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Reife und Größe

10.01.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Das reife Urteil können wir Kindern und Phantasten politischer und künstlerischer Provenienz nicht überlassen, gehört doch die Einsicht in die Unterschiede zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, kindlichem Spiel und Ernst des Lebens, Fiktion und Realität zu seinen Voraussetzungen.

Das reife Urteil ist die Frucht der Einsicht in die Mittel und Wege, ein Hindernis und eine Schwierigkeit zu überwinden, die sich weder durch instinktgebundene noch als Gewohnheit andressierte oder konditionierte Bewegungen, sondern nur durch zweckdienliche und sinnreiche Methoden wie die Entdeckung von Umwegen oder die Erfindung adäquater Instrumente überwinden lassen.

Es ist vergebens, die geschlossene Tür einzurennen oder das zugeschnappte Schloß zu demolieren; sie öffnet sich nur dem, der den richtigen Schlüssel im Schloß umdreht.

Der Nestling ist herangereift, wenn er flügge wird; der Instinkt, die Altvögel mittels Schreien und aufgerissenem Schnabel zum Füttern zu bewegen, schwindet. Der junge Vogel verläßt das Nest, pickt nach Würmern, schnappt nach Fliegen und baut sich bald im eigenen Revier seine eigene Brutstatt.

Die Vergötzung des Juvenilen ist ein Kennzeichen einer dekadenten Gesellschaft.

Die Entwicklung des Körpers und des Gehirns unterliegt gesetzmäßigen Phasen der Reifung; wichtige Schwellen sind das Erlernen der Sprache und die Ausprägung des sexuellen Dimorphismus in der Pubertät. Der Stotterer eignet sich meist nicht zum Rezitator, der Hermaphrodit nicht zum Vater.

Wer nicht flügge werden will, scheut den Ernst, den Kampf, das Abenteuer des Lebens oder ist ein fauler Parasit, der den Eltern und ihren Surrogaten, den Partnern, den Freunden, dem Staat, auf der Tasche liegt.

Bei den Gliederfüßlern wie den Ameisen, Bienen und Wespen fehlt das kindliche Lernen motorischer Geschicklichkeit und sozialer Verständigung im Spiel; sie bedürfen seiner nicht, denn sie tragen die Programme zweckvollen Verhaltens und instinktgeleiteter Verständigung im Unterschied zu den spielerisch lernenden Wirbeltieren vollausgeprägt in ihrem Erbgut.

In der christlichen Lehre finden wir eine Spannung zwischen der Wahrheit dessen, was Kierkegaard Ernst nennt: „Jeder nehme sein Kreuz auf sich“, und dem Gebot: „Ein jeder trage des anderen Last.“ So haben sich sowohl Realisten als auch Utopisten auf sie berufen.

Die Griechen sahen die reifste Frucht der Einsicht im Ratschluß des Zeus, der freundlichen Geste der Wege und Auswege weisenden Athene und der Weisheit Apolls, Göttern der Höhe und des Lichts.

Die Einsicht, die sich im gültigen Urteil niederschlägt, ist ein spezifisches Humanum; sie bedarf des ruhigen Überblicks über verworrene und schwierige Lagen und Herausforderungen; sie sieht den verborgenen Weg oder Umweg, der hinausführt, oder die Mittel und Werkzeuge, einen Ausweg zu bahnen. Sie nimmt das Risiko des Irrwegs und des Irrtums auf sich und vermag den möglichen Nutzen oder Schaden mittels logischer Folgerungen auszuloten und zu gewichten.

Die Intelligenz, die sich im sinnvollen Hantieren mit präparierten Werkzeugen wie bei den Menschenaffen niederschlägt, ist vorsprachlich; ihre erfolgreichen Handlungsmuster können nachgeahmt, aber nicht mittels objektiver Dokumentation tradiert werden.

