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Lebenssinn und Kultur

08.11.2015

Wir gebrauchen den Begriff der Kultur hier als Übersetzung dessen, was Wittgenstein eine Lebensform nennt.

Es scheint, daß wir zumindest einige wesentliche Bestimmungen anführen können, die der Gebrauch des Begriffes der Kultur voraussetzt. Wir gehen gleichsam außen um das herum, was vor aller Augen liegt, und analysieren dann die Haltungen, ohne die kulturelle Lebensformen nicht gedeihen.

Wir treffen in unseren Gärten beides: Beete mit Nutzpflanzen wie Himbeeren, Erdbeeren oder Tomaten, Reihen von Obstbäumen wie Apfelbäumen oder Pflaumenbäumen, und Beete mit Zierblumen wie Flieder, Astern, Orchideen, Gladiolen oder Forsythien.

Wir analysieren aus diesen Gegebenheiten zwei elementare Haltungen (habitus) unserer Lebensform, die wir die ökonomische und die musische Haltung nennen können. Beide Haltungen streben mittels Anwendung von Erfahrungswissen, bestimmter Techniken und tradierter Gewohnheiten einen kulturellen Zweck zu verwirklichen, die ökonomische Haltung den Zweck der Lebenserhaltung (nicht der bloßen Lebensfristung) und die musische Haltung den Zweck der Lebenssteigerung und Lebensverschönerung.

Der Gärtner greift zur Erfüllung seiner Absichten auf Bestände von Stoffen und Materialien wie Samen und Humus, auf handwerkliche Techniken wie das Graben und Jäten, das Säen und Ernten, das Auslesen und Pfropfen zurück, die wiederum Bestände von tradiertem Erfahrungswissen voraussetzen, in denen sich Gewohnheiten zweckhaft umsetzen, wie die Gewohnheit, die Jahreszeiten und Wetterlagen zu beobachten und die Zeiten von Aussaat und Ernte zu bestimmen.

Die musische Haltung findet ihre höchste Wirksamkeit bei Gelegenheit festlicher Tage und der Feiern des Jahreskreises, wenn bei Geburtstagen dem Gefeierten Blumen überreicht und der Tisch mit Blumen geschmückt oder bei religiösen Festen wie Fronleichnam die Straßen mit Blütenmustern ausgeziert und die Fenster mit Heiligenbildern und Sträußen dekoriert werden. Der Sinn für das Dekor verbündet sich hierbei auf harmonische Weise mit dem Wunsch nach erhöhtem Lebens- und Gefühlsausdruck durch metrischen Vortrag und rhythmischen Gang, durch Lied und chorischen Gesang.

Sowohl Samen und Werkstoffe, Grußformeln und Lieder, Festkalender und Jahreskalender sind Bestandteile der materiellen und symbolischen Speicher oder Archive unserer Kultur. Ihre Pflege und Bewahrung erfordern das Vermögen der Sprache und der schriftlichen Aufzeichnung, wie die Aufzeichnung der Termine für Aussaat und Ernte oder von Geburts- und Feiertagen, aber auch die Tradierung der Bestände an die nachfolgende Generation, die wiederum durch Schulung den Umgang und Gebrauch des aufbewahrten Wissens und der tradierten Techniken zu erlernen hat und gegebenenfalls zu verfeinern oder zu erweitern willens und in der Lage ist.

Gärtner, Bauern und Handwerker rekrutieren gleichsam die Soldaten der Lebenserhaltung. Die Zwecke der Lebenssteigerung züchten sich auf einer bestimmten Stufe ihr eigenes Personal, das die festliche Ritualisierung des Lebens in die Hand nimmt: die geistlichen Führer, Schamanen oder Priester, die mittels einer Synthese sakraler und musischer Formen die Lebensverschönerung zur Heiligung des Lebens steigern. Die Priester verwalten ein autonomes symbolisches Archiv: das Charisma, das in den Erzählungen über die verehrungswürdigen Toten aufbewahrt ist und das sie bei Gelegenheit des Ahnenkults und der religiösen Feste, aber auch kritischer Entscheidungen für die Gruppe in ritueller Weise austeilen und spenden. Das sakrale Archiv enthält die Legenden und Mythen von der Ahnen der Gruppe, allen voran den Mythos des Stammvaters, der als göttliche Gründerfigur verehrt wird.

Welche Grenzen haben Garten und Feld? Wer soll Garten und Hof erben? Wer schlichtet bei Grenzkonflikten? Wer treibt das Leihgut oder die aufgelaufenen Zinsen ein, wenn der Begünstigte sich weigert oder verstorben ist und seine nächsten Verwandten sich taub stellen?

Offensichtlich soll der Erbberechtigte Haus und Hof erben. Die geregelte Erbfolge aber setzt die eindeutige Bestimmung des Erbfolgers voraus, diese aber die eindeutige Abstammung, welche nur von der Regelung des Geschlechtsverkehrs in der Institution der monogamen Ehe garantiert werden kann. Wenn die Erbfolge von einem Prätendenten bestritten wird, muß sie amtlich festgesetzt werden.

