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Logische Schneisen XV

09.02.2014

Dein Wort hat heute dieselbe Bedeutung wie gestern und hoffentlich auch morgen. Was heißt das? Du sagst dasselbe in derselben Situation mittels derselben sprachlichen Ausdrücke. Du wirst nicht anfangen, „Guten Abend“ zu sagen, wenn du morgens in die Schule, in die Universität oder ins Büro kommst, um deine Mitschüler, Kommilitonen und Kollegen zu begrüßen – es sei denn vielleicht einmal, weil du mutwillig aufgelegt bist, zum Scherz. Wenn du es dir allerdings zur Regel machtest, die gewohnten Begrüßungsformeln falsch zu verwenden, hielte man dich bald für einen ausgemachten Narren.

Wir sagen: Die Erde steht fest – in gewissen Grenzen, hier enger, dort weiter, auch wenn sich der gewaltige physische Körper mit rasender Geschwindigkeit durch die Weiten der Galaxis, sich um die eigene Achse drehend, auf seiner elliptoiden Umlaufbahn um das Zentralgestirn bewegt: gleichsam zu unser aller Nutz und Frommen, würden wir ansonsten doch trist und dumm aus der Wäsche schauen, entbehrend des Wechsels von Tag und Nacht und der gloriosen Rhythmen der Jahreszeiten. Wenn wir sagen, die Erde stehe in gewissen Grenzen fest, meinen wir damit: Die Welt bindet unsere Erfahrung in ein Kontinuum, dessen Ränder wohl ins Unbestimmte und Vage zerfließen, dessen Kernschicht indes gleichsam aus gehärtetem Material besteht: der Identität der Erfahrungsgegenstände und Tatsachen, die wir in der Anwendung aller Arten des Zählens und Schlussfolgerns, bei allen Formen des Arrangierens, Sortierens, Gruppierens und Neugruppierens von Gegenständen voraussetzen.

In unserer Welt natürlicher Systeme von Symmetrien und konstant wiederkehrender oder systematisch variierender Regularitäten kommen wir dahinter, dass der Gegenstand der Wahrnehmung des hellsten Sterns am Abendhimmel derselbe Gegenstand der Wahrnehmung des ersten Sterns des Morgenhimmels ist. In unserer Welt kontinuierlicher und nicht völlig diskontinuierlicher Erfahrung kommen wir dahinter, dass der Abendstern dieselbe Umlaufbahn zieht wie der Morgenstern und deshalb derselbe Stern ist, nämlich der Planet Venus.

Lebten wir in einer seltsamen Welt, in der der Abendstern nicht derselbe Gegenstand wie der Morgenstern wäre, könnten wir uns nicht über die Anwesenheit oder Abwesenheit derselben Gegenstände verständigen und unterhalten – das System unserer Erfahrung, das auf der Anwendung des Begriff der Identität beruht, bräche in sich zusammen: Könnten wir nicht über denselben Gegenstand sprechen, hätten wir unser einigermaßen solides und verlässliches System der Erfahrung nicht gegen ein fluides, buntes und anarchisches System der Erfahrung ausgetauscht: Wir könnten schlicht überhaupt keine Erfahrungen mehr machen. Wir wären außerstande, etwas zu sagen, einen Gedanken zu fassen, eine Handlung zu vollziehen.

Behauptungen und Handlungen setzen die Anwendbarkeit der Kriterien von richtig und falsch voraus, sonst könntest du nicht etwas behaupten, dem ich beistimmen oder widersprechen, nicht eine Handlung vollbringen, die ich uneingeschränkt gutheißen oder als tadelnswert zurückweisen kann. In einer Welt oder einem System der Erfahrung, in dem nichts richtig und nichts falsch ist, träumen wir mit offenen Augen.

Ihr erwartet viele Gäste. Du hast bereist 8 Suppenteller auf dem Tisch in 2 Gruppen von je 4 Tellern arrangiert. Wenn du mich aufforderst, noch einen letzten Teller dazuzustellen, wie soll ich mich verhalten? Wenn ich den Teller zu einer der beiden von dir symmetrisch arrangierten Gruppen stelle, zerstöre ich die Symmetrie. Doch wenn die Gleichung 9 = 3 x 3 stimmt, werde ich einfach das Arrangement der Teller in 3 Gruppen zu je 3 Tellern neugruppieren.

Lebten wir in einer Welt, in der das Prinzip „Aus den Augen aus dem Sinn“ in einer radikalen Bedeutung gälte und die Dinge ihr Gesicht wechselten wie Don Juan die Frauen, könnte es geschehen, dass sich mein neues Arrangement wie von Zauberhand im Nu in eine neue Gruppe mit der Aufteilung 1 Teller, 3 Teller, 4 Teller verwandelte, weil in dieser schönen neuen Welt Symmetrien nicht vorkämen oder verboten wären.