Der Schimpanse bringt es so weit, die ungreifbare Frucht unter Zuhilfenahme eines Stockes herunterzuschlagen; der Mensch pflanzt und züchtet den Baum in seinem Garten, der ihm die köstlichsten Früchte schenkt.

Die Verteilung der Urteilsfähigkeit auf die Mitglieder sozialer Gruppen unterliegt wie die der Intelligenz und der logischen Kompetenz, mit denen sie korreliert, der Gaußschen Kurve.

Wir unterscheiden intellektuelle und seelische oder mentale und moralische Formen der Unreife. Die intellektuelle Unreife zeigt sich in der Verwechslung von Ursache und Grund, von Gesetzmäßigkeit und Sinnhaftigkeit sowie in der Verkümmerung oder Verwahrlosung der sprachlichen Syntax bei der Darstellung komplexer Beziehungen; man entschuldigt ein Fehlverhalten als scheinbar unausbleibliche Wirkung eines Affekts und gibt als Grund für eine kriminelle Tat die verhängnisvolle Wirkung einer düsterer Herkunft an; den Sinn eines Gemäldes erklärt man mit den Gesetzmäßigkeiten der Komplementarität und Kontrastwirkung der Farben. Man sagt „durch“, wo es heißen müßte „dank“ oder „wegen“, man gebraucht die Konjunktion „als“, wo „nachdem“ oder „obwohl“ am Platze gewesen wäre. – Seelische und moralische Formen der Unreife bezeugen die Unfähigkeit, Unglück zu ertragen, und die larmoyante Einstellung, die Konflikte und Leiderfahrungen, die unausbleiblich aus intimen Beziehungen wie Liebe, Ehe und Familie oder institutionellen Ordnungssystemen wie Unternehmen und Staaten entspringen, dem schieren Vorhandensein solcher Beziehungen und Institutionen anzulasten.

Das logische Denkvermögen reift am korrekten Gebrauch der syntaktischen Verknüpfung von Sätzen; an der grammatisch korrekten Darstellung von temporalen, kausalen oder konzessiven Sinnzusammenhängen, von realen und irrealen Bedingungsgefügen.

Die Einsicht integriert die perspektivischen Verzerrungen und die optische Wirkung der eigenen Sichtschneisen und Fluchtlinien in das gesehene Bild. Die Scheinbewegung der Sternbilder am nächtlichen Himmel ist eine  Funktion der Eigenbewegung der Erde.

Der Schluß von Anzeichen und Indizien setzt den Begriff des zu erschließenden Gegenstandes voraus; der Flußlauf die Quelle, der Rauch das Feuer. Der Schluß von paläoarchäologischen Funden von Überresten des Frühmenschen in Griechenland (Graecopithecus), die nachweislich älter sind als die afrikanischen Funde, erschüttert die Annahme, der Vorfahr des Homo sapiens sei in Afrika entstanden.

Die natürliche Reife der menschlichen Entwicklung markiert die physische Disposition zur Zeugung und Schwangerschaft; die sittliche die angemessene Übernahme der Rolle des Vaters und der Mutter.

Die wesentlichen Kennzeichen menschlicher Reife sind Dispositionen und Fähigkeiten, wie greifen und hantieren, stehen und laufen, reden, schreiben und malen zu können.

Das wesentliche Kennzeichen ausgereifter sprachlicher Kompetenz ist die Fähigkeit zur Benennung und Beschreibung des Benannten.

Der Übergang vom Ausruf „Aua!“ zur Äußerung „Ich habe Bauchweh“ zeigt die entscheidende Schwelle an, die von der Kundgabe zur reifen sprachlichen Darstellung führt.

Der Übergang von der Beschreibung „Peter sagte X, Hans sagte Y, worauf Peter wiederum Z äußerte“ zur Verwendung des universellen Namens „Gespräch“ für diese Art von Ereignis zeigt die entscheidende Schwelle an, die von der Reihung von Sätzen zur ausgereiften Ontologie von Objekten, Attributen und Ereignissen führt; denn Gespräch nennen wir jenes Ereignis, bei dem zwei Personen in der Rolle von Sprecher und Hörer einander abwechseln.

