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Vom Grüßen

10.06.2019

Aus einem Kapitel der Grammatik sozialer Konventionen

Wenn du jemanden ferner Bekannten auf der Straße grüßt, hast du ihn damit in die Verlegenheit gebracht oder ihm die Gelegenheit gegeben, den Gruß zu erwidern oder nicht zu erwidern. Freilich ist auch die Verweigerung des Grußes eine Handlung und der verlegene oder unfreundliche Zeitgenosse kann sie auf vielfache Weise ausgestalten: Er kann plötzlich zu Boden starren, als bemerke er Unrat, dem er nun ausweichen muß, oder in eine andere Richtung blicken, als sei dort etwas Faszinierendes im Gange; er kann dir echsenäugig entgegenstarren und keine Miene verziehen; er kann aber auch ironisch oder spöttisch grinsen und sich trollen.

Erwidert ein dir ferner Bekannter deinen Gruß mit einem Gegengruß und einem Lächeln, kann dies eine unverbindliche Geste sein, die folgenlos bleibt und sich gleichsam selbst wieder einfaltet und zurücknimmt, es kann allerdings auch als Einladung verstanden werden wollen, aufeinander zuzugehen und ein wenig die gemeinsame Zeit mit Klatsch und Tratsch zu verplaudern; ferner kann der deinen Gruß Erwidernde diesen überbieten oder unterbieten: indem er lächelnd, gestikulierend und rufend einen gewissen Überschwang an den Tag legt oder indem er dich kühl und mit karger Geste abspeist.

Auf denjenigen, dem der Gruß gilt, wird ein sozialer Druck zur Erwiderung dieser Geste ausgeübt; oder, könnte man sagen, er wird durch den Gruß in den konventionellen Verhaltens- und Reaktionsrahmen gezwängt, der ihn zumindest vor die Alternative stellt, den Gruß zu erwidern oder nicht zu erwidern, aber keinen sozialen Raum mehr läßt, so zu tun, als sei nichts geschehen. Denn wenn er so tut, als sei nichts geschehen oder den Grüßenden und seine Geste ignoriert, ist dies schon eine Form der Erwiderung, wenn auch eine negative oder ausweichende. – Wenn man, den Blick vom Gruß des anderen abwendend, so tut, als sei nichts geschehen, ist mehr geschehen, als man denkt.

Wenn der andere deinen Gruß nicht erwidert, magst du in der Erwartung, er werde es gewiß tun, enttäuscht werden. Und andererseits, schenkt dir der Vorübergehende ein Lächeln und erwidert wie von dir erwartet deinen Gruß, magst du erfreut sein oder gar erleichtert, wenn du aufgrund eurer letzten angespannten Begegnung befürchten mußtest, er könne grußlos an dir vorübergehen.

Die Erwartung, die mit dem Grüßen verbunden ist und erfüllt oder enttäuscht werden kann, ist ein konstitutives Merkmal sozialer Konventionen oder Gepflogenheiten. Sie stellt eine Paßform dar, die man sich gleichsam zur Anprobe gegenseitig anlegt.

Die primäre Erwartung bezieht sich auf die Initiation des konventionellen Gebarens und jeweils auf den Teilnehmer, von dem erwartet wird, daß er als erster die angemessene oder zur Rede stehende Konvention bedient oder auslöst: Wer grüßt zuerst oder wer grüßt wen? – Zur Absenkung dieser Unsicherheit erzeugenden Initiationsschwelle können wir in vielen Fällen auf Regeln oder rituelle Vorschriften zurückgreifen: Der Jüngere grüßt den Älteren (zuerst), der Untergebene den Vorgesetzten, der Herr die Dame; diese teilweise auf traditionelle und höfische Kulturen zurückreichenden Gepflogenheiten aber verwischen in modernen Zeiten immer mehr, sodaß die Quelle der Verunsicherung stärker sprudelt.