Du hast deine 8 Suppenteller für die erwarteten Gäste schön symmetrisch in 2 Gruppen arrangiert und greifst aus der Schublade eine gute Handvoll Löffel, um sie ordentlich Stück für Stück den Tellern zuzuweisen. Du musstest die Löffel nicht eigens auf 8 Stück abzählen – wenn du allen Tellern je 1 Löffel zugeordnet hast, weißt du, dass es 8 Löffel sind, die jetzt auf dem Tisch liegen. Mehr ist nicht vonnöten, solange wir in unserer Welt leben, in der je ein Mensch genau mit 1 Löffel auskommt, um seine Suppe auszulöffeln. Auch wenn du nicht wüsstest, wie viele Suppenteller auf dem Tisch stehen, wüsstest du doch, dass nach der korrekten Zuordnung der Löffel auf je einen Teller die Anzahl der Löffel und die Anzahl der Teller identisch sind. Wir sagen etwas umständlich auch, die Menge der Elemente der Teller ist gleichzahlig mit der Menge der Elemente der Löffel.

Wenn du alle Löffel korrekt neben die 8 Teller gelegt hast, überblickst du nochmals die Situation – und stellst zu deinem Erstaunen, ja Entsetzen oder Grauen, fest, dass jetzt nur noch 2 Löffel neben 2 Tellern liegen, neben den anderen Tellern liegen einmal 3 Messer und einmal 3 Gabeln.

Was ist hier passiert? Du bist in eine verzauberte und verrückte Welt geraten, in der die Dinge dir ständig ein Schnippchen schlagen, dich narren und an der Nase herumführen – eine Welt, in der die Gegenstände ihre Identität wie Narrenkappen reihum wechseln, eine Welt, in der nichts feststeht, sondern die Kernschicht unserer Erfahrung sich verflüssigt hat und die Anwendung der Schicksalsvokabel „derselbe“ nicht mehr möglich ist. In dieser Welt der Unruhe, des Chaos und der traumartigen Metamorphosen gibt es weder Tag noch Nacht, weder Mondjahr noch Sonnenjahr, weder Zahl noch Maß, kein Ich und kein Du. Die Flüsse strömen aufwärts, die Bäume wurzeln in der Luft, dein Gegenüber ist ein negativer mentaler Zwilling und verneint ohne Unterlass jeden Gedanken, den du gerade denkst. Die Menschen verschwinden unter den Augen der anderen, die Grenzen zwischen Wahrnehmung, Erinnerung und Traum verschwimmen. In einer solchen auf dem Kopf stehenden Welt ist ein Leben nicht mehr möglich – unser Leben, das eine gewisse Ruhe, Beständigkeit, Gelassenheit – wenn auch vorläufig, wenn auch in fließenden Grenzen – in seinen mentalen Fundamenten zu genießen gleichsam begnadet ist.

In einer solchen Welt des Phantastisch-Unbestimmten und Unerwarteten ohne Symmetrien und Regularitäten könntest du keine Behauptung wagen ­und kein Versprechen abgeben oder ernst nehmen. Behauptest du etwa, ich habe wohl arge Schmerzen, weil ich stöhne und mich krümme, halte ich mit der Behauptung dagegen, dass ich mich pudelwohl fühle, und dies die Art sei, wie man hierzulande Freude bekunde, nämlich stöhnen und sich krümmen. Verspreche ich dir in einer solchen Pseudo-Welt, dich morgen zu besuchen, weist du mein Ansinnen mit der Begründung zurück, dass es ungewiss sei, ob ich morgen die Person antreffen werde, mit der ich jetzt gerade spreche, oder einen Zwilling von dir vor mir habe, der dir in allem gleicht, ohne du zu sein und sich an dich erinnern zu können.

Wir bemerken en passant, dass es in einer Pseudo-Welt, in der es nicht möglich wäre, konsistente Behauptungen aufzustellen oder glaubwürdige Versprechen abzugeben, weder Logik noch Mathematik geben könnte.

Denjenigen, der in einer solchen Welt des Chaos – aus Langeweile oder Überdruss vor unserer Welt relativer Ordnung – zu leben wünscht, heißen wir rechtens einen unverantwortlichen Clowns-Philosophen. Denjenigen, der in einer solchen Welt lebt, nennen wir zurecht einen aller Verantwortlichkeiten entbundenen Narren.

Aufgrund der Existenz von zählbaren Gegenständen in unserer Welt können wir zählen – wir müssen es nicht. Wenn es auch keine metaphysische Notwendigkeit des Zählens und der Existenz der Zahlen gibt, so doch die logische Notwendigkeit des Weiterzählens, nämlich auf die Weise weiterzuzählen, wie wir begonnen haben. Wenn wir mit der Reihe 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 begonnen haben, haben wir mit der Formel x +1 die logische Notwendigkeit fixiert, wie es weiterzugehen hat. Wenn wir mit der Reihe 2, 6, 8, 10, 12 beginnen, wissen wir, wie es anhand der Formel 2x weitergeht, ebenso bei der Reihe 2, 4, 8, 16, 32 anhand der Formel x2 .