Falsche und angemaßte Größe sehen wir allenthalben, wo geistige Zwerge auf dem Kothurn der Macht und Arroganz einherschreiten.

Reife und Größe können Schwestern, aber auch feindliche Brüder sein.

Der größere Baum wirft den längeren Schatten.

Sein eigenes Krächzen schätzt der Rabe höher als den Gesang der Lerche.

Größe der Macht, die gemein, und Größe des Geistes, die einsam macht.

Der Kleingeist jätet lieber die Lilien, die sein Gemüse überragen, als sich an ihrer Schönheit zu erfreuen.

Seelische Reife zeigt sich in der Neigung, unerreichbare Größe zu bewundern, statt sie neidzerfressen niederer Motive zu verdächtigen.

Größe, die sich vor der Gefahr der Hybris rettet, indem sie sich eingesteht, daß ihr sublimster Ausdruck ein Geschenk der Götter war.

Größe dessen, der schweigt, wenn die Quellen versiegen, die verstimmte Laute in den Baum hängt, der ihm zum letzten Male grünt.

Männer, die ihre schöne, stille Geliebte dem billigen Ruhm des lauten Jahrmarkts opfern.

Frauen, die billigen Ruhm ernten, wenn sie die schöne Leiche im Keller großer Männer ausbuddeln.

Echte oder angemaßte Größe ist die Aura der Autorität und Führerschaft, ohne die soziale Gruppen zerfallen.

Intelligenz kann man nicht vortäuschen.

Der Lehrer, der sich so klein macht wie seine Pimpfe und so tut, als wisse er nicht mehr als sie, ist eine lächerliche Figur des Zeitgeistes.

Von dem Arzt, der als Scharlatan entlarvt wird, weil er seine Approbation betrügerisch erschlichen hat, will sich keiner behandeln lassen.

Der farbenblinde Maler und der amusische Dichter werden gefeiert; freilich, der abstrakte Schinken ist gut genug, den Schmutzfleck an der Wand zu verdecken, das unharmonische Gezeter die innere Öde zu übertäuben.

Wenn alle für ebenbürtig gelten, wird die Dummheit und Verkommenheit der Dümmsten und Verkommensten zum Maßstab.

Manche haben dem Bruder die Suppe versalzen, manche den Nachbarn verpfiffen, manche zogen singend durch den Sumpf der Perversionen, diejenigen nicht zu vergessen, die im Blut vor dem Götzen wateten, den sie als ihre Wahrheit anbeteten und propagierten – doch alle kommen als reine Unschuldslämmer ins Paradies eines Origenes und Rousseau oder des zeitgenössischen Egalitarismus.

Zu pervers und bizarr, um nicht zum Idol zu taugen.

Zu schön, harmonisch und sublim, um einer Aufnahme in die Anthologie zeitgenössischer Gedichte für würdig befunden zu werden.

Größe zeigen wie auf den Gebieten der Mathematik und Wissenschaft nicht minder die Erfinder und Entdecker im Garten der Dichtung; so Sappho, Alkaios und Asklepiades, die es um den Ausdrucksreichtum ihrer rhythmischen Wasserspiele und strophischen Ranken erweiterten; so Horaz, der ihre metrischen Formen als hellhörige und tiefblickende Organe und Instrumente zur Verfeinerung der lateinischen Dichtersprache entdeckte und verwendete.

Der unreife Apfel schmeckt sauer, das Geschwätz des Zeitgeistes fade.

Die reife Frucht leuchtet, vom fauligen Anhauch bekommt sie häßliche Flecken.

Die uns die Ahnen säten, die Funken des Logos spermatikos, im Dunkel flackern sie noch wie schwache Friedhofskerzen.

 

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