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Der Weg der Zeichen

04.06.2019

Kalligraphie der Leere

Wenn ich dich mit einer Zeigegeste auf ein Ereignis der von uns visuell geteilten Umwelt aufmerksam mache, sage ich beispielsweise: „Sieh mal, da geht unser Freund Peter!“ Ich gehe natürlicherweise davon aus, daß du mich verstanden und den Aspekt der Umwelt in dem Sinne wahrgenommen hast, den ich mit meiner Zeigegeste und meiner Äußerung gemeint habe, wenn du prompt antwortest: „Ach richtig, er ist heute früh dran.“

Wir zeigen jemandem etwas oder wir weisen jemanden mittels einer Äußerung auf etwas hin. Die natürliche Deixis oder die deiktische Struktur unserer Hinweise, können wir sagen, ist triadisch: Wir stehen am Eckpunkt des Zeigens, das Bezeichnete liegt an einem der anderen Eckpunkte, und am dritten befindet sich derjenige, dem unser Hinweis gilt.

Wenn die Person, deren Aufmerksamkeit ich mittels der Zeigegeste und der Äußerung auf das Bezeichnete gelenkt habe, meinen Hinweis bestätigt (oder auch nicht bestätigt), nimmt sie virtuell meinen Standort ein, indem sie mich ihrerseits darauf hinweist, daß mein Hinweis bei ihr angekommen ist (oder auch nicht angekommen ist). Die Standorte des Zeigens und Bezeichnens sind symmetrisch und äquivalent.

Du gibst mir die Todesanzeige eines alten Freundes, der mir im Rahmen deiner Geselligkeit nicht unbekannt geblieben war; es ist augenscheinlich, was du mir damit sagen willst, auch wenn deine Geste wortlos war. Aufgrund deiner hinweisenden Geste ist meine Aufmerksamkeit von dem, worum es ihr geht, absorbiert. Ich habe verstanden, mit welcher Absicht du mir die Anzeige gereicht hast, nämlich mich nicht nur vom Tod des Freundes in Kenntnis zu setzen, sondern deine Betroffenheit und Trauer kundzutun oder mich zu bestimmen, an deiner traurigen Gestimmtheit Anteil zu nehmen. Um deine Geste als Geste, deinen Hinweis als Hinweis zu verstehen, muß ich sie als wissentliche Geste und als absichtsvollen Hinweis erkennen.

Wir lenken die Aufmerksamkeit des Hörers mittels Gesten und Worten auf das, was wir ihm zeigen, worauf wir ihn hinweisen möchten. Wir nehmen im Verlauf der Bezeichnung oder Zeige- und Zeichenhandlung nicht nur selbst wahr, was wir bezeichnen, sondern schicken gleichsam die Wahrnehmung des anderen auf den Weg der Zeichen.

Die Grammatik unserer Sprache erlaubt uns, diesen komplexen Vorgang durch die Verwendung von direktem und indirektem Objekt der Aussage zu bewerkstelligen. So sagen wir etwa:

1. Du gibst mir die Milch.
2. Du gibst mir die Todesanzeige.

Trotz der Gleichsinnigkeit der grammatischen Form beider Sätze drücken sie ganz Verschiedenes aus. Der Satz, wonach du mir die Milch gibst, setzt voraus, daß ich dich beispielsweise darum gebeten habe, sie mir über den Tisch zu reichen. Und ich werde das Gefäß mit der Milch, das du mir reichst, entgegennehmen, ohne groß darauf zu achten, ich ergreife es mit einer routinierten oder habituell gewordenen Geste. Dagegen sagt der zweite Satz etwas anderes, nämlich, daß du mit deiner Geste meine Aufmerksamkeit auf die dargereichte Todesanzeige und ihre Bedeutung für dein Dasein allererst hinlenken willst.

