalen entwirft und in sie einhüllt, Schalen, die ihn manchmal schützen, manchmal erdrücken.

Kommentar hinterlassen

Note: XHTML is allowed. Your email address will never be published.

Subscribe to this comment feed via RSS

Top