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Ich sagen können

13.12.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir sagen, er sei im Nebenzimmer und schlafe; den wir meinen, ist demnach nicht identisch mit seinem Bewußtsein.

Worin liegt das Widersinnige, wenn einer sagen würde: „Ich schlafe.“?

Wir sehen, wie einer lächelt, nicht wie er sich erinnert. Wir müssen ihm unter gewöhnlichen Umständen glauben, wenn er sagt: „Ich erinnere mich …“

„Wer hat das gesagt?“, fragt der Lehrer. „Ich“, sagt der Schüler. Ist, wer hier ich sagt, die materielle Entität, deren Ort ich bestimmen kann? Nein. Es hätte eine Maschine sein können.

Das Gedicht von Trakl, das Andante der Schubert-Sonate wirken auf mich schwermütig; sind das Gedicht und das Musikstück schwermütig? – Und wieviel davon, die erste Zeile, die ersten drei Takte oder das Ganze?

Er hat Schmerzen im Fuß; aber der Fuß hat keine Schmerzen.

Wir bedauern nicht den schmerzenden Fuß, sondern jenen, der Schmerzen hat.

Derjenige, der Schmerzen hat, ist nicht der Körper, der am Fuß verletzt worden ist; aber auch nicht die Seele, denn sie hat keinen Fuß, in dem sie Schmerzen empfinden könnte.

Ich finde in alten Briefen die Beschreibung einer Wanderung zu zweit; und dann erkenne ich, daß der eine der Wanderer ich selbst gewesen bin.

Woran erkenne ich, daß ein Foto mich selbst darstellt? Weil es mir so ähnlich sieht?

Nichts scheint mir ähnlicher als mein Spiegelbild; dennoch kann es passieren, daß ich auf ein spiegelndes Schaufenster zugehend mich nicht wiedererkenne.

Es könnte sein, daß alle Erkenntnis, wie Platon meint, eine Art Wiedererinnerung wäre; doch nicht mein Wissen von mir selbst.

Ich erinnere mich, daß ich gestern im Park spazierenging. Der Sachverhalt, gestern im Park gewesen zu sein, ist der Inhalt meiner Erinnerung, doch die Tatsache, daß sie meine Erinnerung ist, wird darin nicht abgebildet und erfaßt.

„Mir geht es gut.“ – Ist dies der Ausdruck eines Körpergefühls?

Ich sehe, wie er lächelt und sich angeregt unterhält; ich sage: „Ihm geht es gut.“ Das Lächeln und das angeregte Plaudern sind Kriterien meiner Feststellung, daß es ihm gut geht.

Habe ich Kriterien zur Hand, um mit Grund sagen zu können: „Mir geht es gut.“?

Das Wissen, aufgrund dessen ich sage: „Es geht ihm gut“, ist echtes Wissen, insofern es als scheinbares Wissen entlarvt werden kann, wenn sein Lächeln und sein angeregtes Plaudern sich als Masken einer tiefen Traurigkeit dingfest machen lassen.

Wenn ich ohne zu heucheln oder zu lügen, bekenne, daß ich mich wohl fühle, kann meine Äußerung nicht angezweifelt werden.

Äußerungen, die nicht angezweifelt werden können, stellen keine Form des Wissens dar. Demnach ist das Wissen von mir selbst, das sich in solchen Äußerungen kundtut, kein eigentliches oder epistemisches Wissen.

Daraus folgt: Das, was wir Selbstbewußtsein nennen, ist keine Form des Wissens.

Wissen kann in Aussagesätzen analysiert werden; sie haben die grammatische Form: „Ich weiß, daß p.“

Daraus folgt: Wir können die grammatische Form der Aussagesätze nicht für den Ausdruck dessen verwenden, was wir mit Selbstbewußtsein meinen.

Aber ich sage doch: „Ich fühle mich gut.“ Nun, dann ist dies keine Aussage im strengen Sinn, sondern ein Ausdruck, ähnlich wie auf primitiver Stufe „Oh!“, „Schön!“ oder „Aua!“

Das, was wir mit Ich meinen, kann man nicht analysieren wie ein Wassermolekül oder einen Hirnzustand.

Zu sagen „Das Foto stellt N. N. dar“ oder „Es ist seine Unterschrift“ ist etwas anderes als zu sagen „Der da auf dem Foto bin ich“ oder „Das ist meine Unterschrift.“

Beruht die Möglichkeit, ich zu sagen, auf einer Form der (symbolischen) Identifikation? Nein. – Ich kann dieses Fahrrad, dieses Auto, diese Frau aufgrund von Dokumenten oder gewissen Kriterien als mein Fahrrad, mein Auto, meine Mutter identifizieren, aber nicht meine Hand, meinen Körper, meine Erinnerung.

