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Wittgensteins Sinnbilder XVIII – der schlüpfrige Abhang

13.04.2019

Mein Verstand ist, soweit ich es beurteilen kann, nicht weniger lebhaft als er war. Ich habe noch immer Gedanken, die mir interessant scheinen. Aber ich verfalle immer wieder in einen Zustand, der eine gewisse Ähnlichkeit mit großer Müdigkeit hat, aber nicht gewöhnliche Müdigkeit ist. Es ist mir dann, als wäre ich ganz nahe einer seelischen Katastrophe, nahe irgend einer Form des Wahnsinns; als könnte ich der geistigen Umnachtung keinen Widerstand mehr leisten. So etwa, als wäre ich auf einem ganz schlüpfrigen Abhang und könnte mich nur noch an ein paar Grashalmen anhalten. Ich habe Tage und Wochen ganz ohne diese Schrecken, und Tage, an denen ich nur eine ganz geringe Mahnung an sie höre. Wohin es führen wird, weiß Gott – ob ich noch wirklich gesunden kann, ob einmal das Gefürchtete wirklich eintreten wird. Wie immer es ist – denk an mich! Denke an die Zeit, die auch ich nie vergessen kann. Möge das, was mir jetzt als das Schrecklichste erscheint, nicht kommen! Ich habe hier, in Cambridge, leider niemanden um mich, der mir helfen kann; ich meine natürlich nicht einen Doktor, sondern einen Freund. Es sind ein paar Leute hier, die ich schätze, aber niemand, der mir nahe steht. Ich will, daß du das alles weißt; aber nicht, damit du dich um mich sorgst (denn ich stehe sozusagen in einer höheren Hand) noch auch, daß du darüber redest. Denk aber an mich und wünsch mir alles Gute. Und das tust du ja ohnehin.

Aus dem Brief Ludwig Wittgensteins, den er am 14.10.1946 aus Cambridge an seinen Freund Rudolf Koder schrieb

Quelle: Wittgenstein und die Musik, Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder, Innsbruck, Wien 2014, S. 65

 

Es scheint ein Licht auf die psychische Struktur zu werfen, daß wir zwar davon reden, einer habe den Verstand verloren, nicht aber, einer habe die Vernunft verloren. Was wir gewöhnlich Verstand nennen, ist im Gange, wenn wir rechnen, Proportionen vermessen oder abschätzen, Folgerungen aus Gedanken ziehen oder durch Analyse gegebener Informationen herausfinden, was demjenigen, was sie uns sagen, vorausgegangen sein muß; so folgern wir aus der Annahme, Peter sei älter als Hans, daß Hans jünger als Peter ist; so schließen wir aus der Tatsache, daß die neunte archäologische Grabungsschicht auf dem Hügel von Hisarlik Brandspuren aufweist, es könnte das homerische Troja sein; und wir setzen beim Fund reihenförmig geritzter Feuersteine voraus, daß an der Stelle Menschen gehaust haben.

Verständig handelt, wer in aktuellen Fahrplänen die schnellste Direktverbindung zu seinem Zielort ausfindig macht; ob er freilich vernünftig handelt, ist eine andere Frage; vielleicht bliebe er angesichts seines Gesundheitszustandes oder der Aussicht auf unangenehme Begegnungen an jenem Ort besser zu Hause.

Wittgenstein ließ allerdings den Einspruch der Gattin seines Freundes Moore gegen ihre langwierigen und aufregenden Unterredungen, die sie für den angegriffenen Gesundheitszustand ihres Mannes als sehr abträglich, ja gefährlich empfand, nicht als vernünftigen Einwand gelten, sondern bestand auf der Fortführung ihrer hitzigen Debatten; sollte Moore dabei einen Schlaganfall erleiden, sei er gleichsam im richtigen Moment gestorben, nämlich als Opfer für das höhere Ziel seines Lebens, die Erkenntnis, die demgemäß für Wittgenstein die gleichsam biedere oder bürgerliche Vernunft der komfortablen Lebensverlängerung in den Schatten stellte.

Daß Wittgenstein seinen geistigen Zustand schilderte, als werde er von den Furien des Wahnsinns verfolgt, war keine Koketterie eines eitlen Genies, ähnlich der romantischen Verklärung des Irrsinns pour épater le bourgeois. Er äußerte Befürchtungen der Art, die in diesem Brief sehr nackt ausgesprochen werden, auch in den späteren Gesprächen mit O. K. Bouwsma in Amerika. Wittgenstein versinnbildlicht den Schrecken und die Angst, wahnsinnig zu werden, durch die Situation eines Menschen, der einen schlüpfrigen Abhang herunterrutscht und sich – vergebens – an ein paar Grashalmen festzuklammern versucht.

Dies ist das Bild für die Angst vor dem Wahnsinn, doch hat in ihm der Wahnsinn schon seinen Schatten geworfen. Denn was wäre in dem Bild der Wahnsinn, wenn nicht das schließlich unausbleibliche Loslassen der Hand des Gleitenden und das endgültige Fallen.

