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Der Unterschied macht’s

01.09.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Ich will euch Unterschiede lehren.
Ludwig Wittgenstein

Es gilt, den Unterschied zwischen absoluter und relativer Differenz zu sehen. Leben und Tod, wahr und falsch, Ich und Nicht-Ich (Ich und Du), Sinn und Unsinn, Wissen und Nichtwissen (Erkenntnis und Einbildung) sind Wesensdifferenzen; dagegen finden wir in allem, was wir prädizieren oder begrifflich bestimmen, wie hoch und tief, schnell und langsam, hell und dunkel, Pflanze und Tier, relative Differenzen. Die Rose ist eine Pflanze, der Hund ein Tier, die grüne Hydra und die Koralle können als Mischwesen betrachtet werden. Dagegen ist das Einhorn kein Gegenstand der wissenschaftlichen Biologie.

Lyrische oder rhythmische Prosa, wie wir sie bei Baudelaire oder Mallarmé finden, kann als poetisches Mischwesen betrachtet werden und sehr wohl Gegenstand wissenschaftlicher Poetik sein.

Der Unterschied von Aussagesatz und Fragesatz ist insofern relativ, als wir bisweilen mit Fragen verblüfft oder behelligt werden, die keine Antwort verlangen, weil sie rein rhetorisch oder ironisch gemeint sind.

Selbstaussagen wie „Mir ist übel“ dagegen sind wesentlich von Aussagen in der dritten Person wie „Ihm ist übel“ verschieden.

Die statt in der Ich-Form in der dritten Person verfertigte Aussage („N. N. sah, wie der Tatverdächtige mit einer Waffe in der Hand die Bankfiliale betrat“) wird vor Gericht nicht als Zeugenaussage anerkannt, auch wenn sie eigenhändig unterschrieben und notariell beglaubigt sein sollte.

Der Lehrer fragt: „Wer hat das an die Tafel geschrieben?“ – Aus der hintersten Reihe geht zögernd eine Hand nach oben. – Wir bedürfen zur Markierung des wesentlichen Unterschieds zwischen Ich und den anderen nicht unbedingt performativer Sprachakte; eine Geste genügt, ein Handheben, ein Blick, ein Lächeln.

Der freundliche Mensch weist den Fremden mit dem Handzeichen und dem Fingerzeig die Richtung, in die er gehen soll. Worauf weist die erhobene Hand des Schülers?

Dem Täter wird durch objektive Befunde, beispielsweise einen DNA-Abgleich, nachgewiesen, daß er die Tat begangen hat; daß er sie eingesteht, kann anhand seines Schuldbekenntnisses vor Gericht unter Vorbehalt anerkannt werden. Doch für das schlechte Gewissen gibt es keine objektiven Befunde.

Wir sagen, dem gerichtlichen Urteil liege der wahre Sachverhalt zugrunde, der anders nicht als in dem wahren Satz, der ihn zum Ausdruck bringt, zu erfassen ist.

Dagegen sind Selbstaussagen nicht wahrheitsgebunden oder selbstevident. Zwar übersetzt der Lehrer das Handzeichen des Schülers korrekt mit der Aussage „Ich habe es getan“; doch der Schüler könnte nur vorgeben, das obszöne Wort an die Tafel geschmiert zu haben, um einen Kameraden, dem er aufgrund zwielichtiger Verwicklungen verfallen oder hörig ist, zu decken.

Selbstaussagen können vor dem Tribunal der anderen Sprachgenossen zurückgewiesen oder als bloße Rhetorik abgetan werden, wenn es sich um die Mitteilung von Selbsttäuschungen oder alberne Witzeleien handelt wie „Ich sehe vor dem Fenster ein Einhorn stehen.“

Auch wenn Selbstaussagen sich auf Gewißheiten der scheinbar vor Zweifeln geschützten Innerlichkeit stützen, wie die Aussage „Mir ist übel“, können sie vor dem Tribunal der anderen als unwahr oder unglaubwürdig zurückgewiesen werden, beispielsweise, wenn der angeblich bedauernswerte Magenkranke zum Kühlschrank eilt und ihm ein großes Stück Eis entnimmt, um es gemächlich zu verzehren.

Es gibt keine Mischform aus Sein und Nichtsein, und also kein hybrides Monstrum aus Wahrheit und Falschheit, wie zu Riesenkonvoluten angewachsene dialektische Träumereien vorspiegeln wollen.

„Werden“ ist kein ontologischer Zwitter aus Sein und Nichtsein, sondern ein Prozess, beispielsweise des Wachstums, an dem, was existiert.

Die geheime Mythologie der Sprache verführt uns dazu, wesentliche Unterschiede zu verwischen und beispielsweise dem Leben eine schattenhafte Scheinexistenz vor der Geburt und nach dem Tode anzudichten.