Wir würden nicht sagen, daß du mich bei der Darreichung des Gefäßes dazu veranlassen möchtest, dieses Ding eigens ins Auge zu fassen, oder mich dazu bestimmen willst, es eigens wahrzunehmen. Anders freilich mit der Todesanzeige: Sie willst du mich eigens wahrnehmen und meiner hellen Aufmerksamkeit zuführen lassen.

Es war nicht deine Absicht, als du mir die Milch gereicht hast, mit mir ein Gespräch über ihre Herkunft oder besondere Qualität anzuknüpfen; gewiß aber wiederstrebt es dir nicht, wenn ich die Tatsache, daß du mich mit der Todesanzeige auf das Ableben des Freundes aufmerksam gemacht hast, zum Anlaß nehme, mich nach dem Verstorbenen und deinem persönlichen Verhältnis zu ihm zu erkunden.

Die Grammatiker sprechen vom näheren und entfernteren Objekt oder Satzgegenstand, wobei die grammatische Nähe durch den Gebrauch des Akkusativs, die grammatische Ferne durch den Gebrauch des Dativs ausgedrückt wird.

Es ist für das Verständnis der grammatischen Funktionen wesentlich, daß wir uns durch die auf antiken Sprachgebrauch und letztlich die Ontologie des Gegenstands der griechischen Metaphysik zurückgehenden Bezeichnungen für das nähere und fernere Objekt nicht irreleiten lassen, als handele es sich bei diesen Bezeichnungen um Angaben eines vermeßbaren Abstands zwischen dem Wahrnehmenden oder dem Sprecher und den von ihm ins Auge gefaßten oder seine Sensorik stimulierenden Gegenständen: Vielmehr sind Ferne und Nähe hier als Sinnbezüge zu verstehen.

Das ontologische Mißverständnis der Sprache und ihrer grammatischen Funktionen und Strukturen hat dazu geführt, die Zeichenhandlung nach dem Reiz-Reaktions-Schema oder dem Muster von Stimulus und Response zu deuten: Als wäre, was ich sage, eine Antwort ähnlich dem Bild oder der Vorstellung, die eine unmittelbare Wahrnehmung oder die Wahrnehmung eines direkten Objekts in meinem nahen Umfeld in mir hervorruft. Oder als wäre, was ich dir sage, eine Art Stimulus, den du wenn es mit rechten Dingen zugeht mit der ihn repräsentierenden klaren und deutlichen Vorstellung der Sache, auf die ich ziele, begleitest und beantwortest.

Der Weg der Zeichen verläuft nicht über die klaren Bahnen der Sensorik, sondern die labyrinthischen Wege der Grammatik, die nicht die Grammatik der Ontologie des Gegenstandes darstellt. Ich könnte dich auch auf den abwesenden Freund Peter aufmerksam machen, indem ich seinen Namen erwähne, und die reale Entfernung zum realen Gegenstand namens Peter verschwände vor der Nähe des Sinns, der dir vielleicht mit seinem Namen aufginge und gegenwärtig würde.

Mittels der Zeigegeste wecken wir wohl die Aufmerksamkeit eines anderen auf den Weltausschnitt, den wir ihm zu zeigen beabsichtigen; doch er muß schon vorab verstanden haben, daß sich in diesem Weltausschnitt oder diesem Ereignishorizont etwas unter einem bestimmten Aspekt zeigt. So wenn ich auf Peter zeige, die Person gleichen Namens, wenn auf das Gefäß mit Milch, eben ein solches Gebrauchsding. Du wirst durch meine Zeige- und Zeichenhandlung darauf verwiesen, daß es sich bei dem Gemeinten nicht um ein Körperding oder ein Exemplar der Gattung homo sapiens oder eine Exemplifikation des Begriffs mit dem Umfang „animal rationale“ handelt, sondern um keinen anderen als Peter; und bei dem Ding, das du mir auf mein Geheiß hin reichst, nicht um einen materiellen Gegenstand mit spezifischen Eigenschaften, sondern um nichts anderes als eben dieses Gebrauchsding „Milchgefäß“.