Die sekundäre Erwartung bezieht sich auf die Erfüllung und Verwirklichung der Konvention und jeweils auf die von ihr offen gehaltenen Alternativen: Erwidert der Gegrüßte den Gruß oder nicht? Hier machen sich in vielen Fällen Formen sozialen Drucks geltend, wie Sanktionen oder negative Folgen bei Nichterfüllung: Demjenigen, der den Gruß nicht erwidert, droht die Sanktion, in Zukunft überhaupt nicht mehr gegrüßt zu werden, dem Untergebenen, der den Vorgesetzten keines Blickes und Grußes würdigt, drohen berufliche Nachteile, der Mann, dem die Frau Gruß und Lächeln nicht erwidert, weiß sich um die Chance einer näheren Bekanntschaft beraubt.

Auch wenn wir die unterschiedlichen Erwartungen und die Möglichkeiten ihrer Erfüllung oder Enttäuschung hintanstellen, die sich aus dem Status der sich Begegnenden ergeben, können wir einen erstaunlichen Sachverhalt bemerken: Zwar ist das Grüßen eine feste Gepflogenheit, eine soziale Institution oder eine habituell gewordene Konvention (wie auch immer wir diese Spielform der Kommunikation und Interaktion bezeichnen mögen), doch ist es kein starrer Verhaltenskodex, der gegen Variation und Ausdruckswandel immun wäre.

Zumeist können wir den Gruß als Einleitungsphase, Eröffnung oder Initiation einer an ihn meist fraglos anknüpfenden Handlung oder Verhaltenssequenz beschreiben: Bekannte oder Freunde begrüßen sich, um zu verweilen und miteinander zu plaudern; der Kommilitone grüßt die anderen Studenten und wartet mit ihnen auf den Beginn der Vorlesung; der Angestellte begrüßt seine Kollegen und schaltet den Computer ein. – Für den Abschluß einer gemeinsam ausgeführten Verhaltenssequenz durch das Abschiednehmen gilt mutatis mutandis dasselbe.

Doch kann sich die Eröffnung durch eine Geste wie das Grüßen auch wieder rasch und folgenlos schließen: Man grüßt den Tischnachbarn im Bistro, doch es entwickelt sich kein Gespräch; man grüßt den Nachbarn, doch er geht stumm seiner Wege.

Distinktionsmerkmale des Grüßens und Abschiednehmens können sich wiederum in Gesten und sprachlichen Äußerungen kundtun; so bedienen das herzhafte Händeschütteln und Winken, die Ausrufe „Hallo!“ und „Tschüs“ andere Erwartungen als das Hutziehen oder die Verbeugung und die auf Distanz gesprochenen Floskeln „Wie ist das werte Befinden?“ und „Leben Sie wohl!“

Wir konstatieren ein weiteres für soziale Konventionen konstitutives Merkmal: Ein jede stellt nicht nur ein Muster des Verhaltens, sondern auch eine Figur der Beobachtung des jeweils anderen und infolgedessen der Selbstbeobachtung dar. Der Gegrüßte nimmt nicht nur den Gruß und den Grüßenden wahr, die Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwird, verwandelt sich augenblicks und spontan in eine gesteigerte Form der Selbstwahrnehmung. Der Grüßende beobachtet nicht nur den anderen hinsichtlich seiner Reaktion, sondern hat eine erhöhte Aufmerksamkeit auf seine eigene Reaktion, falls jener seinen Gruß erwidert oder nicht erwidert.

Wir haben auf der einen Seite die Menge der Individuen, die wir grüßen und die unseren Gruß erwidern; auf der anderen Seite die Menge aller anderen, die wir weder grüßen noch die uns grüßen. Es ist klar, daß diese Mengen mehr oder weniger oszillieren und fluktuieren, weil sie gegeneinander durchlässig sind. Bemerke ich, daß du meinen Gruß nicht erwiderst, werde ich dich hinfort selbst nicht mehr grüßen oder dich aus der Menge meiner Grußpartner ausschließen, wenn du mir über den Weg läufst; den neuen Nachbarn aber, der mich bei der ersten Begegnung freundlich gegrüßt und sich mir vorgestellt hat, nehme ich gern in die Menge der Grußpartner auf; er selbst hat mit mir ebenfalls ein neues Mitglied seiner Grußmenge gewonnen.

