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Philosophische Konzepte: semantische Grenze

21.12.2017

Wir sehen einen rechten Winkel, penibel mit zwei kurzen Strichen auf weißes Papier gezeichnet. Dann schiebt jemand langsam ein aufliegendes weißes Blatt beiseite, und das vollständige Bild eines Quadrats erscheint, von dem der zuerst erblickte Winkel die linke untere Ecke bildet.

Zunächst sahen wir einen rechten Winkel, dann ein Quadrat. Wenn wir das ganze Bild vor uns haben, wissen wir, daß der Winkel bloß ein Ausschnitt des vollständigen Bilds gewesen ist.

Das vollständige oder kohärente Bild muß das zunächst Wahrgenommene nicht immer wie das Ganze als einen integralen Teil enthalten und umschließen. So sehen wir in einer Filmsequenz deutlich helle Quellwolken sich allmählich von links nach rechts fortbewegen. Dann sehen wir, wie das Bild sich verdunkelt, die Wolken verschwimmen und kleine Wellen sich auf einer Wasseroberfläche fortpflanzen. Jetzt wissen wir, daß es sich bei dem zuerst gesehenen Bild um das Spiegelbild des bewölkten Himmels in einem See gehandelt hat.

Wir sagen, das vollständige Bild gibt uns einen übersichtlichen und verständlichen Zusammenhang, in dem sich die Teile, Ausschnitte oder Fragmente unserer Wahrnehmung einordnen lassen.

Doch könnte uns das vollständige Bild nicht nur offenbaren, daß es sich bei dem zunächst wahrgenommenen rechten Winkel um einen Bildausschnitt handelte, sondern auch, daß sogar das ihn enthaltende Bild des Quadrats wiederum einen Ausschnitt oder echten Teil eines noch größeren, vollständigeren und kohärenteren Gesamtbilds darstellt, nämlich eines sich perspektivisch hinter dem Quadrat als seiner Vorderseite abzeichnenden Würfels.

Vielleicht zeigt sich uns, wenn wir den Kopf heben und wenden, eine sich ringsum öffnende Parklandschaft als das vollständige Bild, von dem der See und die sich auf der Wasseroberfläche spiegelnden Wolken echte Teile oder wie wir auch sagen können Momente darstellen.

Der Würfel könnte seinerseits einen Teil eines platonischen Körpers bilden, wenn er beispielsweise einem regelmäßigen Dodekaeder einbeschrieben sein sollte, und der Park mit seinem See ist naturgemäß von einer größeren Landschaft aus Siedlungen, Wasserwegen, Wiesen und Feldern umgeben, die uns ein noch vollständigeres Bild der Situation bietet.

Wir bemerken, daß wir uns in solchen Verfahren durch Erweiterung und Vertiefung der Perspektive ein vollständigeres Lagebild verschaffen. Und wir erkennen, daß sich dieser Prozess der Ausweitung und Verschiebung der Wahrnehmungsgrenzen ähnlich dem Inhalt einer russischen Puppe, die wieder Puppen und Püppchen enthält, ziemlich weit ausdehnen läßt. Wir kommen wie es scheint immer nur an ein vorläufiges Ende wie bei einem steilen Anstieg, bei dem wir ab und an eine Atempause einlegen.

Bei den bisher betrachteten blickerweiternden Übergängen ins Umfassende oder Umschreibende, in einen umfassenden und umschreibenden Horizont oder Sinnzusammenhang, handelt es sich um kontinuierliche Übergänge, vergleichbar einer sogenannten Interlinearversion, bei der zwischen den Linien oder Zeilen einer alten Handschrift mit beispielsweise lateinischem Urtext eine ziemlich wörtliche Übersetzung, sagen wir ins Mittelhochdeutsche, eingefügt worden ist. Die Übersetzung fügt den Ausgangstext in den Sinnhorizont der Sprache des Übersetzers ein, ohne einen prinzipiell neuen Sinnhorizont gegenüber demjenigen des Urtextes aufzureißen, denn die Interlinearversion will nichts als ein möglichst getreues Spiegelbild des Urtextes in der Zielsprache sein.

Wenn die beiden Linien, welche die Ecke des Quadrats bilden, verlängert und ausgezogen werden, erkennen wir plötzlich zwei sich vertikal überkreuzende Strecken. Wir könnten meinen, bei dieser geometrischen Darstellung liege die Pointe auf dem Punkt, in dem sich die Linien kreuzen. Dann verblieben wir im Dimensionsfeld der euklidischen Geometrie und könnten etwa an das Axiom erinnert werden, wonach Geraden, die nicht parallel zueinander verlaufen, sich notwendigerweise schneiden.

