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Kleine Poetik in Bildern VIII

19.06.2015

Quintus Horatius Flaccus, Epistula ad Florum, 109–125

At qui legitimum cupiet fecisse poema,
cum tabulis animum censoris sumet honesti;
audebit, quaecumque parum splendoris habebunt
et sine pondere erunt et honore indigna ferentur,
verba movere loco, quamvis invita recedant
et versentur adhuc inter penetralia Vestae;
obscurata diu populo bonus eruet atque
proferet in lucem speciosa vocabula rerum,
quae priscis memorata Catonibus atque Cethegis
nunc situs informis premit et deserta vetustas;
adsciscet nova, quae genitor produxerit usus.
Vehemens et liquidus puroque simillimus amni
fundet opes Latiumque beabit divite lingua;
luxuriantia compescet, nimis aspera sano
levabit cultu, virtute carentia tollet,
ludentis speciem dabit et torquebitur, ut qui
nunc Satyrum, nunc agrestem Cyclopa movetur.

 

Horaz, Brief an Florus, 109–125

Wer ein ordentliches Poem zu verfassen im Sinn hat,
streng auf die Finger klopfe er sich wie ein Wächter der Sitten,
dann hat er den Mut, was Grau in Grau sich daherschleppt,
Worte ohne Belang, die den Ehrenplatz sich erschlichen,
aus der Zeile zu werfen, mögen sie noch so sich sträuben,
gleich den keuschen Jungfern im Tempel der heiligen Vesta.
Retter verlorener Schätze, gräbt er verschollen geglaubte
Worte wieder ans Licht, ein neuer Anblick der Dinge,
Worte, in aller Munde zur Zeit der Ahnen, des Catos
oder Cethegus, hässlich behaust in der Ödnis des Alters.
Höhere Weihen verleiht er dem Wort, das der Volksmund geplappert.
Wie der Strom rauscht über die Ufer, die Erde befruchtend,
strömt er sich aus, und Latiums Glück ist der Reichtum der Sprache.
Schwulstiges schneidet er weg, aber Stellen, die allzu verhornt sind,
heilt er mit Milde, was ganz ohne Kraft, dem weist er die Türe,
leicht zu scherzen scheint er, doch ist er gespannt wie ein Mime,
jetzt den Satyr spielend und jetzt den wilden Kyklopen.

 

Gerade schwamm der Kohlkopf einer Wolke vorbei, jetzt zeigt der Himmel schon wieder sein blaues Gähnen.

Was sagte der Freund beim Abschied? Riss der Fahrtwind der U-Bahn seine Botschaft in Fetzen?

An den rostigen Stacheln des Drahtverhaus am Weidenpfad hängen weiße Wölkchen des Samens der Pappel oder des Löwenzahns, ein Windstoß, und er kommt, warte auf den Abend, warte auf den Morgen, und fegt sie davon.

Der einsame Wanderer geht im Nebel über den beschneiten Hügel und findet, freudig erregt, auf der Rückseite frische Fußspuren, bis er, schicksalsergeben, feststellt, dass es seine eigenen sind.

Der Grobian gibt seinen groben Gelüsten nach und sucht die bunt schillernden Seifenblasen mit seinen groben Händen zu erhaschen, und Herr Unverstand tut desgleichen, weil er die Fragilität solcher Dinge nicht abzuwägen versteht. Beide Herren erhalten keinen Zutritt zur Gemeinschaft der zarten Seelen, die mit Seifenblasen zu spielen verstehen.

Aber ist der Gedanke einer Gemeinschaft lyrisch gestimmter Seele nicht eine contradictio in adiecto? Was sich da auf Lyrik-Festivals tummelt, will wie alle Welt Sensationen. Was immer das lyrische Gedicht leisten mag, dies nicht: Es erfüllt nicht die Erwartungen, sondern wohnt jenseits des Sehnsuchtslands, wo ihre Kartoffeln blühen.

Der Wanderer wacht, als er die Öffnung der Landschaft am Spiegel des tief unter ihm liegenden Sees gewahrt, aus seiner Versunkenheit auf und fühlt sein Gesicht benetzt – er fragt sich: Hat es geregnet oder habe ich geweint? Er weiß es nicht.

Ihr Kommentar zur Existenz des lyrischen Gedichts ist der Hauch eines nervösen Hustens: Hinweggefegt ist der feine Staub, der auf den Flügeln des Gedichts geschimmert hat.

Die Plebejer, die heute die Medien und die Bildungseinrichtungen heimsuchen, besonders im Typus des akademisch qualifizierten Banausen, wollen die Dichtung ihren Meinungen, die wie Nebel zwischen der Amygdala und den Testikeln aufsteigen, unterwerfen. Sie soll moralisch und politisch die hässliche Fratze ihrer Dogmen über das, was sein soll, zeigen und die obszöne Zunge des Ressentiments und des Hasses auf das, was nicht sein soll, herausstrecken. Aber das lyrische Gedicht kreist nicht mit den Raben über dem verwesenden Leichnam dieser Kultur, sondern singt einsam wie der Nachtvogel, auch wenn sich zur gleichen Zeit die anderen Plebejer in Hinterkaukasien die Köpfe einschlagen.

