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Woran wir denken

04.09.2017

Eine kurze philosophische Betrachtung über den Zusammenhang von Bewußtsein, Intentionalität und Sprache

Ich denke an dich.

Wir unterscheiden den Anlaß und das Motiv, die mich jeweils aus verschiedenen Gründen dazu bringen, an dich zu denken. Blättere ich in einer Illustrierten und stoße auf ein Foto, dessen Abbildung dir ähnlich sieht, denke ich an dich; spüre ich die Sonne meine Nasenspitze kitzeln, bekomme ich Lust, mit dir durch die Wiesen zu streifen wie damals, als wir noch jung waren.

Das Foto ist als visuelles Reizmuster für mich der Anlaß, an dich zu denken, weil du dem Abgebildeten ähnlich siehst. Irgendwie muß ich das aktuell Gesehene mit dem Bild, das mein Gedächtnis von dir gespeichert hat, wohl abgleichen, aber nicht so, daß ich das eine gedanklich über das andere lege; denn es genügt zum Beispiel ein auf dem Foto erblicktes Grübchen und schon denke ich an dich. Was ist schon ein Grübchen auf einem schlecht gerasterten Foto gegen ein beliebiges anderes auf einem anderen Gesicht als dem deinen? Der Grad an Ähnlichkeit geht hier gegen null – und doch denke ich bei diesem Anlaß an dich. Woran denke ich, wenn ich aufgrund einer vagen Ähnlichkeit des Fotos mit deinen Gesichtszügen an dich denke? Denke ich an dein Gesicht, so wie es mir als Erinnerungsbild vorschwebt? Aber dann denke ich nicht an dich, sondern an das Erinnerungsbild.

Wenn du nunmehr nach so langer Zeit, da wir uns nicht gesehen haben, dein Aussehen beträchtlich geändert hast und das Grübchen ist mittlerweile in einem Faltenwurf verborgen, würden wir dennoch sagen, ich denke an dich, auch wenn du in Wahrheit die Ähnlichkeit der Gesichtszüge, die ich auf dem Foto wahrgenommen habe, nicht mehr besitzt.

Wenn ich an dich denke, so nicht an das Bild, das mir die trügerische Erinnerung vorspiegelt, sondern an deine Person. Die Person, an die ich denke, wenn ich anläßlich des Fotos an dich denke, nennen wir den intentionalen Gegenstand meines Bewußtseins. Und die Fähigkeit des Bewußtseins, an jemanden oder etwas zu denken, nennen wir Intentionalität.

Wir bemerken, daß der intentionale Gegenstand sich nicht aufgrund einer Ähnlichkeit wie derjenigen des Bilds zum Abgebildeten, sondern nur durch die Identität des Gemeinten bestimmen läßt. Wenn ich an meinen Freund Peter denke, dann nicht an jemanden, der ihm bis aufs Haar gleicht, sondern schlicht an Peter, auch wenn die Vorstellung, das Bild oder die Erinnerung, die ich von ihm habe, keine Ähnlichkeit mit ihm aufweisen sollte.

Ich sehe ein Foto eines hübschen Fotomodells in einer Illustrierten und werde an das Gesicht der Venus erinnert, wie sie der Maler Botticelli gemalt hat und das ich vielleicht einmal in meiner Jugend in den Uffizien in Florenz gesehen habe. Wenn wir sagen, ich denke anläßlich des Fotos an das Gemälde „Die Geburt der Venus“ von Botticelli und die auf ihm dargestellte Schöne, ist alles klar. Aber sollen wir sagen, daß ich anläßlich des Fotos an Venus denke? Das erscheint uns sonderbar, weil Venus keine Person in dem Sinne ist wie das Mädchen, an das ich denken könnte, wenn ich das Foto oder die Venus auf dem Gemälde von Botticelli sehe, und dem ich vor Zeiten einmal begegnet bin. Ich kann nicht an Venus denken und mich fragen, wie es ihr in der Zwischenzeit ergangen ist, in Bezug auf jene Schöne dagegen kann ich dies fragen.

Kann ich anläßlich eines Fotos an jemanden denken, ohne zu wissen, wer es ist, so wie uns ein Wort auf den Lippen liegt, doch wir kommen nicht darauf? Aber an das Wort, das uns auf den Lippen liegt, denken wir nicht, wie wir an eine Person denken, deren Name uns im Moment nicht einfällt.