Wo war ich vor meiner Geburt, fragt das einfältige Kind; wohin gehe ich nach dem Tode, der scheinbar Fromme.

Sinnvoll sind Sätze, die jene ontologische Verpflichtung, die sie implizieren, einlösen, also wahr oder falsch sein können. Der Satz „8 ist eine Primzahl“ ist sinnvoll, weil er sich auf die Existenz von Primzahlen festgelegt hat, freilich, er ist falsch.

„Einhörner sind Säugetiere“ ist ein sinnvoller, aber falscher Satz; dagegen ist der Satz „Die Wurzel aus unendlich ist ein Einhorn“ sinnlos.

Männlich nennen wir die Fähigkeit, Samen zu generieren, weiblich die Fähigkeit, befruchtete Eizellen keimen und wachsen zu lassen, sie mit Nährstoffen zu versorgen und auszutragen. Männlich und weiblich markieren keinen Wesensunterschied, denn es gibt Zwitter wie Pflanzen oder Schnecken, die sich selbst befruchten.

Dagegen markieren „Vater“ und „Mutter“ einen Wesensunterschied, insofern sie sich auf wesensverschiedene ethische Sphären beziehen, deren unterschiedliche Mittelpunkte mit Stichworten wie Verantwortung und unbedingte Liebe benannt werden können.

Andererseits implizieren weder sogenannte männliche noch sogenannte weibliche grammatische Formen einen sexuellen Unterschied; denn „die Person“ bedeutet nicht „Frau“, und „der Autor“ umfaßt nicht nur die Gruppe der Männer.

Markierten die sogenannten männlichen und weiblichen Formen der deutschen Grammatik sexuelle Unterschiede, müßten auch Mischformen oder grammatische Zwitter denkbar sein; stattdessen wartet die deutsche Grammatik nur mit dem Neutrum auf, und dieses bezieht sich nicht ausschließlich auf ein geschlechtsloses Etwas; denn „das Huhn“, „das Rind“ und „das Mädchen“ bedeuten weibliche Wesen, „das Kind“ und „das Lebewesen“ können männlich oder weiblich sein, „das Fenster“, „das Elend“, „das Verhängnis“ sind weder männlich noch weiblich.

Nur wenn sich der Kreis der grammatischen Genera mit dem Kreis der natürlichen Geschlechter schneidet, wie bei „der Mann“ und „die Frau“, können wir von wesentlichen grammatischen Unterschieden sprechen.

Wir können uns Sprachen ohne den wörtlichen Gebrauch grammatischer Genera (beispielsweise am Modell der agglutinierenden Sprachen) ausdenken, aber keine ohne Personalpronomen der ersten und dritten Person, denn dieser grammatische Unterschied markiert einen wesentlichen ontologischen, der die Welt durchdringt, in der wir leben.

Erkenntnis oder Wissen bezieht sich auf wahre Sätze, also solche, die von dem, was ist, sagen, daß es ist, und von dem, was nicht ist, sagen, daß es nicht ist.

Erkenntnis ist der Übergang vom Nichtwissen zum Wissen, der sich über viele Formen der Kenntnisnahme, vom Hörensagen bis hin zur wissenschaftlichen Überprüfung einer Vermutung mittels Experiment, erstrecken kann.

Wir können vergessen, was wir einmal wußten; wir können aufgrund des Klangs seiner Stimme vermuten, daß uns hinter unserem Rücken ein Freund auf der Straße zugerufen hat; wir wissen es aber erst, nachdem wir uns umgedreht und ihn erkannt haben.

Zweifel ist kein epistemischer Zwitter aus Wissen und Nichtwissen, sondern der Ausdruck des Verdachts, daß der gesund scheinende Apfel unserer Gewißheit wurmstichig ist. Durch den begründeten Zweifel erlischt das Licht des scheinbaren Wissens wieder im Dunkel des Nichtwissens.

Zwischen dem Profanen und dem Heiligen scheint eine wesentliche Differenzlinie zu verlaufen; den geweihten Bezirk, den Tempel, die Kathedrale wagt nur der stumpfsinnige Tourist ohne innere Läuterung schwätzend und gaffend zu durchqueren.

Wir unterscheiden wesensverschiedene sprachliche Formen und Stile, wenn es um die Alltagssprache und den Ausdruck des Erhabenen geht, wie wir ihn aus Psalmen, Hymnen, Oden und religiösen Gebeten und Liedern kennen.

