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Kleine philosophische Lektionen X

23.09.2014

Negativismus, Dialektik

Negativismus ist eine pathologische Neigung, Dialektik ihr logischer Ausdruck.

Leute, die ungeduldig einem ein Loch in den Bauch fragen, Leute, die sich mit keiner Antwort und keiner Aussicht zufriedengeben können, sondern immer weiterfragen und weiterreisen müssen, bis zur nächsten Frage, bis zur nächsten Aussicht, Leute, die mit radikalen Zweifeln und Anfechtungen lieber auf dem Kopf gehen als mit beiden Beinen im Leben stehen wollen, sind Negativisten und mit Vorsicht zu behandeln. Sie sollten keine Entscheidungen für andere und im Auftrag anderer fällen dürfen.

Die vorwitzigen Buben, die auf eine Auskunft hin weiterfragen: „Und warum?“, sind die Vorbilder aller spitzfindigen Denker. Man sollte diese Unsitte deshalb nicht als Zeichen aufbrechender intellektueller Neugierde missdeuten – in Wahrheit ist sie ein Mittel, die geplagten Eltern zu schikanieren und die Umwelt ins Bockshorn zu jagen. Denn es ist nur scheinbar klug und nur scheinbar ein Zeichen geistigen Wagemutes, immer weiterzufragen und weiterzudenken und weiterzureden, anstatt zu gebotener Stunde zu verharren, still zu werden und das Denken stillzustellen.

Negativismus ist ein Ausdruck der Sprach- und Liebesverweigerung: Die Bedeutung der Wörter und Sätze ist nicht dein eigen, sondern du hast sie empfangen und das Empfangene musst du mit deiner Kraft und deinem Sinn beladen. Wenn du liebst, bist du nicht nur nicht allein auf der Welt, sondern weißt dich geringer im Auge des Geliebten. Der Negativist fühlt sich ohnmächtig durch die Last der Sprache und der Gemeinschaft, die sie verkörpert, er fühlt sich verhöhnt und gedemütigt durch die Liebe, die ihn umfasst und die nicht er umfasst.

Er sagt: „Das weißt du nur vom Hörensagen. Aus fremder Leute Mund, denen man nicht trauen kann. Wie kannst du für bare Münze nehmen, was du nicht selbst gesehen, selbst erfahren hast? Die Botschaft, die von Mund zu Ohr sich weiterschleppt, wird unterwegs mehr und mehr entstellt.“ Wie weiß er denn vom Hörensagen außer vom Hörensagen, und wenn er keinem traut, dann darf er sich selbst am wenigsten trauen: Wie kann er noch etwas behaupten?

Wenn er großspurig daherredet: „Die menschlichen Maße sind im Angesicht der unendlichen Weiten des Kosmos eitel und nichtig!“, sage ihm: „Hier ist es unbedingt richtig, den Unschuldigen zu schützen!“ Und wenn er dann wieder dialektisch mit der Anfechtung und Frage kommt, woher du denn die Sicherheit nehmest zu wissen, was „richtig“ bedeute, sage ihm: „Es gibt kein absolutes Maß für den Begriff des Richtigen, denn wenn ich das hätte, woran mäße ich es? Aber es braucht auch keines zu geben: Wir haben das Beispiel solcher Menschen, die recht taten und deren hohen Sinn und deren moralische Integrität auch die vielen anerkennen.“

Wenn er nun aufbraust und bedenklich wird über die Maßen und er stößt dich auf die dialektische Lücke, moralische Integrität könne nur von solchen anerkannt werden, die selbst moralisch integer seien, dann sage bloß: „Ja, so ist es! Nur dem Sehenden zeigt sich das freundliche oder unfreundliche Gesicht.“

Und wenn er dann dialektisch sich aufwirft und dich schilt: „Wie kannst du die Bedeutung eines Allgemeinbegriffs wie Gerechtigkeit, Tapferkeit, Frömmigkeit und Weisheit durch Angabe eines Beispiels aufzeigen – woran ermisst du denn, dass dies Beispiel zutrifft?“, dann folge ihm nicht, sondern halte dagegen: „Wenn du wähnst, kein Wort und kein Begriff habe Bestand, deren Bedeutung nicht zuvor in einem klaren und eindeutigen Verfahren der Definition bestimmt worden ist, so gib mir doch klipp und klar durch ein eindeutiges Verfahren der Definition die Bedeutung des Begriffs Definition an!“

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