Wenn wir mit den elementaren Rechenoperationen begonnen und die ersten einfachen Gleichungen aufgeschrieben haben, können wir nicht anders, als weiterzurechnen. Wir sind mit der Gleichung 2 + 2 = 4 gleichsam gebunden und in die Pflicht genommen, weitere Gleichungen zu bilden, die als Funktionen mit äquivalenten Werten dasselbe Argument bilden, wie etwa die Gleichungen 8–4 = 4, 2x (4–2) = 4, √16 = 4 oder 3 Komma Periode 9 = 4.

Der Spielraum unserer Freiheit ist eingeschränkt, wenn wir einmal zu zählen und zu rechnen begonnen haben. Wir können zum Leidwesen manch geplagten Schülers nicht darauf hoffen, dass übermorgen ein internationaler Kongress aller Mathematiker der Welt stattfindet, auf dem diese beschließen, die einfachen Rechenoperationen und also die Grundformen logischen Schließens so abzuändern, dass die Gleichung 2 + 2 = 4 nicht mehr gilt. Die korrekte Anwendung des Zahlbegriffs und des logischen Einmaleins beruht nicht auf willkürlichen Vereinbarungen, wie die Spielregeln bei Mühle oder Schach auf Vereinbarungen oder Konventionen beruhen.

Der merkwürdige Zwang, der uns beim Rechnen und logischen Schließen auffordert, so und nicht anders vorzugehen, ist weder ein physischer noch ein metaphysischer Zwang. Er ist sinnvoll mit der Bindung durch Kodifizierung einer Regel verglichen worden, die festlegt, dass die Regel willkürlichen Veränderungen entzogen bleibt. Wir hätten vielleicht diese oder jene Regel anders formulieren können – aber diese Modifikationen laufen letztlich auf eine Wahl derart hinaus, ob wir als Maßeinheit die Elle oder das Meter zugrundelegen – nur, mit dem Meter kommen wir weiter und tiefer in die Welt des Messbaren hinein.

Wir können auch sagen: Die kodifizierten und normierten Regeln des Zählens, Rechnens und Schlussfolgerns sind die effektivsten, mächtigsten und elegantesten Verfahren, die wir zu unseren Zwecken zu benutzen gelernt haben. Wir wollen diese Errungenschaften einmal kühn mit dem Verfahren der Wegbahnung vergleichen, das Ameisen mittels der Hinterlegung chemischer Spuren von einem begehrten Objekt wie nahrhaftem Blattwerk oder kultivierbaren Pilzen zum heimischen Nest anwenden: Die Spur des kürzesten Wegs wird sich exponentiell schnell verstärken – und dies zurecht, gibt sie doch die beste Orientierung, ohne Umwege und Abwege.

Der wahre Spielraum unserer Freiheit beruht in der Anwendung der Begriffe richtig und falsch. Die Sonderstellung des Menschen als vernunftbegabten Wesens – wenn wir uns die Lizenz gönnen, uns einmal auf solch seltsame oder pathetische Weise auszudrücken – zeigt sich in seiner Fähigkeit, Fehler zu machen. Eine Maschine wie ein elektronischer Taschenrechner oder ein Computer macht keine Fehler, sondern läuft leer oder fällt aus, sie begeht keinen Irrtum, denn sie kennt die logischen Regeln nicht oder sie hat vom Sinn der Anwendung der Regeln kein Bewusstsein, gemäß denen und auf deren Grundlage sie gebaut wurde und funktioniert.

Nur der naive Schüler, nicht die Maschine, ist irrtumsanfällig und begeht sicher einmal den vermaledeiten Fehler, in der Anwendung der binomischen Formel (a + b)2 = a2 + 2ab + b2 die Verdopplung des Produkts der Ausgangswerte zu vergessen, weil ihm dies logisch nicht sinnfällig zu sein scheint und ihm als Evidenz nicht auf der Hand liegt.

Zu verneinen, dass Menschen mit einer Freiheit begabt sind, die in der Fähigkeit, Fehler zu begehen, zum Ausdruck kommt, heißt verzweifelt, närrisch oder mephistophelisch ein Schicksal bejahen, das unsere Welt gleichsam in einen Albtraum eines ohnmächtigen Gottes verwandelt.

Zu verneinen, dass Menschen mit einer Freiheit begabt sind, die in der Fähigkeit zum Ausdruck kommt, Fehler und Irrtümer zu begehen, einen notwendigen logischen Schritt zu übersehen und zu überspringen, aber auch den Irrtum zu erkennen und zu korrigieren, heißt, den Selbstwiderspruch bejahen, dass wir nicht in der Lage wären, richtig von falsch zu unterscheiden und also irgendeine sinnvolle Behauptung aufzustellen (denn Behauptungen sind notwendigerweise richtig oder falsch) – heißt leugnen, dass wir in der Lage sind, überhaupt etwas Sinnvolles zu äußeren.

Die Behauptung, dass wir in keiner Hinsicht frei seien und also nicht frei, richtige von falschen Behauptungen zu unterscheiden, ist evidenterweise inkonsistent und demnach FALSCH.

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