Aufgrund gegenseitiger Beobachtung reguliert sich der Vorgang der Aufnahme und des Ausschlusses von Mitgliedern gewisser Mengen und Kreise, für die eine Konvention gilt oder auf die eine soziale Institution Anwendung findet, von selbst.

Wir konstatieren ebenfalls: Je mehr ich beobachtet werde, umso mehr beobachte ich mich selbst; das gilt auch für den Fall, daß ich mir einbilde oder wahnhaft glaube, beobachtet zu werden.

Wenn ich einmal aus Versehen und Nachlässigkeit meinen Vermieter, den Nachbarn oder eine meiner Achtung werte Person (eine sogenannte Respektsperson) ohne Gruß habe vorbeiziehen lassen, achte ich im Folgenden auf die Einhaltung der Grußkonvention umso mehr, als ich davon ausgehe, daß auch der andere im gleichen gesteigerten Maß darauf achten wird, ob ich ihn wohl diesmal grüßen werde.

Das, was die Philosophen des transzendentalen Bewußtseins Reflexion genannt haben, ist ein Echo oder ein Niederschlag (Sediment) dieser aus der Selbstregulation konventioneller Verhaltensmuster erwachsenen Fremd- und Selbstbeobachtung.

Die wahnhafte oder psychotische Form der paranoiden Selbstbeobachtung ist der gleichsam dem Mutterboden des konventionellen und rituellen Verhaltens entrissene Trieb und Sproß ihrer spontanen Selbstregulation.

Mit dem Gruß bieten wir dem Gegrüßten ein Schlupfloch oder zumindest ein Guckloch in unser Leben. Es ist also mit Gefahr verbunden: Wir können nie mit völliger Umsicht und Sicherheit voraussehen, worauf wir uns einlassen. Wir könnten am Ende nicht nur ausspioniert, sondern auch materiell ausgeraubt oder seelisch ausgeplündert werden. – Die psychotische Angst des Paranoikers ist nicht völlig irrational, sondern eine Übersteigerung dieser Gefahr, die mit allen Konventionen verknüpft zu sein scheint, die soziale Nähe und Ferne regulieren, wie eben das Grüßen.

Wir können uns fragen, warum uns Herr X oder Frau Y plötzlich gegrüßt oder auf einmal nicht mehr gegrüßt hat. Haben wir ihm kürzlich im Vorübergehen kaum merklich oder schüchtern zugelächelt? Haben wir seinen Hund gestreichelt und er hat es aus dem Fenster beobachtet? Haben wir einen Fauxpas begangen, ist ihr eine Laus über die Leber gelaufen? Aber wir können nicht fragen, warum wir überhaupt jemanden grüßen und von denen einen gegrüßt und von den anderen nicht gegrüßt werden. – Solche Art zu fragen wäre ähnlich paradox und sinnlos, wie zu fragen, warum wir sprechen.

Konventionen wie das Grüßen haben wie die Sprache an und für sich oder die Mathematik und ihre formalen Regelsysteme keinen inhärenten Zweck und verborgenen Sinn, keine ihnen innewohnende Rationalität. Sie können allerdings beliebigen Zwecken, Strategien, Absichten und Anwendungen unterworfen werden. In dieser Hinsicht (aber auch nur in dieser Hinsicht) können wir sie mit Spielen vergleichen: Ich kann Schach spielen, um mir die Zeit zu vertreiben, aus Freude an geistiger Anstrengung, mit der Absicht, es heute einmal gerade diesem Konkurrenten zu zeigen. Ich kann heute Krethi und Plethi grüßen, weil es mir Spaß macht, Aufmerksamkeit zu erwecken und mich in Szene zu setzen; ich kann morgen bevorzugt Leute aus besseren Kreisen grüßen, um mein Ansehen zu steigern. – Doch in anderer Hinsicht sind Konventionen keine Spiele: Wenn ich im Moment keine Lust auf ein Remis des Schachspiels habe, muß ich von meinem Spielpartner keine Sanktionen befürchten; anders bei der Erfüllung oder Nichterfüllung sozialer Konventionen wie dem Grüßen.