Wenn wir aber mit einemal die geometrische Figur als Wahrzeichen und Emblem des christlichen Glaubens wahrnehmen, springen wir aus der Geometrie in ein ganz anders geartetes Bedeutungsfeld, das religiöse. Der mit dem religiösen Zeichen verknüpfte Inhalt läßt sich nicht wie die geometrische Figur anhand von Axiomen und Theoremen erläutern (auch wenn solche Versuche unsinnigerweise in dogmatischer Manier unternommen worden sind), sondern nur mittels Erzählungen verdeutlichen wie den Erzählungen des Neuen Testaments. Die semantische Grenze zwischen dem logischen Feld der Ableitung von Theoremen aus Axiomen und dem narrativen Feld der Erläuterung mittels Erzählungen, Gleichnissen oder Fabeln scheint klar und wie mit hartem Bleistift gezogen zu sein.

Jemand schildert einem befreundeten Maler eine phantastisch-exotische Landschaft, in der üppige Blüten von innen allmählich stärker aufleuchten, wenn man sich ihnen nähert, und das Wasser der Flüsse und Seen je nach der Stimmung des Passanten seine Farbe wechselt. Der Maler läßt sich von dieser Beschreibung zur Verfertigung eines vielleicht surreal anmutenden Gemäldes anregen, das er hernach seinem Freund kommentarlos zeigt, in der Meinung, er werde es auf Anhieb als wenn auch transfigurierte oder verzerrte Widerspiegelung seiner Beschreibung erkennen. Der Freund indes mag vielleicht interessiert auf das Bild schauen, doch ohne die erhoffte Reaktion einer Reminiszenz. Wie sich herausstellt, hatte er von jener Landschaft nicht phantasievoll fabuliert, sondern sie in einem nächtlichen Traum erblickt.

Wir bemerken demnach eine semantische Diskontinuität oder Inkongruenz zwischen der Traumbeschreibung und ihrer malerischen Wiedergabe, die so gravierend ist, daß der Träumer seinen Traum im gemalten Bild nicht wiederzuerkennen vermag, obwohl der professionelle Künstler sämtliche Hinweise und Details seines Traumberichts berücksichtigt hat.

Wenn ich meinen Seheindruck von der üppigen Blumenpracht einer Frühlingswiese beschreibe, rede ich vielleicht von dem blauen Veilchen, dem gelben Hahnenfuß, der rötlichen Küchenschelle und dem saftig grünen Gras. Ich verwende also die konventionellen Pflanzennamen und die ihnen entsprechenden Farbbegriffe. Wenn ich dagegen meinen visuellen Eindruck als reine Sinnesdaten beschreiben soll, kann ich nur von gewissen im Sehfeld kreuz und quer verteilten mehr oder weniger deutlichen oder verschwommen Farbflecken reden.

Hier stoßen wir auf die semantische Diskontinuität oder Inkongruenz zwischen alltagssprachlicher Beschreibung und Beschreibung von Sinnesdaten. Wir erkennen die semantische Bruchlinie zwischen diesen Beschreibungstypen an der Tatsache, daß jemand, dem wir die Beschreibung der Sinnesdaten im Sehfeld vorlegen, nicht im Traum darauf kommt, daß es sich dabei um den Seheindruck von blauen Veilchen, gelbem Hahnenfuß, rötlichen Küchenschellen und saftig grünem Gras handeln soll.

Wenn ein Botaniker die Frühlingswiese unter die Lupe nimmt und sorgfältig beschreibt, wird er tausend Details aufführen, die dem ungeschulten und oberflächlichen Blick des Laien entgehen, der immerhin noch ein Veilchen von Hahnenfuß und Küchenschelle unterscheiden kann.

Wir sagen in verdichteter Terminologie: Das empirische Feld, das uns durch die Sinnesorgane zugänglich ist, erweist sich als ein solches, das eine unbegrenzte Tiefe, Dichte und Variationsbreite möglicher Beschreibungen zuläßt. Es ist deskriptiv unerschöpflich.

Greifen wir das Beispiel des Traums und der Traumbeschreibung wieder auf. Die Beschreibung von Träumen ist nicht nur weniger dicht und variantenreich als die empirische Beschreibung, sondern mündet oder versandet bald in sprachlichen Floskeln und Klischees. Denn die geträumte Wiese hat nicht die farbliche und gestalterische Differenziertheit und den Nuancenreichtum wie die gesehene Wiese. Wir erschöpfen uns schnell bei unserer Beschreibung eines Traums, in dem wir über eine Blumenwiese im Frühling gestreift sind, mit klischeehaften Wendungen der Art, die Wiese sei bunt oder voller Blumen gewesen.

Wir ersehen daran, daß sich gewisse semantische Grenzen wie jene zwischen Normalsprache und Sinnesdatensprache oder zwischen empirischer Beschreibung und Traumbericht nicht oder kaum verschieben lassen. Wir nehmen sie demgemäß einfach hin, wie sie sind, und richten unser Augenmerk besser auf die Pointe oder den Witz des unterschiedlichen Gebrauchs der Sprache, der durch diese Grenzen abgesteckt ist. Denn der Zweck der botanischen Beschreibung mag eine ökologische Bestandsaufnahme der gefährdeten Landschaft sein, der Witz der Traumerzählung erfüllt sich nicht mittels der präzisen Klassifikation der im Traum gesehenen Pflanzen, sondern in dem besonderen Aspekt oder Licht, in dem wir selbst und unser Verhältnis zu demjenigen erscheinen wollen, dem wir den Traum erzählen.

