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Irisierender Kristall

13.09.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Der Unterschied zwischen dem, der vom Fliegen träumte, und jenem, der eine Flugmaschine ersann.

Allzu viele lyrische Blüten, auf die Fliesen oder den Asphalt der Prosa gestreut, machen sie unscharf.

Die Erinnerung des Gedichts kann sich anders als die der Historie am Quell der Einbildung erfrischen.

Je bedeutender die historische Persönlichkeit und die kulturellen Folgen ihrer Tatkraft, umso heller und länger strahlt ihre Aura in Legenden und Mythen, dem poetischen Substrat noch des Alltagsmenschen. – Die kritische Historie mag die Wurmstichigkeit ihres Kerns erweisen, die Legende überlebt.

Was wir nicht auf Dauer vortäuschen, was wir nicht spielen können, das müssen wir sein.

Man kann nicht Vater oder Mutter spielen; Erwachsene, Liebende, mögen wie Kinder tun, und Kinder können wohl Papa und Mama spielen, aber nicht Kinder.

Der Frömmler, der den Frommen mimt, ist nur bigott.

Der Amusische, der den Künstler mimt, ist nur ein Scharlatan.

Wer so tut, als sei er Arzt, Jurist, Architekt, ist nur ein Hochstapler.

Wer so tut, als liebe er die Frau, um deren Hand er anhält, nachdem er sich ihre Liebe erschlichen hat, ist nichts als ein Heiratsschwindler.

Die Annahme, daß wir nichts als konventionelle Rollen in konventionell geprägten sozialen Situationen und Dramen spielen, ist falsch, und folglich auch all die erlauchten Theoriegebäude, die sie zum Fundament nehmen.

Die Theorie, nach der wir sind, was wir anderen oder uns selbst vorspielen, ist eine Ausgeburt des Größenwahns, denn aus ihr folgt gemäß der korrupten Logik des Wahns, wir könnten die Rollen beliebig wechseln, die Masken willkürlich tauschen, uns heute diese und morgen jene soziale, charakterliche oder sexuelle Maske überstülpen.

Höflich zu sein bedeutet nicht Sympathie zu heucheln, sondern Antipathie oder Gleichgültigkeit hinter dem Schleier konventioneller Floskeln und Formen zu verbergen.

Dichten ist keine Form des Bekennens oder der unmittelbare Ausdruck ungefilterten  Fühlens, als würde man Intimwäsche auf für alle Passanten sichtbaren Wäscheleinen aufhängen.

Der Dichter ist nicht frei, sondern gebunden – an die Form, die Tradition, und sei sie in ihm, er an ihr auch zerbrochen.

Auch die ungebundene Prosa des alltäglichen Redens hat ihre Form; wer fragt, muß den Frageton gebrauchen, wer fordert, mit Nachdruck sprechen, wer sich entschuldigt, die Stimme senken.

Für den Steckbrief genügt die Fotographie; die künstlerische Porträtzeichnung enthüllt intime, heimliche, aber charakteristische Züge, die sogar dem Porträtierten bisher entgangen sein mögen.

Das Foto zeigt, gemessen an der Plastizität und physiognomischen Mannigfaltigkeit des künstlerischen Porträts, ein Phantom.

Ein Foto zu schießen kommt der Wahrheit gleich, den Gegenstand, die Landschaft, den Menschen, nicht gesehen zu haben.

Das Foto ist, und sei die Aufnahme noch so scharf, gemessen an der Genauigkeit der Linienführung der künstlerischen Zeichnung, verschwommen.

Dichterische Formen, vom einfachen Lied bis zur hochartifiziellen Ode, sind lautliche, rhythmische und gedankliche Ordnungsgefüge.

Die Ordnungsgefüge des Gedichts können aus den Ordnungen des Seelischen, Sozialen oder Politischen nicht abgeleitet werden. – Und sie spiegeln diese auch nicht mehr oder weniger verhüllt wider, wie es die törichte Annahme der Widerspiegelungstheorie nahelegt.