Freilich, der erhabene Stil muß nicht unbedingt anschwellend, prunkvoll und metaphorisch kühn und verstiegen sein, wie wir es aus den lyrischen Chorpartien der Tragödien des Aischylos und Sophokles oder den Epinikien eines Pindar kennen, vom hohen Stil der Oden Klopstocks oder der späten Hymnen Hölderlins zu schweigen; das Herrengebet ist erhaben und doch im Ausdruck schlicht und prägnant.

Ja und nein markieren einen wesentlichen Unterschied im performativen Ausdruck einer Entscheidung; das Jawort des Bräutigams ist gültig und von der semantischen Schwere einer amtlichen Besiegelung, auch wenn es sich um einen Heiratsschwindler handelt, der, während er ja sagt, nein denkt. Dies belegt die semantische Unabhängigkeit der Bedeutung von mentalen Zuständen, unwillkürlichen Vorstellungen und willentlichen Intentionen.

Die mit den Wölfen des Zeitgeistes heulen leugnen heute aufgrund von Geistesschwäche, perversen Antrieben oder Existenzängsten nicht nur die relativen Unterschiede hinsichtlich der Begabungen von Mann und Frau, von Rassen, Völkern und Nationen, sondern sogar den wesentlichen Unterschied zwischen Sein und Nichtsein, Wahrheit und Unwahrheit, indem sie die Behauptung der Existenz polarer Geschlechter und die wahren Aussagen über ihre entsprechende biologische Ausstattung nicht nur bezweifeln, sondern von der angeblich höheren Warte ihrer moralischen Gesinnung als verwerflich, ja strafwürdig ansehen. Und sie verstehen sich darauf, diejenigen, die hartnäckig an der Wahrheit festhalten und sie kundzutun wagen, dingfest zu machen und den Staat als ihren Büttel einzusetzen, um sie zu verfolgen und mundtot zu machen.

Vielfach verhüllt der faule und unbedachte Sprachgebrauch den wesentlichen Unterschied. Bigotte Denker fordern, sich dem Schöpfer gegenüber für die eigene Existenz dankbar zu bezeigen. – Indes, danken können und sollen wir für etwas, was uns aus freundlich geneigter Hand als ein Geschenk zugeeignet wurde. Also eine Sache, um die wir uns weder verdient gemacht noch gebeten haben müssen.

Freilich, Geschenke, und es sind nicht die schlechtesten, können auch immaterieller Natur sein; ein Krankenbesuch, eine fürsorgliche Geste, ein aufmunterndes Wort, ja ein gütiger Blick zählen dazu.

Aber wir können nicht für etwas dankbar sein, was persönlich zu empfangen und entgegenzunehmen wir mangels pränataler Existenz gar nicht in der Lage waren: unser eigenes Leben.

Das gesunde sittliche Empfinden der alten Völker, wie der Juden, Hellenen und Römer, spricht nicht von Dankbarkeit als grundlegende Haltung der Kinder gegenüber den Eltern, der Nachkommen gegenüber den Ahnen, sondern von einer spezifischen Form von Frömmigkeit, die im lateinischen Begriff pietas mitschwingt und sich in Haltungen wie Ehrfurcht, verzeihendem Angedenken und Zeugenschaft für vergangene Größe ausdrückt.

In der schmutzigen Wäsche anderer zu wühlen und von ganz unten, sprich aus der tiefen Vergangenheit des Inkriminierten, eine fleckige Unterhose hervorzuziehen ist ein Hauptvergnügen jener degenerierten Schreiber, der Journalisten, die sich als Moralwächter der Nation aufspielen.

Urit enim fulgore suo qui praegravat artes
infra se positas. Extinctus amabitur idem.

Wer nämlich sticht mit seinem Strahl, verdunkelt ein Können,
das weit unter ihm glimmt. Den erloschnen, ihn wird man lieben.

Horaz, Epistula 2, 1, 13–14

Als wäre die hohe Lilie, die Pracht der Orchidee oder der betörend duftende Flieder ein lebender Vorwurf für das niedere Gras; als müsse sich der Halm gekränkt fühlen, weil der Schatten des Eichbaumes über ihn hinwegzieht.

Gedenkt man der letzten großen Prosaisten und Stilisten deutscher Zunge, eines Nietzsche, eines Hofmannsthal, eines Wittgenstein, muß man angesichts des Kauderwelsches, das heute aus den Lautsprechern quillt oder im Morast der Zeitungen versickert, an der Hoffnung auf eine Restauratio Germaniae verzagen. Wen wundert es, wenn die kulturelle Substanz des Deutschen systematisch und in trauter Einigkeit von Schule und Hochschule, Medien und Politik, ja von der Dudenredaktion selbst zertrümmert und durch die gewollte und beförderte, allseits bejubelte Entgermanisierung Deutschlands ausgetilgt wird.

 

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