Gruß- und Abschiedsformeln auf Briefen unterschiedlicher Art und literarisch-geselliger Natur vom Liebesbrief über das Kondolenzschreiben bis zum amtlichen Anschreiben verraten uns eine Menge über den Status und die soziale Rolle der Schreiber und ihrer Adressaten; aber insofern auch über ihr Selbstverständnis. Man denke an die Unterschiede der Briefe Hölderlins an seine Mutter, an Diotima, an Schiller oder den Freund Sinclair. – Interessant ist der Umstand, daß etliche späte Gedichte des Dichters durch Beifügung eines fiktiven Datums und eines fiktiven Namens wie Briefe anmuten, die nie abgeschickt worden sind.

Die Form und Art des Grüßens strahlt gleichsam wie ein reflexives Licht auf den Grüßenden zurück und erhellt ihm den Ausschnitt der sozialen Welt, in dem er sich aufhält oder den er bewohnt, sowie das soziale Kostüm, das er bei seinem Aufenthalt umgelegt hat. So verkörpert und reflektiert sich der freundlich Grüßende anders als derjenige, der es devot, ehrerbietig, herablassend oder enthusiastisch tut. Der seine Mutter brieflich devot grüßende Hölderlin ist ein anderer als derjenige, der Schiller in einer Mischung von Ehrerbietung und Herablassung und die Geliebte Diotima enthusiastisch grüßt.

Wenn dich ein dir bislang Fremder oder du einen dir bislang Fremden zum ersten Mal grüßt, baut ihr eure respektiven Fremdheiten dadurch peu à peu aneinander und miteinander ab, daß ihr euch im Licht des vom jeweils anderen Geäußerten betrachtet und den jeweils erhellten Ausschnitt zurückspiegelt. Dies vollzieht sich als Einschluß und Ausschluß bestimmter Möglichkeiten. Dem Unbekannten, der dich soeben erstmals gegrüßt hat, stellst du dich anders dar, als dem Freund, mit dem du seit Jahren verkehrst. Diese Selbstdarstellung mündet in das Ergebnis des Ausschlusses aller anderen dir vielleicht möglichen Formen der Selbstdarstellung; sie wird von der Selbstdarstellung des anderen in einem Maße gespiegelt, das die Unvertrautheit des Erstkontakts im günstigsten Falle mildert oder aufhebt.

Wie die Konvention des Grußes zeigt, sind wir in unseren Handlungen weder völlig frei noch völlig gebunden: Gewiß, wir können, falls wir uns nicht einmauern, nicht umhin, in Situationen zu geraten, in denen die Konvention Anwendung findet. Freilich, wir müssen nicht grüßen, doch wenn wir nicht grüßen oder den Gruß des anderen nicht erwidern, sind wir genötigt, die aus dieser Enthaltung oder Verweigerung (als einer der Konvention selbst innewohnenden Möglichkeit) erwachsenden Konsequenzen auf uns zu nehmen, beispielsweise, daß wir es mit dem Nachbarn oder Bekannten verscherzen.

Wenn wir eine Einladung annehmen, haben wir uns vorab schon nicht nur für eine Form des Grüßens entschieden, sondern auch für die implizite und symmetrische Konvention des Abschiednehmens.