Der Anlaß, an jemanden zu denken, wirkt kausal auf unsere Sinne und unser Nervensystem, wie die Lichtstrahlen, die von dem Foto oder Gemälde ausgehen, das mich auf den Gedanken an jemanden bringt. Doch der intentionale Gegenstand, an den ich denke, zum Beispiel eine Person, wirkt nicht kausal auf meine Sinne und mein Nervensystem ein, denn dieser Gegenstand ist kein materielles Objekt, sondern ein intentionaler Gegenstand.

Muß ich, wenn ich an meinen Freund Peter denke, innerlich vor mich hinsagen: „Jetzt denke ich an Peter“ oder auch nur innerlich flüstern: „Peter!“? Das wäre sonderbar. Ich kann mir ja ein Gedicht ins Gedächtnis rufen und still vor mich hinsagen, und dabei fällt mir mein Freund Peter ein, weil es ihm damals so gut gefallen hat, ohne daß ich „innerlich“ ein Wort über ihn verloren hätte.

Die Behauptung, Intentionalität sei eine rein sprachliche Eigenschaft, scheint so abwegig wie die Behauptung, das Ich-Bewußtsein sei die Folge der Tatsache, daß wir das Pronomen „ich“ korrekt zu gebrauchen gelernt haben.

Manchmal denke ich am hellen Tag an das unheimliche Blau der Nacht, an das Pianissimo des letzten Satzes aus Mahlers 9. Sinfonie oder an den Duft der Hyazinthen in Großvaters Garten. Farben und Farbschattierungen, Klänge und Klangfolgen, Düfte und Duftmischungen sind komplexe sensorische Phänomene, die wie Wasser, Luft und Wolkenballungen keine klar umgrenzten Einzeldinge formen, sondern diffus verteilte Massen oder Substanzen darstellen. Und doch kann ich an die blühende Wiese denken, durch die wir damals streiften, genauso wie an die frische Luft, die abends vom Wald her wehte, ohne an die einzelnen Gräser und Blumen zu denken, geschweige denn an die Moleküle, in die wir die Luft chemisch analysieren können.

So kann ich, wenn ich durstig bin, an die Substanz oder das Element denken, das meinen Durst löschen wird, oder dich bitten, mir von dem Wasser aus der Flasche etwas ins Glas zu gießen. Das Baby schreit nach der Mutter, die jene Substanz repräsentiert, nach der es schreit, denn sie gibt ihm die Brust. Die Brust der Mutter ist der primäre intentionale Gegenstand des Säuglings. Gewiß bezieht er sich auf ihn, lange bevor er in der Lage ist, ihn mit einem Namen zu benennen.

Wenn ich daran denke, daß mein Freund Peter damals sein Versprechen nicht eingelöst und mir das ausgeliehene Buch nicht wie ausgemacht ausgehändigt hat, denke ich nicht nur an die Person namens Peter, sondern an den Sachverhalt, daß er das und jenes getan oder nicht getan hat. Der Sachverhalt kann zutreffen oder nicht zutreffen, wahr oder falsch sein. Wir können den Inhalt unseres Gedankens demnach in die übliche Satzform kleiden, bei der einem direkten Ausdruck des Denkens (Glaubens, Annehmens, Meinens, Sagens) ein indirekter Ausdruck folgt, der den gedachten Sachverhalt darstellt.

Ich denke, daß p.

Ist p nicht wahr, habe ich mich geirrt und vergessen, daß Peter mir tatsächlich das Buch zurückgegeben hat.

Der sprachliche Ausdruck für den intentionalen Gehalt unseres Bewußtseins wird demnach an der Stelle notwendig, wenn es sich beim Gedachten um Sachverhalte handelt, die wahr oder nicht wahr sein können, denn diesen Umstand können wir nur in den entsprechenden Sätzen geltend machen.

Wir erkennen den Unterschied daran, daß wenn wir an Peter denken, wir von Peter nicht gleichzeitig annehmen können, er existiere nicht, während wir durchaus das Gegenteil des wahren Sachverhalts durch schlichte Anwendung der Negation auf den Satz annehmen können, wenn wir etwa wahrheitswidrig leugnen, Peter das Buch ausgeliehen zu haben.

