Skip to content

Rien que la Nuance

13.03.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Que ton vers soit la bonne aventure
Eparse au vent crispé du matin
Qui va fleurant la menthe et le thym…
Et tout le reste est littérature.

Dein Vers sei hohen Aufbruchs Spur,
streu ihn auf früher Lüfte Bahn,
wo Minze duftet, Thymian …
der Rest ist nichts als Literatur.

Paul Verlaine

 

Das Seltene den Seltenen.

Goethe, der Dichter des zweiten Gesichts. Wie sollte ihn verstehen, wer nicht selbst aus dem Laub der Nacht das grinsende Gespenst seines eigenen Daseins hat heraustreten sehen?

Der Überwulst des Intellekts, der in der Gestalt des dick bebrillten, ungeschlachten Schädels auf schmächtigem, in Lederhosenröhren versinkendem Rumpf das Gespött rüder Schulbuben war, vermag sein Stigma wohl mittels blendender Rhetorik oder liebedienerischer Clownerien zu verwischen, ist uns aber kein Garant höherer Intuition, wie sie der dichterischen Sphäre einzig gemäß ist.

Dichterische Intuition, ein kaum erforschter Sachverhalt, der in organische Tiefen und spirituelle Höhen ragt.

Der Symbolismus im Lichthof eines Baudelaire, Verlaine und Mallarmé war die letzte Hochgestalt abendländischer Dichtung; er irisiert in Dichtern wie George, Trakl oder Yeats nach und ermattet in den schweren Atemzügen des späteren Benn.

Das Wort zeigt sich uns nicht nackt, sondern wie der umhüllte Kern der Nuß. Was wir Überlieferung nennen, ist die Hülle und Schale, ohne die der Kern nicht reifen kann.

Jetzt triumphieren die Zeitungspoeten und Laufstegpoetinnen, die johlend den Hammer schwingen, unter dem die bewahrende Schale des dichterischen Worts in tausend Splitter zerplatzt.

Der Dotter oder die eigentliche Substanz des Worts wird in infantilen Regungen herausgelöst, berochen, chemisch und genetisch analysiert, um verborgene Spuren seines Sinnes zu ermitteln. Die zertrümmerten Schalen, Dichtungsmuster vom Versmaß bis zu hohen Hymnenstrophen, liegen unterm Tisch wie Späne, auf denen wohl ein Mädchenfuß mag weicher schreiten. Was tun mit zerbrochenen Bögen, Säulen, Kapitellen, Fratzen, die an den hohen Pforten alter Dichtung und in den Gängen der alten Strophen von oben Wasser spien, Engeln, die ihre Flügel von Vers zu Vers, von Strophe zu Strophe spreiteten, erlesenen Köpfen, deren Aura ihre Züge ins Überwirkliche verzerrte, auflöste, erhöhte? Sie werden rasch entsorgt wie Spolien eines Vernichtungskriegs; fort wie Mumien ins Museum verbracht und dort von biederen Amtmännern in Ärmelschonen registriert und als schöne Leichen restauriert, als nunmehr dem lebendigen Verkehr entzogene Monstrositäten ausgestellt. So klärt das Verhältnis der neuen Zeit und ihrer bestallten Sachwalter zur abgetanen Kunst und Dichtung der Väter sich zu einer von einem arroganten Lächeln gemilderten stummen Indifferenz.

Sie bebrüten nicht das Ei der Inspiration, sondern knallen das rohe Ei aus dem Supermarkt feiler Einfälle gleich an die Wand.

Verse, die nicht gezeugt, nicht geboren sind, sondern gemodelt.

Wird nicht der Logos ewig gezeugt im himmlischen Blitz, wieder und wieder geboren im dunklen Schoß der Sprache?

Die Retorte, wie sie in der künstlichen Zeugung zu siegen anhebt, hat die Sprache schon absorbiert.

Nur in den Höllen der totalitären Vernunft wird der Mensch mit Absicht gezeugt oder hergestellt; Absicht, die eine humanitäre Phrase und ihre blecherne Übersetzung in eine technische und chemische Formel ausdrückt. So auch das Wort, das man der Absicht einer höheren moralischen Botschaft und universal segensreichen Mitteilung unterwirft.

Sprechen, mit der Absicht, erkannt und wiedererkannt zu werden, gleicht dem Verhalten des Hundes, der an jeder Ecke seine Duftmarken setzt.

Eitelkeit scheint sich wie mit einem Lautsprecher vernehmlich zu machen, ist aber in Wahrheit der Knebel im Mund des Dichters, der ihn röcheln läßt.

Die Frau verführt in ihrer fruchtbaren Phase unwillkürlich mit Blicken, Düften, Gesten; das Gedicht, das mit Farben, Klängen, Bildern die Absicht verfolgt zu verführen, aber ist steril.

Die Erfüllung der Ideale der Aufklärung, Gleichheit und Glückseligkeit aller, ist der humanoide Klumpen in der Nährschale des medizinischen Labors, der künstlich mit allen lustbringenden Reizen zu somnambulen Reaktionen stimuliert wird, aber des individuellen Ausdrucks und also einer ihm eigentümlichen Sprache freudig entsagt. Denn der individuelle Ausdruck birgt die Gefahr eines archaischen Gestus und einer sich selbst feiernden Sprache, die für andere unzugänglich, rätselhaft, unverständlich wäre.