Die sprachliche Ordnung der Alltagsrede mag vage, diffus, gleichsam löchrig sein; was ihr an semantischer Präzision mangelt, kann indes im Lichte der Redesituation ergänzt und komplettiert werden.

Dagegen ist die Situation des Gedichts, wenn es sich nicht gerade um ein Siegeslied Pindars oder ein Chorlied des Sophokles handelt, ihm einbeschrieben: Monolog, Dialog, Rollengedicht, bukolische Landschaft oder asphaltierter Hinterhof, Tages- und Jahreszeit, meteorologische und seelische Atmosphäre, Temperatur und Luftdruck.

Kraft und Magie der Namen: Manchen Dichtern wie Georg Trakl genügen die Allgemeinbegriffe wie Blume, Baum und Tier, andere wie Wilhelm Lehmann erreichen erst Genauigkeit und Tiefe mittels des Gebrauchs von Gattungs- und Artbegriffen wie Hortensie, Haselnuß und Bienenfresser.

Was der Bogen und die Säulenordnung in der Architektur, sind der Atem und die rhythmische Ordnung im Gedicht.

Wie die Plastiken und Reliefs der Götter und Heroen, der biblischen Gestalten und Heiligen von Architraven, Säulen und Pilastern der Tempel und Kathedralen getragen und gestützt werden, so schweben die Bilder, Metaphern und Vergleiche des Gedichts auf den mehr oder weniger ruhigen Atembögen und Wogen seiner rhythmischen Ordnungen.

Die Bilder des Gedichts bedürfen einer gewissen Dunkelheit wie Pilze des Efeuschattens, unter dem sie gedeihen.

Wie lange fließen die Wasser ins Urstromtal, bis an den Ufern Schilf und Weidenbäume erwachen, wie lange fließen Gemurmel und Singsang der Völker, bis sie die Veilchen der Sappho, die Rose des Horaz bewässern.

Je stärker das Gefälle, desto rascher, lebendiger, schäumender strömt das Wasser; an den Katarakten welche Gischt, an den Stromschnellen welche Wirbel; ohne Gefälle droht Gefahr, daß das feuchte Element dümpelt, versumpft, fault. – Die Rhythmen des Gedichts sind sein Gefälle.

Doch kann, wie Goethe sah, der strömende Rhythmus, wird er unvermutet gestaut, sich in eine stille Gelassenheit glätten, in der sich der Mond und die Gestirne spiegeln.

Dennoch: Laut und Hauch und kein Erz, wie es Horaz vermeinte. Aber: Sein Monument überstand die Jahrtausende, obwohl nicht aus Marmor und Erz gebildet, wenn es auch Grünspan angesetzt hat und von Moos unkenntlich gemacht worden ist.

Hölderlin als Hyperion, Empedokles, Ödipus, ja in der Maske Diotimas, Pindars oder des seltsamen Sehers im Turm. – Einer drückt seine eigene Wahrheit bündiger, schmerzlicher, freudiger aus, wenn er dichterisch aus dem Mund eines anderen spricht.

Das Gedicht beschwört die grünen Hügel und Seen der fernen Heimat, und der Wind, der durch ihre Gräser und über ihre lichten Wogen streicht, wird fühlbar im Beben und Leuchten der Worte, es spricht von den verfallenen Gräbern der Ahnen, und das Moos, das sie bedeckt, bildet die Patina eines versunkenen Sinnbilds.

Choreographie der schreibenden Hand.

Die Hand des Sterbenden hält nichts mehr und sinkt, schon fern von der noch an sich klebenden oder an sich nagenden Seele, in den Schnee des bleichen Lakens hinab.

Im Dämmerlicht schrieb die Hand eine Schleife und kehrt wieder zum Ausgang zurück.

Das Boot der Metapher erreicht das jenseitige Ufer nie oder nur wie Strandgut nach hohem Wellengang.