Die Möglichkeit, ich zu sagen, ist die unmittelbare Voraussetzung und Bedingung der Sprache, die wir sprechen.

Ein Austausch von Zeichen, der wie ein Roboterprogramm nicht gleichsam an der Angel des Ich-Sagens, der ersten Person Singular (und Plural) oder des Selbstbewußtseins schwingt, ist nur scheinbar eine Sprache.

Alle sprachlichen Handlungen, die wir performative Sprechakte nennen, wie das Behaupten, Fragen, Befehlen, Wünschen oder Deklarieren hängen und schwingen an der Angel des Ich-Sagen-Könnens und des Selbstbewußtseins.

Was wir äußern, ist bestenfalls logisch stimmig und konsistent; doch die Tatsache, daß wir uns auf logisch stimmige und konsistente Weise äußern, ist keine logische Tatsache, sondern beruht auf der (außerlogischen) Möglichkeit, ich sagen zu können.

„Alle Menschen sind sterblich.“ – „Sokrates ist ein Mensch.“ – „Also ist Sokrates sterblich.“ – Doch die Erkenntnis, daß ich sterben werde, ist keine logische Folgerung, sondern beruht auf unmittelbarer Einsicht, auch wenn die Erfahrung des Todes anderer in sie eingeht.

Ich bin mir vorsprachlich gleichsam transparent im Medium der Empfindung; die Empfindungen sind gleichsam das liquide und fluide Element, in dem das vorsprachliche Ich sich tummelt und badet.

Ich spüre die Kälte in der Hand, im Körper; ich kann sagen, daß mir kalt ist, daß ich friere. Ich sage nicht, meine Hand, mein Körper friert.

Nur scheinbar können wir mit Äußerungen wie: „Es tut weh“ oder „Wie herrlich (schön, schrecklich)!“ in ein anonymes sensorisch-sensuelles Feld des Vor-Ichs gelangen; denn die natürliche Ergänzung dieser Äußerungen lautet: „Es tut mir weh“ und „Wie herrlich (schön, schrecklich) mich das anmutet!“

„Er erinnerte sich daran, wie er einst als Kind in diesem Garten spielte.“ Um die Identität dessen, der sich erinnert, mit demjenigen, an den er sich erinnert, zu markieren, sagen wir: „Er erinnerte sich daran, wie er selbst einst als Kind in diesem Garten spielte.“ Doch damit haben wir die Stufe des Selbstbewußtseins noch nicht betreten, denn es könnte ein mechanisches Verfahren geben, mit dem die Erinnerung eines N. N. daran, daß ein N. N. einst in diesem Garten spielte, modelliert würde.

Dies wird klar, wenn wir sagen: „Ich erinnere mich daran, wie ich einst als Kind in diesem Garten spielte.“ – Und dies können wir zur Verdeutlichung umformulieren und sagen: „Ich erinnere mich daran, einst als Kind in diesem Garten gespielt zu haben.“ Was wiederum sinngleich ist mit der Formulierung: „Ich erinnere mich: Ich habe einst als Kind in diesem Garten gespielt.“

Dagegen läßt der Satz: „Er erinnert sich: Er hat einst als Kind in diesem Garten gespielt“ ohne zusätzliche Markierung („selbst“) offen, ob es sich um dieselbe Person handelt.

Es ist charakteristisch für den Ausdruck der Selbstgegenwart, daß wir sie mit Verben des Empfindens, Fühlens, Denkens, Erinnerns (verba sentiendi et cogitandi, im Lateinischen mit dem a. c. i. und Reflexivpronomina zu konstruieren) in der ersten Person Präsens bezeichnen. Denn zu sagen: „Ich fühle …“ ist epistemisch gesehen etwas anderes, als zu sagen „Ich fühlte …“ und „Ich erinnerte mich …“ etwas anderes als „Ich erinnere mich …“

Die Aussage „Ich erinnerte mich“ impliziert nicht die Tatsache, daß ich mich jetzt daran erinnere, im Gegensatz zu der unter normalen Umständen gemachten Aussage „Ich erinnere mich.“

„Ich hatte gestern um 10.45 Uhr stechende Schmerzen im Fuß“ – aber es könnte 10.55 Uhr gewesen sein; Unklarheiten oder Zweifel dieser Art tauchen nicht auf, wenn ich sage: „Ich habe stechende Schmerzen im Fuß.“

Insofern ist der Ausdruck in der ersten Person der Vergangenheit „Ich fühlte/erinnerte mich/dachte …“ dem Ausdruck in der dritten Person der Gegenwart „Er fühlt/erinnert sich/denkt …“ verwandter als der Ausdruck in der ersten Person der Gegenwart „Ich fühle/erinnere mich/denke …“ dem Ausdruck in der dritten Person, ob nun im Präsenz oder der Vergangenheit, bei denen die bekannte epistemische Asymmetrie auftritt.

