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Logische Schneisen VII

24.01.2014

Wenn du unwillkürlich einen Schrei ausstößt, weil du dich erschrocken hast, ist der geäußerte Laut keine Mitteilung, keine Sprache. Der unwillkürlich verlautbarte Schrei liegt außerhalb des logischen Raums von Sprache und Bedeutung.

Wenn dich dein Freund durch einen Schrei auf eine unmittelbar drohende Gefahr aufmerksam macht – du warst ganz in Gedanken und hättest beinahe die Straße betreten, obwohl ein Auto heranraste –, und aufgrund dieser willkürlich hervorgebrachten Verlautbarung siehst du dich plötzlich gewarnt und vermeidest den Schritt auf die Straße – in diesem Falle würden wir sagen, es handle sich um eine sprachliche Mitteilung, um Sprache. Der willkürlich und absichtsvoll verlautbarte Schrei liegt innerhalb des logischen Raums von Sprache und Bedeutung.

Hier ist bemerkenswert, dass Sprache nicht notwendig artikulierter Laut sein muss, um als Sprache zu funktionieren: Dein Freund hätte dich auch fest in den Arm kneifen können und du hättest dies als absichtsvolle Kundgabe der Warnung verstanden, nicht weiterzugehen – in einem solchen Fall wäre die Handlung oder die Geste ein sprachliches Zeichen und Teil des logischen Raums von Sprache und Bedeutung.

Du hast den Schrei als Ausdruck der Warnung vor einer unmittelbar drohenden Gefahr verstanden. Du hast die Bedeutung des Warnhinweises begriffen. Dein Verstehen und Begreifen manifestierte sich in deinem Handeln: Du hast den Fuß zurückgezogen und bist stehen geblieben. Dein Verstehen des Zeichens erfasste ebenfalls die Absicht deines Freundes, dich mit diesem Zeichen zu warnen, und umfasste auch die Tatsache, dass er diese Absicht durch das Hervorstoßen des Schreis verwirklicht hat.

Wie aber, wenn dein Freund gar nicht die Absicht hegen konnte, dich durch einen Schrei zu warnen, weil sich die Ereignisse überstürzten, er allerdings sah, wie du im Begriff warst, den Fuß auf die Straße zu setzen, und wie gleichzeitig das Auto herbeiraste – und hat dann vor Schreck einen Schrei ausgestoßen? Dann hast du allerdings diesen unwillkürlich hervorgestoßenen Schrei nicht bloß als mimetischen Ausdruck des Erschreckens, sondern als intentionalen Ausdruck der Warnung vor einer unmittelbar drohenden Gefahr verstanden.

Hier ist bemerkenswert, dass die in den meisten sprachlichen Kundgaben unabdingbare Intention der sprachlichen Handlung gelegentlich durch eine fallible Hypothese oder eine blinde Voraussetzung ersetzt werden kann. Indes musst du eine solche Absicht so oder so unterstellen, wenn nicht der Akt des Verstehens sprachlicher Zeichen unvollständig bleiben und deshalb misslingen soll.

Mimetische Verlautbarungen oder unwillkürliche lautliche oder gestisch-mimische Gefühlsgebärden können in rein sprachliche Verlautbarungen transformiert werden. Wenn du vor Schreck einen Schrei ausstößt, könntest du genauso gut ausrufen: „Ach, du Schreck!“ oder „Schreck, lass nach!“

Willkürlich oder absichtsvoll geäußerte, aber unartikulierte Ausrufe können in rein sprachliche Verlautbarungen transformiert werden. Wer einen Warnschrei ausstößt, könnte auch ausrufen: „Vorsicht, ein Auto!“ oder einfach: „Achtung!“

Wenn du im Begriff bist, die Straße zu betreten, und hörst, wie dein Freund an deiner Seite „Achtung!“ ausruft, bist du nicht genötigt, diesen Ausruf zu interpretieren, zu decodieren oder zu deuten, du bedarfst nicht einer speziellen hermeneutischen Kunst oder eines Deutungsverfahrens, das du als Maßstab an die Verlautbarung anlegst:  Du verstehst sie unmittelbar als Warnhinweis, du verstehst ohne Zögern und Zweifeln. Du fragst dich nicht: „Das klingt ja wie ein Warnschrei – aber könnte es auch etwas anderes bedeuten?“ Nein, du weißt, dieser Schrei bedeutet in dieser Situation von dieser Person verlautbart: „Achtung, Gefahr!“ Du vernimmst nicht ein akustisches Signal, das du als sprachliches Symbol interpretierst. Du hörst den Schrei als Warnhinweis.