Das Gedicht ist die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Leere des Blattes, die Leere zwischen den Worten, die Leere zwischen den Zeilen. Es ist die leere Schale der Stille und der selbstvergessenen Hingabe des Augenblicks, die wir genießen, die uns genießt. Aber diese Leere, diese Stille, diese Selbstlosigkeit werden nur sichtbar, nur hörbar, nur genießbar, wenn sich in ihr die Worte gleich unvermuteten Blüten auf dem Wasser auftun und wieder schließen.

Das Gedicht ist der auf dem Blatt herausgehobene oder herausgerufene Augenblick, dazu bestimmt, ein Augenblick der Selbstvergegenwärtigung des Schreibers und des Lesers zu sein, wenn es dem ebenmäßigen Wasser des Teiches gleicht, in das ein herbstliches Blatt fällt: Wie das Wasser sich in konzentrischen Kreisen um den Endringling kringelt, so rührt das Selbst des Schreibers und Lesers das Gesicht des ihn tragenden Lebens für den Augenblick seiner Existenz mit einem leichten Lächeln, das schon entschwunden ist, wenn wir das Blatt wenden.

Nehmen wir als Bild für die Struktur und den Bau des Gedichts eine alte Apothekerwaage und legen auf die eine Waagschale die Samen der Bedeutung und auf die andere die Blüten der Worte. Die Echtheit und Körnigkeit des Werks wird durch die Tatsache bezeugt, dass die Blüten und Samen Blüten und Samen derselben Pflanze oder Blüten und Samen derselben Pflanzensorte sind. Wären sie es nicht und schmuggelten wir falsche Samen unter falsche Blüten, würde dies hörbar am Missklang und an der Unverständlichkeit des Ganzen.

Wir bemerken, dass uns das Gleichgewicht der Waagschalen ein Zeichen für die Güte und Vollkommenheit des Gedichts gewährt. Ist eine Schale zu wenig oder eine Schale zu viel beladen, empfinden wir die Unvollkommenheit an den Überhängen oder Löchern der Gestalt und an dem Überhang oder der Dürftigkeit des Sinns.

Die Mängel und Krankheiten des Gedichtbaues sind immer auch Zeichen für die Mängel und Krankheiten der Existenz, der uns allen mitgegebenen Krankheiten des Bewusstseins oder des Selbst. Wenn uns das Gedicht mit wenigen andeutenden Worten das Zeichen unserer Selbstvergegenwärtigung gibt, geraten wir leicht in Bedrängnis und Furcht, mit einem so kleinen Gefährt in den Strudeln des Lebensstroms davongetrieben zu werden und unterzugehen. So häufen wir ängstlich und akribisch Worte um Worte, doch unser Boot wird davon nicht sicherer, sondern schwerer und schwerer und droht am Ende zu kentern.

Sicher können wir uns der tradierten Formen und lyrischen Gattungen wie wind- und wettererprobten Schiffen für die große Reise anvertrauen, in der Hoffnung, sich auf sie zu flüchten rette uns vor all den Gefahren der launischen See. Doch nur wenn wir mit dem Gewicht der eigenen Erfahrung und der sie frisch und genau bezeugenden Worte genügend Ballast an Bord mitbringen, verschaffen wir unserem Gefährt den nötigen Tiefgang, der es davor bewahrt, bei der kleinsten Brise bedenklich ins Schwanken und Trudeln zu geraten.

Die karge Ökonomie der Reihung macht die Empfindung wertvoll und beglückt das Bewusstsein. Die sperrigen Fügungen nach Gründen und Zwecken, in denen die Konjunktionen sich tummeln und zucken wie Aale im Sack, verwirren die Empfindung und trüben das Bewusstsein.

Immer nur über den Frühling zu dichten hieße, auf das Gespräch der weißen Blüten und der weißen Schneeflocken zu verzichten, hieße, nicht wahrhaft über den Frühling zu dichten.

Die moosig-dunklen Herbstgerüche bewirken süßere Lebensmüdigkeit, nachdem die Sterbenswollust der iris-hellen Frühjahrsdüfte das Gedicht gebannt hat.

Wenn du den Blick, den Kuss, die Umarmung dreifach mit metaphorischen Hüllen bedeckt hast, droht die frische Glut der Leidenschaft darunter zu ersticken.

Belasse es bei der harten Schale der Dinge, der rauhen Botschaft des Winds und dem undurchdringlichen Schmelz der Augen – es sind ja Zeichen die Fülle, aber plastischer, runder, körniger als die wolkigen Chiffren des Gefühls und die losen Fransen der Gedanken.

Das Destillat des Rosenwassers enthält mehr von der Essenz des Frühlings als die losen Blätter, die du zwischen die Zeilen streust.

Der Geschlechtsakt gipfelt in einer Art todesähnlicher Ermattung, wenn er den Gipfel der Zeugung erreicht hat. Das Gedicht führt bis zum ersten Schnee des Gipfels und bricht dort ab, wo es die Aussicht freigibt auf den tieferen Glanz eines fernen, unbesteigbaren Gipfels.

Das Glück der Stille nach so viel Worten. Als könntest du in der Nacht das einsame Flackern des Grablichts über dir sehen.

Noch bevor du vermeinst in der frischen Spur der Zeichen deinen Namen entziffern zu können, ist das Gedicht vollendet.

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