„Ich habe ihm gestern das ausgeliehene Buch wiedergebracht“ ist der Aussage epistemisch verwandter: „Er ging gestern im Park spazieren“ als der Aussage: „Ich verspreche dir, das Buch morgen wiederzubringen.“ – In der ersten Aussage könnte ich lügen, in der zweiten könnte ein Irrtum stecken – beides aber nicht in der dritten. Ich könnte mein Versprechen zwar nicht im Ernst machen, aber dann würde ich nicht lügen, sondern unaufrichtig sein.

Ich kann nichts im Namen eines anderen oder stellvertretend versprechen. Insofern ist die Rückbezüglichkeit in Haupt- und Nebensatz unabdingbar, wenn ich beispielsweise sage: „Ich verspreche dir, daß ich das Buch morgen wiederbringe.“

Daß ich dich gestern gefragt, gebeten, dir etwas versprochen, zu etwas geraten oder vor etwas gewarnt habe, kann bezweifelt oder in Abrede gestellt, ja widerlegt werden, nicht aber, wenn ich dich jetzt etwas frage, um etwas bitte, dir etwas verspreche, dir zu etwas rate oder dich vor etwas warne.

Aussagen, die einen unmittelbaren Ausdruck der Empfindung, des Gefühls, der Erinnerung oder des Denkens oder Sprechakte in der ersten Person Präsens darstellen, können nur inkonsistent sein, wenn der Sprecher der betreffenden Sprache nicht mächtig ist oder ihre Inkonsistenz als Kriterium für gewisse Formen von Wahnsinn gilt: „Es zieht und mir wird warm“, „Es tut weh und stimmt mich heiter“, „Ich lüge, indem ich dir sage …“, „Ich verspreche es dir, aber werde es nicht tun.“

Der letzte Punkt erhellt auch aus der Tatsache, daß wir üblen Nachreden, Beleidigungen, Flüchen die performative Kraft nehmen, indem wir den Sprecher für geistig minderbemittelt, unzurechnungsfähig oder verrückt erklären.

„Ich habe sie geliebt“ ist epistemisch der Aussage „Er hat sie geliebt“ verwandter als dem Sprechakt: „Ich liebe dich.“ Das Narrativ einer Liebesepisode in der Vergangenheit ist gleichsam episch abgeschlossen, während das Liebesbekenntnis von Angesicht zu Angesicht dramatisch offen ist; es impliziert ja Aussagen wie: „Du kannst mir vertrauen“, „Du kannst, was immer geschehe, dich auf mich verlassen“, „Du kannst, wann immer du willst, zu mir kommen.“

Aufgrund der unmittelbaren Selbstbezüglichkeit des Liebesbekenntnisses ist es nicht möglich, stellvertretend zu lieben; wenn wir auch im Namen eines anderen uns um einen Anvertrauten oder Schutzbefohlen kümmern können.

Der Schauspieler auf der Bühne meint nicht, was er sagt, wenn er der Schönen seine Liebe gesteht, wie er es meint, wenn er es ihr nach der Aufführung hinter der Bühne ins Ohr flüstert. Daß wir das Ich und das Ich-Sagen fiktionalisieren können, ist eine Voraussetzung dramatischer, epischer und lyrischer  Kunst. – Nur wenn wir Sappho oder Goethe als historische Personen von dem fiktiven oder imaginären Ich unterscheiden, das sie in der Liebesode oder der Marienbader Elegie beschwören, verstehen wir ihre Dichtungen.

Wir sind gegenwärtig für uns selbst und andere in dem, was wir sagen und tun. Daher bürdet uns die unmittelbare Gegebenheit, wir selbst zu sein, eine sittliche Haltung oder die Pflicht auf, was wir tun und sagen, so unzweideutig und klar wie möglich zu tun und zu sagen. So werden wir uns selbst und anderen durchsichtiger für das, was wir sind – auch wenn ein Rest von Undurchsichtigkeit, Zweideutigkeit und Verborgenheit haften bleibt, wir wissen nicht, ob wegen der Schwäche unserer Natur oder einer ihr eingesenkten, alle Bruchstücke unserer Vergegenwärtigung transzendierenden numinosen Größe.

 

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