Das steile Gerippe der Stützpfeiler, das den Mauern der gotischen Kathedrale ihre lichtdurchlässige Schwerelosigkeit verleiht. Wären die grammatische Form und der rhetorische Topos das Gerippe des Gedichts, das ihm wie das Gitter dem Kristall die Klarheit und Durchsichtigkeit seiner Struktur gewährt, wie könnten wir auf sie verzichten? – Hier stößt die radikale Forderung der Symbolisten (rien que la musique), das Gedicht müsse wie der Kristall von allen verunreinigenden Einschmelzungen rhetorischen Beiwerks freigehalten werden, an ihre natürliche Grenze, jenseits derer die Wüste des Sinnlosen beginnt.

Die transparenten Farben des Gedichts, die ihr zartes Bildnis nur enthüllen, wenn sie die Sonne der Intuition beleuchtet.

Die logische Intuition beruht auf der nicht lehrbaren, sondern nur als Evidenz aufblitzenden Einsicht in jene Identität, die das Gleichheitszeichen symbolisiert. – Worauf beruht die dichterische Intuition und welcher Symbolismus ist ihr zu Diensten?

Wie wir die Blüten sehen, die Blüten der Dichtung, so sehen sie uns; und wenn sie welken, wenn sie erblinden, welken auch wir, erblinden auch wir.

Die Gestalt des Menschen in der Landschaft, wie er aufrecht stehend die Gräser, die Halme, die Kräuter überragt, und wie ihn die mächtige Eiche überragt und weit darüber die Wolke.

Der zur Quelle geht mit dem Krug und das lebenspendende, fruchtbare Wasser schöpft. Der Krug des Worts, das Wasser des Sinns.

Der Wind, der die Halme biegt, das Wasser, das die Dämmerung und die Nacht mit seinem Rauschen erhellt, sind älter als der Mensch, zugleich als Atem und Rhythmus Elemente des Gedichts, die ihm seine Gegenwart erschließen.

Der Schnee liegt gehäuft zwischen den Zeilen, die kostbare Substanz der Stille, die wir nur ungern vom Versfuß betreten und verwirren lassen.

Hölderlin konnte, der er sein wollte, der Pindar seiner Zeit nicht werden, denn was diesem noch lebendig war als Anlaß des rühmenden Gesangs, der Sieger im pythischen oder nemeischen Wettspiel und die mythische Landschaft seiner Herkunft, war jenem verschollen, ja erstarrt wie die in der Lava konservierten Leichen von Pompeji und Herculaneum.

Das einfältige Wasser plätschert und sickert, windet sich und findet sich, doch du siehst seinem Aufschäumen und Ermatten, seinen labyrinthischen Gesprächen mit dem Schilf und der Weide, der Wolke und dem Regen nicht an, wohin es drängt, ob es irgend münden oder wieder in der Erde verschwinden will. – Der Schrecken der Begradigung und Kanalisierung, der Schrecken der Standardisierung der Sprache.

Natürlich können wir den Schlick und den Müll, die Knochen, die Asche und den Überdruß aus dem verschütteten Brunnen der Erinnerung ans Licht befördern und den widrigen oder grotesken theatralischen Moment als Bekenntnis verkaufen. – Auch dies wäre noch die Verzerrung der Empfindung im Zucken des Gewollten, der höheren moralischen Absicht, der eitlen Deklamation.

Die Form ist der Körper des Gedichts; ohne den Körper, die organische Struktur wäre es ein Gespenst aus wehenden Lauten.

So ist ja der Satz die Form und der Körper des Gedankens, der freilich ebensowenig in ihm haust wie das Gespenst in der Maschine.

Freilich, der Körper des Gedichts ist nicht real, sondern imaginär. Und: Wir können im Gedicht auf Gegenstände zeigen, die es nicht gibt, wie auf die Rose, die nicht welkt, die Rose ohne Dornen.

Zeichen ohne reale Referenz, Name ohne ontischen Träger. Denn wo blüht die blaue Blume? Im Gedicht des Novalis. Wo wandelt die Athenerin Diotima? Im Gedicht Hölderlins.

Wer Diotima einzig als Deckname für Susette Gontard ansieht und dechiffriert, ist musisch blind (musenblind).

Gedicht: Kristall, der ins Licht gedreht geheimnisvoll irisiert. Und wenn es dunkel wird? Er glüht im Dunkel noch nach.

 

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