Wir können natürlich auch Misanthrop werden und aus Ärger und Verachtung alle Konventionen über den Haufen werfen, allen voran das Grüßen; doch müssen wir dann auch die implizite Folge ausbaden, nämlich ein Schweigegelübde auf uns nehmen, denn das Grüßen ist ja zumeist auch die gestisch-verbale Eröffnung einer Redesituation, ja, wir merken, daß es eine der entscheidenden Kontaktschwellen zur Umwelt darstellt. Weil unsere Weltflucht ins Schweigen nichts anderes als die Folge unserer Verwerfung der Konvention des Grüßens darstellt, haben wir die Konvention keineswegs überwunden, sondern leiden nur an ihrer Abwesenheit und Verschmähung.

Wir können in die Verlegenheit kommen, uns rechtfertigen zu müssen, weshalb wir gestern den und jenen nicht gegrüßt haben, und wir können Rechtfertigungen vorbringen oder uns ausdenken wie Traumwandeln, Kurzsichtigkeit oder eine Panikattacke, die vor den Augen des Gekränkten Gnade finden mag.

Wir bemerken wiederum, daß wir Fragen von Moral und Normativität in die Betrachtung und Analyse von Alltagssituationen der Einhaltung und Verletzung von Konventionen auflösen können. Die Konventionen wie das Grüßen sind das uns strukturell oder semantisch-sozial Vorgegebene: Sie selbst sind gleichsam gegen Fragen nach moralischer und normativer Rechtfertigung immun, es ist sinnlos, eine Gepflogenheit wie das Grüßen rechtfertigen oder kritisieren, moralisch verteidigen oder verwerfen zu wollen.

Freilich, wir können jemanden vor den Kopf stoßen und kränken, indem wir ihm den Gruß verweigern. Aber auch die hier in Gang gesetzte moralische Problematik reguliert sich selbst, denn wir haben die Konsequenz, daß sich der Gekränkte von uns abwendet, uns seinerseits nicht mehr grüßt oder uns seine Freundschaft entzieht, auszubaden.

Können wir das Leben einer Gemeinschaft imaginieren, in der die Konvention des Grüßens nicht vorkommt? Kaum. Denn sie ist ja allgemein gesprochen nicht mehr und nicht weniger als die primordiale Einleitung zu weiteren Formen der Kommunikation oder gemeinschaftlichen Redens und Tuns. Und irgendeine Weise des Eintritts in diese Formen muß es geben, wenn sich soziales Leben überhaupt entfalten können soll.

Wir können von einer Grammatik der sozialen Konventionen sprechen, auch wenn wir uns nicht wie die traditionelle Grammatik am Satz und den Satzarten orientieren, denn auch nonverbale Äußerungen sind ja integrale Bestandteile unserer konventionellen Gepflogenheiten. – In der Grammatik der Konventionen finden wir grundlegende formale Strukturen und logische Regeln wie den Anschluß (an die Folgehandlung), den Einschluß oder die Implikation (von Optionen, etwa die Implikation des Abschiednehmens in der Begrüßung) und den Ausschluß oder die Negation (von Alternativen bei binär codierten Konventionen, etwa die Negation des Nicht-Grüßens durch das Grüßen).

Anders als in der formalen Logik finden wir in diesem formalen Regelsystem zwar eine Zweiwertigkeit wie bei den Wahrheitswerten, doch keine logische Notwendigkeit, wie sie uns in der Form der logischen Tautologie begegnet. Denn sich in die Situation des Grüßens zu begeben oder sich in eine solche Konvention zu schicken, bedeutet zwar, sich dem binären Code „Grüßen versus Nicht-Grüßen“ zu unterwerfen; doch Grüßen ist immer schon ein Moment einer reflexiven oder rekursiven Schleife, die aufgrund der Beobachtung des anderen und der Selbstbeobachtung in Gang gesetzt und unterhalten wird. Aus dem Grüßen des einen folgt nicht notwendig das Grüßen des anderen; aus der Beobachtung der Tatsache, daß der Gegrüßte den Gruß nicht erwidert, folgt keineswegs der Abbruch der reflexiven Schleife, sondern im Gegenteil eine Steigerung der Selbstbeobachtung, wie wir sie von den Phänomenen der Verunsicherung, der Verlegenheit, der Scham oder des Ärgers kennen.

