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Das Gleiche ist nicht das Selbe, Teil II

26.12.2016

Philosophischer Exkurs über Identität und Individualität und die semantische Verbindung wahrer Sätze mit der Wirklichkeit

Ähnlichkeit und Identität sind kategorial unterschiedliche Begriffe; Dinge, die einander in einer, vieler oder jeder Hinsicht ähnlich sind, werden nicht dadurch zu denselben Dingen, daß wir ihre Ähnlichkeit vergrößern und intensivieren. Ein Ei mag noch sehr einem anderen gleichen, sie bleiben zwei Eier, und das eine kann nie dasselbe sein wie das andere.

Der Traum ist die Welt des Ähnlichen; wir sehen im Traum einen Menschen, den wir zu kennen meinen, im nächsten Augenblick spricht er mit eines anderen Menschen Stimme oder hat das Gesicht einer anderen Person, der er ähnlich sieht, mit der er verwandt ist oder im Gegenteil verfeindet. Die angeblichen Gesetze der Assoziation, die man bei der Traumdeutung gern in Anschlag bringt, sind in Wahrheit überhaupt keine Gesetze, denn wir vermögen nicht vorauszusagen, mit welchen anderen Bildern sich das gerade gesehene Traumbild im nächsten Augenblick anreichern, überlappen oder teilweise auslöschen wird. Es scheint so, als hätten wir eine tiefe symbolische Wahrheit erkannt, wenn wir dem Traumbericht des Freundes entnehmen, er habe zuerst von seinem Vater geträumt und dann von einem Wolf, der ihm schrecklich die Zähne entgegengefletscht habe: Wir wissen indes nicht, ob wir aufgrund der sogenannten Assoziationsgesetze der Kontiguität, der Analogie und des Kontrasts nunmehr auf jene lang bemühten kindlichen Ängste vor dem Vater oder gar auf Kastrationsängste schließen können, denn das Bild des bösen Wolfs könnte nicht der Abschluß der Traumsequenz, sondern in der eigentümlichen Dramaturgie des Traumspiels der Beginn einer neuer Szene gewesen sein.

Wir können keine wahren Sätze der Art wie „Diese Blüte ist blau“ oder „Peter ist der Täter“ auf das Traumgeschehen anwenden, weil der Begriff der semantischen Identität auf den Traum keine Anwendung findet. Die geträumte Blüte hat kein Licht der Wellenlängen zwischen 460 und 480 Nanometern emittiert, die den Grund, weshalb wir sie blau nennen, in eben dieser physikalischen Ursache verankerte. Wir färben die Blüte des Traums gleichsam mittels des Farbkastens der Erinnerung, und die Farbwahl des Traums gehorcht anderen Regeln als der semantischen Identität bei der Farbbestimmung unseres wachen Lebens. Wenn wir im Traum erleben, wie unser Freund Peter Geldscheine oder wichtige Papiere aus der Schublade unseres Schreibtisches zieht und verstohlen einsteckt, können wir ihn am nächsten Tag, wenn wir ihm bei vollem Bewußtsein zufällig auf der Straße begegnen, aus diesem Grund nicht scheel anschauen oder gar zur Verantwortung ziehen.

Wir träumen demnach, wenn wir uns im Wachzustand befinden, genau aus diesem Grunde nicht, weil wir wissen oder mit guten Gründen annehmen, daß diese uns gezeigte Blüte denselben Farbwert wie unsere Farbskala, nämlich Blau, hat oder daß Peter derjenige ist, der Paul bestohlen hat.

„derjenige, welcher“ oder „derselbe, der“ ist der Ausdruck oder die grammatische Formel der semantischen Identität oder das Kriterium unseres Wachbewußtseins.