Ich kann nur auf etwas zeigen, was sich (dir unter einem bestimmten Aspekt) schon gezeigt hat, nur von etwas sprechen, was (dir unter einem bestimmten Aspekt) schon zur Sprache gekommen ist.

Jemandem etwas mitteilen hat eine semantische Ähnlichkeit mit dem Vorgang, jemandem ein Geschenk zu machen. Gewiß erregst du die Aufmerksamkeit der Dame, der du den prächtigen Blumenstrauß überreichst; aber das Ansinnen oder der Sinn dieser Gabe oder Mitteilung ist nicht, die Freundin mit dem schönen Gegenstand bekannt zu machen, sondern sie in ihm dein Geschenk sehen zu lassen.

Jemanden etwas sehen, wahrnehmen, verstehen zu lassen ist ein ausgezeichneter Modus der Zeichenhandlung, bei dem der sensorische Part der Weckung der Aufmerksamkeit einen integralen Bestandteil der semantischen Funktion der Mitteilung darstellt.

Wir können dies anhand solcher Fälle erläutern und verdeutlichen, bei denen die Zeichenhandlung scheitert und gleichsam auf den sensorischen Bahnen der Aufmerksamkeit, die wir mit ihr wecken, steckenbleibt. Wenn du mir die Todesanzeige deines Freundes zeigst und ich meine Bewunderung oder mein Mißfallen über ihre ästhetische Gestaltung und Aufmachung äußere, hat die Zeichenhandlung aufgrund meiner mangelnden Achtsamkeit das gewünschte Ziel verfehlt, mich an deiner Betroffenheit und Trauer Anteil nehmen zu lassen. Insgleichen, wenn ich deiner Einladung gefolgt und dir auf den Pfaden deiner Kindheit in deinem Heimatort gefolgt bin; du zeigst mir das Elternhaus, den alten Garten, die Aussicht von der Anhöhe über die Weinberge und den Fluß. Wenn ich mich nun wie ein Tourist aufführe, ständig die Kamera zücke und mich lobend über die gelungenen Motive äußere, wirst du enttäuscht sein. Hier scheiterte die Zeichenhandlung an meiner Begriffsstutzigkeit und Engherzigkeit, die mich den Sinn des Gesehenen auf die Größe von Postkartenmotiven haben verkleinern lassen.

Unsere Sinne, vor allem Gesicht und Gehör, aber auch Geruch, Geschmack und Getast, sind gleichsam eingetaucht in die unbestimmte Fülle der in der Welt oder als Welt ausgebreiteten Zeichen; es ist daher ein Irrweg, gern von den eifrigen Verfechtern der Naturalisierung des Geistes und der Sprache betreten, nämlich im sterilen Labormantel vor den Zeichen zurücktreten und gleichsam mit dem Vergrößerungsglas des Feldforschers ihre unbefleckte Empfängnis im Schoß der Sinne oder ihre Taufe im Bad der Sinnlichkeit erblicken zu wollen. Denn die Wege der Zeichen, sind, kurz gesagt, nicht Nervenbahnen, sondern durchqueren das ganze Feld unseres Aufenthalts hinnieden, das sie vom Zentrum unserer Absichten und Wünsche, unserer physiognomischen und leiblichen Regungen bis zur Grenze des nicht mehr Zeig- und Sagbaren verweben und vernetzen.

Der Dichter am Fenster sieht die Zeichen wie Wolken vor dem unendlichen Blau und Grau des Himmels dahinziehen, das im Rhythmus des Lichtes atmet und pulsiert. Oder sollen wir eher sagen, er sieht, wie sich die Zeichen zu Wolken und Dunst, Regen und Gewitter kondensieren, verdichten und wieder auflösen?