Aber auch uns selbst können wir mittels Anwendung von Sätzen über Sachverhalte zum intentionalen Gegenstand unseres Bewußtseins machen, indem wir im indirekten Nebensatz rückbezügliche oder reflexive Pronomen verwenden:

Ich glaube, daß mich Peter belogen hat.
Ich glaube, daß ich schon einmal an diesem Ort gewesen bin.
Ich glaube, daß ich dies geträumt habe.

Wir erkennen die semantische Form solcher Sätze leichter, wenn wir sie etwas umformen:

Ich glaube (ich bin von Peter belogen worden).
Ich glaube (ich war schon einmal an diesem Ort).
Ich glaube (ich habe dies geträumt).

Jetzt müssen wir nur noch die Identität des ersten und des zweiten „ich“ ausmachen. Dies erreichen wir durch eine Umformung der Sätze nach dem Schema, in dem wir das Wahrheitsprädikat „ist wahr“ in die einfache Behauptung verwandeln:

Daß ich von Peter belogen worden bin, ist wahr.
! Ich bin von Peter belogen worden.

Also:

Ich bin (wohl) von Peter belogen worden.
Ich bin (wohl) schon einmal an diesem Ort gewesen.
Ich habe dies (wohl) geträumt.

Von sich zu glauben, daß p oder man habe oder sei F (irgendeine Eigenschaft), also sich selbst einen intentionalen Gehalt zuzuschreiben, der einen wahren oder falschen Sachverhalt repräsentiert, ist demnach dasselbe, wie p oder schlicht den entsprechenden intentionalen Gehalt in einem Aussagesatz der ersten Person zu äußern.

Wenn Roboter ein intentionales Bewußtsein haben und sich wahre Sachverhalte zuschreiben könnten, dann müßten sie sich auch falsche Sachverhalte zuschreiben und also sich irren oder lügen können; könnten sie lügen, müßten sie uns mit folgendem Satz täuschen und hinters Licht führen können:

1.1 Ich bin kein Roboter.

Das hieße, daß Roboter in der Lage wären, sich selbst einen intentionalen Gedankeninhalt zuzuschreiben. Wenn sie fähig wären, ihre ihnen eigentümliche oder wesentliche Art des Daseins zu negieren, müßten sie sie auch bejahen und äußern können:

1.2 Ich bin ein Roboter.

Diese Äußerungen aber sind inkonsistent, denn ein Roboter, der fähig wäre, einzusehen, daß er ein Roboter ist (Satz 1.2), bewiese damit, daß er kein Roboter ist (Satz 1.1).

Das Ich-Bewußtsein oder schlicht das Bewußtsein (denn ein jedes Bewußtsein impliziert zumindest keimhaft ein Ich-Bewußtsein) läßt sich nicht naturalisieren, weil es sich durch keine noch so große oder unendlich große Menge von Sachverhalten oder sachlichen Beschreibungen objektivieren läßt. Solche Beschreibungen wären etwa:

Ich bin derjenige, der blaue Augen hat.
Ich bin derjenige, der blonde Haare hat.
Ich bin derjenige, der Philosophie studiert hat.
Ich bin derjenige, der vor ein paar Jahren in Italien war.

Denn solche Beschreibungen können denjenigen, der ich (namens N. N.) bin, nicht identifizieren.

Denn es gilt nicht:

Derjenige, der blaue Augen hat, ist N.N.
Derjenige, der blonde Haare hat, ist N. N.
Derjenige, der Philosophie studiert hat, ist N. N.
Derjenige, der vor ein paar Jahren in Italien war, ist N. N.

Warum sollte derjenige, der tatsächlich all jene Eigenschaften hätte, die man mir selbst zusprechen kann, mit mir identisch sein? Es könnte ein perfekter Zwilling von mir mit all meinen Eigenschaften bis hin zur gleichen Hirnstruktur herumlaufen, der mit mir nicht identisch wäre.

Das ist der Grund, weshalb sich das Ich-Bewußtsein nicht naturalisieren läßt.

Wir können es auch so ausdrücken: Kein Roboter hat die Fähigkeit, sich die von seinem Programm aufgerufenen gespeicherten Informationen als intentionale Gegenstände seiner selbst zuzuschreiben. Er kann sie nicht als seine Inhalte haben, sondern sie nur sein.

 

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