Damit gewinnen wir eine zusätzliche Haltung, die unsere Kultur prägt und konstituiert, wir nennen sie die juridische, denn ihre Zwecke erfüllen das Recht und die Institutionen des Gerichts. Das Recht wird lange Zeit mündlich überliefert, verlangt aber auf einer bestimmten Stufe der Differenzierung nach einer eigenen Archivierung in Form von Kodifizierungen. Das Archiv der Gesetze wird von den Richtern gepflegt, die sich zunächst aus den Priestern rekrutieren, sich aber auf späterer Entwicklungsstufe der Eigentumsverhältnisse als eigene Sondergruppe konstituieren.

Wir gelangen zu dem Schluß, daß wir den Lebenssinn als Erfüllung von kulturellen Haltungen, der ökonomischen, juridischen oder musischen (und welche immer noch als weitere wesentliche Haltungen angeführt werden können) anzusehen berechtigt sind. Wer eine kulturelle Haltung erfüllt, vertieft, verfeinert oder erweitert, lebt sinnvoll.

Damit erhalten wir eine Bestimmung des Lebenssinnes, die gänzlich unabhängig von jeder speziellen Moral oder von einer metaphysischen Betrachtung über das Wesen des Menschen oder der Geschichte aufgestellt werden kann. Wir können die Definition vereinfachen und handlich machen in der Formel: Lebenssinn ergibt sich aus der Kombination von sinnvoller, der Förderung der Gemeinschaft dienender Arbeit und Kraftanstrengung sowie des musischen Spiels in das Leben steigernden oder verschönernden Ritualen und Festen.

Wer durch äußere Mächte wie Krieg, Gewalt oder den allgemeinen Verfall der kulturellen Haltungen oder durch innere Mächte wie Geisteskrankheit oder Perversion daran gehindert ist, sich der Erfüllung einer kulturellen Haltung zu widmen, büßt an Lebenssinn ein oder verliert ihn gänzlich.

Natürlich ist die Pflege des Gartens ein primitives Modell für eine Lebensform. Wir können aber statt Garten auch Betrieb und Unternehmen, Schule und Hochschule, Militär und Verein, ja Volk und Nation einsetzen, und kommen zu denselben Ergebnissen.

Wir verweisen mit unserer Bestimmung des Lebenssinns alle tragischen Entwürfe ins Reich philosophisch überspannter Legenden, die wie die Entwürfe von Kierkegaard oder Heidegger von einer unauflösbaren Spannung zwischen der metaphysischen Bestimmung des Menschen als eines einsamen, nur sich selbst verantwortlichen Ego oder eines in das Dasein der Angst geworfenen Wurfs auf der einen Seite und seinem uneigentlichen Dasein in der kulturellen Gemeinschaft und ihren Institutionen auf der anderen Seite ausgehen. Wir können nur sagen, was die Sprache unserer Lebensform hergibt. Über den Rest bewahren wir Schweigen.

Warum sollte, wer die musische Haltung anstrebt, in tragischer Selbststilisierung die Ehe verwerfen und die Verlobte vor den Kopf stoßen? Warum sollte das Wissen um die letzte Einsamkeit des eigenen Sterbens unser gemütliches Plaudern oder unseren vergnügten Tratsch über Hinz und Kunz ins uneigentliche Gerede herabmindern?

Wir sehen nur mehr das Komische in Fällen, in denen einer meint, was er nicht sagt, oder einer sagt, was er nicht meint, oder einer will, was er nicht kann, oder einer kann und erkünstelt, was keiner von ihm verlangt.

Allerdings sind wir darüber im Bilde, daß einer seinen eigenen Garten in Raserei und Wahn der Selbstzerstörung zu verwüsten imstande ist; daß eine Gruppe die Gärten und Äcker, die Stätten der Sinnproduktion und die materiellen und symbolischen Archive benachbarter Gruppen zu zerstören imstande ist. Diese Einsicht bietet keinen prinzipiellen Einwand gegen die These von der kulturellen Erzeugung des Lebenssinnes. Desgleichen gibt uns die Vernunft keine allgemein anwendbaren Kriterien der moralischen Beurteilung und Verurteilung in die Hand: Der seinen Garten verwüstet, ihm wurden seine Blumen vielleicht von der Geliebten oder den eigenen Kindern zerpflückt und vor die Füße geworfen; diejenigen, die das Gebiet der Nachbarn heimsuchen, mußten vielleicht über Jahrzehnte unter ihren Nachstellungen, Brunnenvergiftungen oder anderen Heimsuchungen leiden.

Wir begnügen uns mit der immer fragilen, immer kostbaren menschlichen Sinnfülle, wenn einer trotz widriger Umstände sein Versprechen an sich oder andere hält, wenn einer in der Nacht der Einsamkeit das Licht der Erinnerung an Begegnungen der Liebe und Freundschaft nicht ausbläst, wenn einer angesichts der menschlichen Verluste und Sinnverstörungen innehaltend im symbolischen Archiv blättert und ihm Worte eines Sinnbildners aufleuchten:

Nimm die Forsythien tief in dich hinein
und wenn der Flieder kommt, vermisch auch diesen
mit deinem Blut und Glück und Elendsein,
dem dunklen Grund, auf den du angewiesen.

Langsame Tage. Alles überwunden.
Und fragst du nicht, ob Ende, ob Beginn,
dann tragen dich vielleicht die Stunden
noch bis zum Juni mit den Rosen hin.

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