Konventionen wie das Grüßen können wir nicht verhaltenswissenschaftlich oder evolutionsbiologisch durch Reiz-Reaktions-Mechanismen, konditionierte Verhaltensprogramme oder evolutionär zweckmäßige Anpassungsmuster erklären. Denn weder wird wie gesehen in dem Gegrüßten automatisch die verhaltensprogrammierte Reaktion des Gegengrußes ausgelöst noch dient die Konvention einzig dem Zweck der Stabilisierung von Nahbeziehungen, denn der Gruß bereitet auch das soziale Feld von Begegnungen mit Unbekannten.

Konventionen sind keine Imitationen eines natürlichen Verhaltens. Der ungeheure Aufwand, der von Evolutionsbiologen und Kognitionsforschern getrieben wird, menschliches Verhalten mittels Vergleich nach Mustern tierischen Verhaltens zu modellieren und zu rekonstruieren, geht deshalb ins Leere, weil in Konventionen ein untilgbares künstliches, artifizielles und habituelles Element das ursprüngliche und keineswegs sekundäre und abgeleitete darstellt. Gewiß, viele Tierarten absolvieren programmgemäß ihre Begrüßungsrituale, um sich ihrer Verwandtschaft und Gruppenzugehörigkeit zu vergewissern; doch Tiere können nicht willentlich und absichtlich aus dem genetisch gebahnten Verhaltensprogramm aussteigen, um ihren Partner dadurch in Verlegenheit zu bringen, zu verunsichern oder zu beschämen, indem sie ihnen beispielsweise das vererbte Begrüßungsritual verweigern. Ich kann dem Nachbarn heute meinen Gruß verweigern, um meinen Ärger darüber auszudrücken, daß er letzte Nacht wieder dermaßen viel Lärm gemacht hat; doch mein Hund kann sein freudiges Begrüßungsritual nicht willentlich und mit der Absicht unterdrücken, mir seinen Mißmut über meine späte Heimkehr zu bekunden und mich auf diese Weise zu beschämen.

Die einen zu grüßen, impliziert, alle anderen nicht zu grüßen. Mit den einen zu reden, impliziert, mit den anderen nicht zu reden. Aber mit einem zu reden, bedeutet auch, Dinge nicht zur Sprache zu bringen, die man mit anderen bespricht, oder Dinge zur Sprache zu bringen, über die man in Gegenwart anderer kein Wort verliert. Diese Formen der Auswahl und Selektivität, der Inklusion und Exklusion sind für das Regelsystem unseres alltäglichen konventionellen Umgangs miteinander konstitutiv.

Wenn mein freundlicher Gruß gegen den Freund durch ein Lächeln und einen freundlichen Gegengruß beantwortet wird, sehe ich nicht nur den anderen als denjenigen, der mein Verhalten spiegelt, sondern mich selbst im Spiegel seines Lächelns und Grüßens. Indes weiß ich mich auch als den Spiegel, in dem sich der andere mehr oder weniger klar sehen kann. Freilich kann ich bisweilen dazu verleitet werden, den Spiegel aufgrund aufbrechender Ressentiments, von Verzagtheit oder Zorn zu trüben oder zu zerbrechen, in der Absicht, den anderen in seiner Selbstwahrnehmung und seinem Selbstverständnis zu irritieren und zu verstören. Je mehr Spiegel dieser Art ich allerdings trübe oder zerbreche, umso dunkler wird es um mich selbst, beim letzten blende ich mich gleichsam selber und werde bedeutungsblind. Denn was wir Bedeutung nennen oder was uns als bedeutsam begegnet, ist keine bloße Vorstellung, Projektion oder Illusion, sondern wird uns aus der Erfüllung oder Nichterfüllung alltäglicher sozialer Konventionen wie der Konvention des Grüßens entgegengebracht und vor Augen gehalten.

 

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