Eine Sprache verstehen heißt nicht, eine Sprache interpretieren. Sprachliche Zeichen sind keine Symptome, die für etwas dem Wesen nach ihnen Fremdes stehen, die für etwas stehen, was sie nicht unmittelbar bedeuten, und deshalb als Signale, Hinweise und Zeichen für ihnen zugrunde liegende kausale Vorgänge gedeutet, interpretiert, decodiert werden müssten – wie Rauch als Zeichen für Feuer oder Flecken auf der Haut als Zeichen für eine Viruserkrankung.

Du könntest einwenden, dass wir auf Schritt und Tritt sprachlichen Ausdrücken und Wendungen begegnen, die nicht eindeutig sind und deshalb der Interpretation bedürfen. Ob ich mit „Bank“ die Sitzgelegenheit oder das Geldinstitut meine, bedarf doch wohl der Interpretation!

Aber, würden wiederum wir einwenden, so funktioniert Sprache nicht. Wenn du zu mir sagst, du müsstest, bevor wir uns treffen, noch rasch Geld bei der Bank ziehen, weiß ich unmittelbar, dass du nicht die Sitzgelegenheit auf dem Merianplatz meinst.

Wir schließen daraus, dass die für unsere Sprachhandlungen relevante Umgebung oder die relevante Situation ein Teil der Bedeutung jener Sätze und Wendungen ausmacht, die wir in  dieser Umgebung oder dieser Situation verwenden.

Aber, könntest du nochmals einwenden, wie steht es denn mit der gleichsam systematischen Zweideutigkeit, wie sie beispielsweise bei der Verwendung des Ausdrucks „ist“ auftaucht – müssen wir hier nicht zur Interpretation schreiten, um die Zweideutigkeit in eine Eindeutigkeit zu verwandeln?

Hier sagen wir: Die Eindeutigkeit der Bedeutung von „ist“ ermitteln wir nicht durch hermeneutische Deutekunst und Interpretation, sondern mittels Anwendung einer analytischen Mechanik. Mit diesem mechanisch anzuwendenden Analyse-Tool gelingt uns Folgendes:

(1) Wir analysieren die Bedeutung von „ist“ in Sätzen wie „Eva ist schüchtern“ anhand der Satzform „x (ist F)“ als einen Teil der Kopula des Satzes.

(2) Wir analysieren die Bedeutung von „ist“ in einer Gleichung wie „7 + 5 = 12“ oder einer Identitätsaussage wie „Der Morgenstern ist der Abendstern“ als Zeichen der Identität der beiden vor und nach dem Gleichheitszeichen genannten Gegenstände.

(3) Wir analysieren die Bedeutung von „ist“ beziehungsweise von „es gibt“ in der Aussage: „Es gibt den Pegasus“ anhand des Existenzquantors und der Satzform „Es gibt ein und nur ein x, und dieses x ist F, und alle y, die F sind, sind identisch mit x“ als Existenzaussage.

Die Schrift, die sich wie von Geisterhand auf der Mauer schreibt, oder das seltsame Muster, das wir im vom Wind aufgeworfenen Blättern zu unseren Füßen zu entziffern wähnen, die monströsen Physiognomien, die uns bisweilen aus Wolkenballungen entgegenzustarren scheinen, oder das wirre Gekritzel eines Dementen – so etwas und alles dergleichen gilt uns nicht als Sprache oder als bedeutsame Zeichen.