Die Idiotie der Gleichheit der Geschlechter, Begabungen, Rassen und Kulturen ist ein Ausdruck der Angst vor dem quälend Rätselhaften und grausam Mysteriösen des lebendigen Daseins.

Ein Dichter wie Hölderlin mußte einen Schlag aufs Haupt bekommen („Apollon hat mich geschlagen“), um den hohlen und bleichen Allegorien seines Zuchtmeisters Schiller und also der deutschen Version der Aufklärung zu entkommen und jenseits des Gleichschritts fortschrittlicher Gesinnungsbataillone unter dem Flattern der Trikolore zu eigenem Rhythmus und eigener Stimme durchzudringen.

Nochmals der das Anathema von Literaturpäpsten herabbeschwörende Hinweis: Hölderlin ist groß trotz Schiller, Fichte und Hegel.

Selten, im Sinne der Gaußschen Normalverteilung, sind jene, deren hypertrophe und verstiegene sensorische Ausstattung und physiologisch bis ins Krankhafte getriebene Hellhörigkeit und Feinfühligkeit sie zu Aristokraten und Parias der sozialen Masse nobilitieren oder verurteilen.

Der eine vermag musikalische Klänge und Akkorde in farblichen Mustern zu sehen; ein anderer hört den Nebel wallen, Gestirne tönen.

Goethe sah in den Rhythmen von Tag und Nacht und der Jahreszeiten das Drama des Einzelnen und der Menschheit.

Einer, ein einziger, erfindet ein odisches Strophenmuster, das über Jahrtausende die Dichtung des Abendlandes zu sublimsten Aufschwüngen inspiriert hat.

Einer sieht im Auge der Geliebten den Brunnen, in den ohne Wiederkehr hinabzusteigen ihm sich als Sinn des höheren Eros offenbart.

Jene im Zwischenreich des Mythos, die zum ersten Mal im Gestaltwandel des zu- und abnehmenden Mondes das Wesen der Frau erkannten.

Einer, der unter Liebe versteht, die Löcher in der Aura der Geliebten mittels Hingabe des eigenen Seelenlichts zu füllen.

Je differenzierter und subtiler die sinnliche Organisation des Hochbegabten, umso einsamer ist er.

Die Tapferkeit des Erwählten bewährt sich in der Annahme seiner notwendigen Einsamkeit, ob sie nun tragische oder komische Züge annimmt.

Wer aus der horazischen Menge wird nicht höhnen und es als Ausdruck verzärtelten, luxurierenden Daseins verunglimpfen, wenn ein Hofmannsthal oder Rilke klagt, ein bestimmter Luftdruck verursache ihm seelische Schmerzen oder der im Abendlicht glitzernde Tau blende ihn?

Der vulgäre Geschmack bedarf stechender und immer schärferer Reizmittel, um überhaupt etwas zu empfinden. Grelle Farben, schreiende Kontraste, blutig erigierte Nasen und wackelnde Geschlechtsteile müssen über die Bühne strömen und feixen und sich wälzen, damit er nicht gähne.

Hohltönende Rhetorik der Anklage und Kritik, wie sie etliche Seiten des Hyperion aufbläht, sind stets ein Anzeichen dafür, daß die dichterische Seele noch unerfüllt blieb, nicht im Knospenschoß der eigenen Sprache atmet und ruht.

Stirb oder werde! Nicht: Übe Kritik und gähne!

Ein Übermaß von Begabung hat meist ein entsprechendes Maß pathologischer Seelenverformung zur Folge. Der Hellsichtige sieht leicht Gespenster, der Hellhörige vernimmt feindselige Schritte im Gang.

Der hoch Empfindsame bricht nicht nur unter jählings einfallendem Hochdruck ins Knie, sondern neigt zu masochistischer Selbstquälerei, da ihm der aktive Ast des Wachstums kahl geblieben oder abgebrochen ist.

Der Übergesichtige tendiert zum Voyeurismus und schließt sich depressiv in seine platonische Bilderhöhle ein; der Überempfindliche neigt zu Ausbrüchen blinder Wut, der Feingeist zum Grobianismus, der Pilger der blauen Blume zu selbstverzehrendem Schmachten.

Der Eloquenz und Rhetorik aus dem Arkanum der Dichtung verbannt hat, sitzt verdrossen und schweigsam in der Ecke der Kneipe oder schwadroniert nach dem dritten Glas auf fremde Tischnachbarn ein.

Jenen, die eine Grisaille unendlicher Übergänge zwischen Hellgrau und Dunkelgrau malen, verbrüdern sich, die Schwellen und Stufen der sich vertiefenden Stille im Lauf des Mondes über einen Teich in der Abenddämmerung bedichten.

Die auf den Zuschauersitzen dösen, wobei zu dösen ein anhaltender Ausdruck ihrer seelischen Konstitution darstellt, lechzen naturgemäß nach einer schallenden Ohrfeige, einem schwarzen Saxophongellen oder einem apokalyptischen Hufschlag, damit sie aufschrecken und nachsehen, was da wieder los ist.

Denen ein feuchter Windhauch genügt, um zu fühlen, daß die Dämmerung naht, denen ein vager, moosiger Dunst die Nähe der verborgenen Quelle anzeigt, zu der sie aufgebrochen sind, und denen das bang zitternde Geläute aus dem hinter hohen Eichen kauernden Dorf die Erinnerung an eine sonntägliche Pastorale der Kindheit weckt, sie sind wohl rechtens als für dichterische Andeutungen und Nuancen empfänglich zu betrachten.

 

Comments are closed.

Top