Der semantisch-ontologische Unterschied von Traum und Wachbewußtsein liegt keineswegs darin, daß im Traum jene physikalischen Gesetze nicht gelten, die verhindern, daß wir uns im wachen Leben plötzlich in die Lüfte erheben und über die Landschaft fliegen oder kompakte und feste Materien wie eine Wand durchschreiten können: Lebten wir in einer wundersamen Welt, in der all das möglich wäre, unterschiede sie sich von der Traumwelt doch darin, daß wir sagen könnten: „Derjenige, der durch die Luft flog, und derjenige, der durch die Wand geschritten ist, ist derselbe, der er war, als er über den Boden ging, und derselbe, der er war, als er sich vor der Wand aufhielt.“ Und dies könnten wir wohlgemerkt im Traum oder für das Traumgeschehen nicht füglich behaupten.

Halten wir formelhaft fest: Es gibt keinen semantischen Übergang von dem Gleichen zu dem Selben, denn das Gleiche und das Selbe sind kategorial unterschiedlich.

Eine Blüte, die in jener wundersamen Welt uns zuerst blau und dann rot erschiene, wäre zuerst eine blaue Blume mit den bekannten Farbeigenschaften und verwandelte sich dann wundersamerweise in eine rote Blume mit den bekannten Farbeigenschaften – doch es wäre keine noch so wundersame Welt denkbar und möglich, in der dieselbe Blüte zugleich blau und rot sein könnte. Ist es physikalisch nicht möglich? Das mag sein oder nicht sein; entscheidend ist, daß es begrifflich unmöglich ist: Wir kommen an die Grenzen der Sprache, und müssen eingestehen, daß wir die Identität der Sache verlieren, wären wir genötigt, ihr ausschließende und widersprechende Bestimmungen zu attribuieren.

Der alte Herr Peter ist gestorben, und sein treuer Königspudel Cora ist in einem traurigen Zustand; da geschieht es, daß der einzige Erbe, sein Zwillingsbruder Paul, der lange im Ausland gelebt hat, zur Beerdigung anreist und dann das Haus des Bruders samt seinem Hund übernimmt. Nehmen wir an, Paul habe nicht nur dieselbe Gestalt und dasselbe Aussehen wie Peter, er sei ihm nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten, sondern ihm auch in der Stimme, im emotionalen Ausdruck und allem Gebaren so ähnlich, daß viele Bekannte des alten Herrn verwundert und ein bißchen erschrocken dreinblicken, wenn jetzt Paul die Türe öffnet. Doch die Hündin Cora ist gar nicht verwundert, sondern glücklich, glaubt sie doch, ihr Herrchen sei wieder da, zumal Paul sogar dieselben Duftnoten verströmt wie sein verstorbener Bruder, was dem Hund sehr angelegentlich entgegenkommt.

Sollen wir nun sagen, für Cora habe sich Peter in Paul verwandelt? Oder sollen wir sagen, für Cora ist Paul derselbe Herr, der ihm zuvor Peter gewesen?

Wir wissen, daß Peter verstorben und Paul eine andere Person als sein Zwillingsbruder ist. Gemäß unseren Voraussetzungen aber kann der Hund Cora dies nicht wissen: Tiere leben nicht in der semantisch-logischen Welt, deren Unterscheidungskriterium die semantische Identität darstellt. Tiere finden ihr Genüge an der Wahrnehmung des Gleichen, sie nähren ihr mehr oder weniger bewußtes Leben gleichsam von Ähnlichkeiten, sie leben, können wir kühn formulieren, in der Traumwelt eines animalischen Traumbewußtseins.

Wie aber wir, wie sind wir aus dem Traumbewußtsein zum Wachbewußtsein gelangt? Dadurch, daß wir erfahren haben, daß nur wir und ausschließlich wir zu uns und über uns „ich“ sagen können, während alle anderen uns mit „du“ oder „Sie“ anreden oder von uns als „er“ oder „sie“ berichten.

Wer von und über sich „ich“ sagt, geht davon aus, daß er dieselbe Person ist, die heute Morgen das Haus verließ, ihre Arbeit im Büro verrichtet und anschließend einige Einkäufe erledigt hat und jetzt den Schlüssel zu ihrer Wohnung umdreht; dieselbe Person, die vor einem Monat von ihrem Arbeitskollegen sich ein Buch ausgeliehen und es ihm heute verabredungsgemäß wieder ausgehändigt hat; dieselbe Person, die beim Frühstück sich vorgenommen hat, ihrer Katze Mimi frisches Futter zu besorgen, sie hat dies ihrer Katze sogar spielerisch-neckend mitgeteilt und das Futter im Laden besorgt, um es abends dem glücklichen Tier in den Napf zu geben.