Unsere Grundannahme besteht darin: Wir befinden uns innerhalb des logischen Raums von Sprache und Bedeutung, sobald wir davon ausgehen, dass uns etwas mittels irgendwelcher geeigneter Zeichen von Personen absichtsvoll bedeutet oder mitgeteilt wird.

Dabei macht die relevante Umgebung oder die relevante Situation der Zeichenkundgabe und der Zeichenannahme einen Teil der Bedeutung dieser Zeichen aus – diese Umgebung kann eine Alltagssituation wie eine Unterhaltung, ein Prüfungs- oder Vorstellungsgespräch, eine Gerichtsverhandlung usw. sein oder selbst ein sprachlicher Zusammenhang wie eine Erzählung, ein Dokument, eine wissenschaftliche Abhandlung usw. In einer lockeren Unterhaltung hingestreute Bemerkungen und Anekdoten haben nicht das Gewicht von zu Protokoll gegebenen Aussagen vor Gericht. Die in einer fiktiven Erzählung geäußerten Aufforderungen der Protagonisten haben für das Leben des Lesers keine Relevanz, im Gegensatz zu den Bestimmungen eines beglaubigten Miet- oder Pachtvertrages.

Wenn wir uns dargebotene Zeichen als sprachliche Zeichen oder als Sprache verstehen wollen, müssen wir die Absicht der Person, die sie uns mitteilt oder mitteilen lässt, anhand der Bedeutung der Zeichen und der Mitteilungssituation herausfinden und in Rechnung stellen. Wenn dein Freund neben dir „Vorsicht!“ ruft, sobald du die Straße betreten willst, weißt du anhand der Bedeutung des Ausdrucks „Vorsicht“ und der erlebten Straßensituation, welche Absicht seine Mitteilung hat.

Die Sprecherintention, die für das Verstehen der Bedeutung sprachlicher Kundgaben so wesentlich ist, können wir sichtbar markieren, indem wir den Aussagemodus der jeweiligen Aussage dieser voranstellen: die Behauptung, die Aufforderung (Warnung, Empfehlung, Bitte, Frage) und das Versprechen, die mimetische Äußerung (Interjektion, Gefühlsausdruck) sowie die Festsetzung (Erwähnung und axiomatische Definition):

(1)
„Ich behaupte, dass der Mond der Erdtrabant ist.“
„Der Mond ist der Erdtrabant.“
(2) (1)
„Ich warne dich davor, den Fuß auf die Straße zu setzen.“
„Betritt nicht die Straße!“
(2) (2)
„Ich empfehle dir, den Fuß nicht auf die Straße zu setzen.“
„Betritt nicht die Straße!“
(2) (3)
„Ich bitte dich, nicht die Straße zu betreten.“
„(Bitte) Betritt nicht die Straße!“
(2) (4)
„Ich frage dich: Bist du gewillt, dich weiterhin mit mir zu treffen?“
„Willst du dich weiterhin mit mir treffen?“
„Ich bitte dich, die Frage zu beantworten, ob du dich weiterhin mit mir treffen willst.“
(3)
„Ich verspreche dir, mich weiterhin mit dir zu treffen.“
„Ich will mich weiterhin mit dir treffen.“
(4)
<„Aua!“>
„Ich habe Schmerzen.“
(5) (1)
„Mond“ ist das Wort mit der Bedeutung Mond.
„Mond“ hat vier Buchstaben.
„Der Pegasus fliegt über den Parnass“ ist ein Satz.
„Der Buchstabe p steht für einen beliebigen Satz.“
(5) (2)
„Die kürzeste Linie zwischen 2 Punkten ist eine Gerade.“
„Die kürzeste Linie zwischen 2 Punkten ist eine Kurve.“

Wir berühren hier die logischen Grundformen der Sprache oder die wesentlichen Aussagetypen im logischen Raum: die Behauptung als Mitteilung von Information, die Veranlassung des Angesprochenen, etwas zu tun, beziehungsweise die Erklärung der Bereitschaft des Sprechenden, etwas zu tun, die Verlautbarung des eigenen Befindens sowie die Erwähnung und die axiomatische Festsetzung.

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