Das Fallen bedeutet die Unmöglichkeit, an seinen Freund Koder im fernen Österreich als seinen Freund zu denken; daher die Beschwörung, er möge an ihn denken, als würde dies ihm helfen, an sich selbst zu denken. Das Fallen bedeutet die Unmöglichkeit, an sich selbst als den Freund Rudolf Koders zu denken, an die schöne Zeit der Freundschaft zweier Volksschullehrer in der niederösterreichischen Provinz, als Koder dem Philosophen Klavierauszüge der Symphonien von Brahms und Bruckner oder Stücke des mit der Familie Wittgenstein befreundeten Komponisten Josef Labor vorspielte oder als sie sich in Duos für Klavier und Klarinette versuchten.

Was der Philosoph Wahnsinn nennt, wäre demnach nicht die Krankheit des Verstandes oder die Ohnmacht der Vernunft, auch wenn der Wahnsinn beides zur Folge haben mag, sondern die Zerrüttung der persönlichen Identität, der biographischen Einheit der Person.

Wittgenstein beschrieb, was ihn als Schrecken heimsuchte, auch in dem Bild, die Stürme der auf ihn einpeitschenden Gedanken könnten sein Gehirn zertrümmern; besser wäre das Bild, jene Gedankenstürme würden da und dort und immer mehr Löcher in das feine Netz der grammatischen Sinnverkmüpfungen reißen.

Den Vorboten des Wahnsinns beschreibt Wittgenstein als Gefühl einer großen Müdigkeit, wenn auch keiner, die uns zum Schlummer einlädt, sondern im Gegenteil einen beim Nachlassen und der Eintrübung der hellen Aufmerksamkeit unversehens im Nacken packt und an jenen schlüpfrigen Abhang schleppt, an dem es kein Halten mehr gibt.

Symptomatische Vorboten des Wahnsinns im Zusammenbruch der Persönlichkeit – Wittgenstein nennt es treffend die „seelische Katastrophe“ – können plötzlich einbrechende euphorische Zustände sein wie beim epileptischen Anfall des Fürsten Myschkin, wie es Dostojewski in seinem Roman „Der Idiot“ schildert, oder bei den rauschhaft übersteigerten Zuständen Nietzsches, die ihn seine sogenannten Wahnsinnszettel an Cosima Wagner mit „Dionysos“ unterzeichnen ließen.

Bei Wittgenstein allerdings finden wir Symptome panischer Angst, die auch bei schizophrenen Grunderkrankungen häufig sind und sich in einem paranoiden Wegschlagen der Sicherungen und Verankerungen der normalen Kommunikation äußern; doch ob die öfters bemerkte Überempfindlichkeit des Philosophen gegen ihn feindselig dünkende Einstellungen von Leuten, die seine unveröffentlichten Manuskripte ausgeschlachtet haben, und seine Neigung, sich selbst von nahen Schülern verraten zu fühlen, wenn sie seine Gedanken als eigene ausgaben oder verstümmelt in Umlauf brachten, auf paranoide Züge seiner Persönlichkeit verweisen, muß offen bleiben.

Trotz der unheimlichen Gefährdung, der er sich ausgesetzt fühlt, weiß sich Wittgenstein, wie er dem Freund anvertraut, in einer höheren Hand. Er spricht nicht von Gott, doch erinnert die Stelle unwillkürlich an das Bild, das er in seinem Vortrag über Ethik und Religion vom religiösen Grundgefühl der Geborgenheit in Gottes Huld und Gnade anführt, eine Sicherheit, die, weil sie aus einer Dimension jenseits der Grenzen von Sprache und Wissen kommt, höher ist und schwerer wiegt als all die Unsicherheiten des menschlichen Daseins.

Wir erfahren in diesem Bekenntnisbrief auch manches über den Sinn der Freundschaft und der in ihr wie die Perle in der Muschel enthaltenen Liebe, wenn sie heutzutage auch im Theaternebel jener dilettantischen Dramaturgen verschwimmt, die ihn, den Nebel, in Wittgensteins Liebesleben blasen, als sei es nichts als die verpatzte Inszenierung verdrängter Homosexualität.

Im Übrigen verwirft der Kranke den Gedanken daran, einen Arzt und Psychiater zu konsultieren, denn nicht ärztliche Kunst könnte ihm beistehen, sondern nur der liebende Umgang mit einem Freund.

Es muß demnach einen inneren Zusammenhang zwischen seelischer und geistiger Gesundheit und der Fähigkeit zur Liebe geben. Man könnte ihn dort vermuten, wo der Keim ans Tageslicht tritt und der grüne Sproß wachsend und Blüten hervortreibend sich der Wärme und dem Licht der Sonne entgegenreckt.

Liebe ist demnach die Nähe zu einem befreundeten Menschen, die selbst die ungeheuersten Anfechtungen und Schrecken mildert, lindert, erträglicher macht, wenn sie auch keine Heilung in Aussicht stellen mag. Diese könnte nur von innen kommen, wie bei einem Baum, der um die verwundete Stelle die Rinde wachsen läßt, oder vielleicht von oben, wenn jene Hand sich fühlbarer neigen oder sich dem Mann, der auf dem schlüpfrigen Abhang schon die letzten Grashalme losgelassen hat, rettend ausstrecken würde.

 

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