Sichten wir abschließend noch die semantische Grenze zwischen Erinnerung und empirischer Beschreibung auf Grundlage sinnlicher Wahrnehmung. Die Erinnerung hat nur in Ausnahmefällen, bei Genies des Erinnerns wie Peter Kurzeck oder Vladimir Nabokov, jene Dichte und Detailbesessenheit, die wir selbst, minder begabte Gedächtnisakrobaten, leichter von der sorgfältigen, konzentrierten und gewissenhaften Beobachtung des gegenwärtigen Umfelds einheimsen und nach Hause tragen können. In den meisten Fällen schwimmen unsere Erinnerungen wie ausgebleichte gelbe Blätter im Herbst auf unruhig wogendem, trübem Gewässer. In ihrem gewöhnlichen Mangel an ereignisreicher Dichte und gegenständlicher Farbigkeit ähneln unsere Erinnerungen den Traumberichten.

Aus diesem Grund kann sich die mit Akribie und Wahrheitsliebe betriebene Historiographie nicht nur auf subjektive Erinnerung stützen, wie sie etwa in Memoiren oder Autobiographien vorwaltet, sondern muß möglichst durch Dritte gut bestätigte Zeugnisse von Augen- und Ohrenzeugen oder historische Dokumente zu Rate ziehen, die der vergangenen Gegenwart angehören, die sie beschreibt. Und selbst bei solchen Dokumenten muß sie, wenn es sich nicht um unzweideutige und besiegelte Urkunden wie Verträge, Testamente, Erbscheine oder notarielle Beglaubigungen handelt, ihren echten Aussagekern durch methodische Analyse und hermeneutisch ausgefuchste Verfahren herausschälen.

Wir sollten nicht davon reden, daß die historische Gestalt Octavians und des Kaisers Augustus, wie wir sie aus historiographischen Urkunden und Quellen Stück für Stück zusammensetzen können, in den Oden des Horaz oder im Werk des Vergil verbogen und verzerrt werde. Die Dichtung hat eine eindeutige und scharfe semantische Grenze zum historischen Bericht, und der Dichter verteidigt sie und wehrt barbarische Übergriffe auf sein ästhetisches Territorium ab. Das schillernde, mit seltsamen Emblemen bestickte oder auch aus grellen Flicken zusammengestoppelte Gewand der Dichtung gleicht nicht der prosaischen Alltagskleidung der Historiographie, wie Dichtung auch auf etwas anderes aus ist oder einen andere Pointe, einen anderen Witz hat als jene. Ihre eigentümliche Atmosphäre entspringt wie in den Oden des Horaz beispielsweise dem didaktisch-moralischen Zweck, das Idealbild eines großgesinnten und weitblickenden Herrschers zu zeichnen (vergleichbar den Fürstenspiegeln des Mittelalters), oder verfolgt wie im Epos des Vergil den didaktisch-prophetischen Zweck, Augustus und sein Imperium als endliche Erfüllung der schicksalhaften Berufung seines Urahns, des troischen Aeneas, deutend zu beschreiben oder beschreibend zu beschwören.

Die Existenz vielfacher semantischer Grenzen zwischen Sprechhandlungen, die nicht vergleichbaren grammatischen Strukturen und sinnunverträglichen Verständnishorizonten zugehören, sollte uns nicht beunruhigen. Denn in Wahrheit überspringen wir diese Grenzen tagtäglich mit Leichtigkeit, wenn wir von einem Sprechakt zum anderen wechseln. Beunruhigen sollte uns dagegen das sinnwidrige und Verwirrung stiftende Bemühen, mittels einer Einheitsübersetzung oder eines pseudometaphysischen Esperantos eine sprachliche Ebene auf die andere oder gar alle auf eine (wie „des Lebens goldnen Baum“ auf seine physikalisch-chemischen Bestandteile oder unsere Gedanken auf Gehirnvorgänge) abzubilden und zu übersetzen. Lassen wir also unsere Träume bisweilen ungedeutet stehen und pressen sie nicht durch das Sieb einer einsinnigen Hermeneutik. Lassen wir den edlen Wein der Dichtung nicht von dünkelhaften Doktrinären in den weißen Kitteln wissenschaftlicher Hygiene oder von zudringlichen Maulhelden in den fleckigen Latzhosen vorgeblich menschenfreundlicher Pädagogik unter Zusatz verdünnender, zuckerhaltiger Lösungen panschen und dem vulgären Geschmack als billigen Tafelwein verkaufen.

 

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