In der Dichtung (dieser Art) ist der Weg der Zeichen rhythmisch und zyklisch, wie die Zeiten des Tages und die Zeiten des Jahrs ihren in sich wiederkehrenden Rhythmus haben; so nimmt es nicht wunder, wenn die Dichtung der wolkenhaften Zeichen oder zeichenhaften Wolken wieder zum Reim, der Resonanz des immer gleichen, immer wechselnden Sinnes, zurückkehrt.

Die Zeichenhandlung gerät dem Dichter zum reinen Spiegel der Zeichengabe durch den Himmel, das Wetter, das Licht, das an der schwellenden Frucht herabtropft, mit den Schatten der Blätter spielt, sich im Glimmen der Kristalle und Flocken vergißt.

Die Wolken steigen aus dem grenzenlosen blaugrauen Grund des Himmels hervor, die Zeichen aus dem leeren Abgrund des Seins, der wie das weiße Blatt gleichsam von einer unsichtbaren rechten Hand mit rätselhaften Chiffren beschrieben wird, die eine unsichtbare linke Hand hernach wieder verwischt. Es ist, mit dem dunklen Denker zu reden, gleich einem liebenden Streit, ein Streit wohl, aber um nichts.

Dumme Gläubige der Rationalität halten dies freilich für einen Skandal, daß es bei alledem um nichts gehen solle, nichts, was sich rechtens begründen oder erklären und für gut befinden läßt, für ein Ärgernis, daß sich die Wege der Zeichen im Grenzenlosen verlieren und kein gerechter apokalyptischer Sturmwind das allegorische Einerlei der Wolken für immer zerstiebt, für eine Torheit, daß sich die Herde der ziehenden und herumtollenden Zeichen nicht in einen Pferch zu nützlicher Schur und alle menschliche Sehnsucht stillender humanitärer Milchwirtschaft und alle krakeelenden Mäuler stopfender Schlachtung einsperren läßt.

Doch da ist keine Sonne der Wahrheit, die da stille stünde, bis die Rache vollendet wäre, es kommt ja wieder die Nacht und mit der Nacht das alte Grauen und darüber das schrecklich-schöne Entzücken des kalt blitzenden Sterns.

Hölderlin hat die Gedichte aus der Betrachtung am Fenster gleichsam freihändig geschrieben oder improvisiert; es gibt zu ihnen keine Konzepte, langwierig bearbeiteten Entwürfe und Skizzen (wie noch aus der heroischen Zeit der großen Hymnen). Es sind Niederschläge einer Art spontaner, aber hochkonzentrierte Kalligraphie, wie wir sie auch von chinesischen und japanischen Meistern der Tuschzeichnung und schön geschriebenen Poesie kennen. Ihre vollkommene Form und rhythmisch wohlgestimmte dichterische Gestalt macht die vollkommene Harmonie der Welt transparent, von der sie handeln.

Doch um welche Welt geht es? Etwa die einer hintersinnigen Bukolik, eines metaphysischen Idylls, einer Utopie des Friedens und der endlich mit sich ins Reine gekommenen Menschheit? Keineswegs, wie uns dünkt. Es ist eine vollkommen surreale Welt der Zeichen, es sind auf der blaugrauen Folie der Leere seltsam schwerelos gestrichelte, getupfte und sanft gefurchte Wege der sich im reinen Unbestimmten oder im grundlosen Geheimnis sich findenden, sich verlierenden, sich wiederfindenden Zeichen.

Welche Leere? Nun, vielleicht jene, die wir nicht im Zustand der Bedrängnis vor dem Alb der wimmelnd entwurzelten Massen oder dem Gespenst der eigenen Vergangenheit und Zukunft, sondern im Zwielicht der in ihre eigenen blauen Tiefe tauchenden Angst erfahren; vielleicht jene, die wir als Gestimmtheit nicht der in der Zerstreuung oder Übersättigung sich härmenden Langeweile, sondern des aus der heiteren Fülle der eigenen Geringfügigkeit und Verlorenheit quellenden Gleichmuts oder als glücklichen Ennui erleben.

 

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