Die Katze hat nicht daran gedacht, sich nicht daran erinnert, nicht gehofft, daß ihr Besitzer an sie denkt und ihr das Futter besorgt, welches er ihr nun verabreicht; sie konnte so etwas nicht denken, weil sie nicht zu sich sagen kann: „Ich will mein Herrchen heute Abend besonders freundlich begrüßen, er hat es verdient, denn er versprach mir, frisches Futter mitzubringen.“

Warum kann die Katze Mimi, das schlaue Tier, dies nicht? Weil sie nicht aus dem animalischen Traumbewußtsein zu dem wachen Zustand aufgetaucht ist, in dem sie von sich und über sich „ich“ sagen könnte. Wir können den semantisch-ontologischen Tier-Mensch-Unterschied auch so ausdrücken, daß wir sagen: Die Katze hat keinen Begriff davon, daß die Person, die am Morgen versprochen hat, Futter zu besorgen, mit der Person identisch ist, die ihr am Abend das Futter verabreicht; und dies kann sie deshalb nicht, weil sie selbst nicht weiß, daß sie dasselbe Wesen ist, dem ihr Besitzer am Morgen das Versprechen gegeben hat, ihr am Abend Futter mitzubringen, und dem gegenüber er es am Abend erfüllt, indem er ihr das Futter verabreicht.

Wir bemerken, daß Tiere über keine semantische Brücke zu dem gelangen können, was wir Wirklichkeit oder Realität nennen, weil ihre Natur ihnen – vielleicht nicht zu ihrem Unglück – verwehrt hat, Sätze, wahre oder falsche Sätze, zu bilden, auf die die semantische Identitätsformel „derselbe, der“ Anwendung finden könnte.

Die Unfähigkeit der Katze Mimi, sich und ihren Besitzer abends als dieselbe und als denselben wiederzuerkennen, die sie am Morgen waren, beruht nicht auf physiologisch fundierten Defiziten der Aufmerksamkeit und des Erinnerungsvermögens, denn die Katze wird sehr hellhörig und erkennt sogleich, daß ihr Besitzer die Wohnung betritt, aber sie hat keinen Begriff davon, daß er dieselbe Person ist, die heute Morgen das Haus verließ und jetzt mit einem Freund telefoniert. Das Tier hat ein Wahrnehmungsbild und ein entsprechendes Erinnerungsbild von ihrem Besitzer, aber sie kann nicht den wahren Satz bilden: „Dieselbe Person, die heute Morgen hier gefrühstückt hat, war tagsüber nicht da, sondern in ihrem Büro.“ Und das kann sie deshalb nicht, weil sie nicht den Satz bilden kann: „Vorgestern hat mich mein Besitzer mit ins Büro genommen, an diesem Tag war ich nicht in der Wohnung.“

Die Katze kann nicht zu sich sagen: „Vorgestern war ich wie alle Tage hier in der Wohnung“, obwohl sie vorgestern tagsüber nicht in der Wohnung war; denn da sie keine wahren Sätze bilden kann, so auch keine falschen.

Wenn am Abend nicht wie gewohnt ihr Besitzer in die Wohnung kommt, sondern sein Freund, weil jener für ein paar Tage verreist ist und dieser für ihn das Tier versorgt, kann die Katze wohl klar wahrnehmen, daß eine andere Person anwesend ist, aber sie kann nicht zu sich sagen: „Mein Herrchen ist heute nicht gekommen.“ Und das rührt von der wesentlichen semantischen Tatsache her, daß Tiere über keine Sprache verfügen, mit der sie negative Sachverhalte behaupten könnten. Der hier relevante negative Sachverhalt läßt sich unter Anwendung des semantischen Identitätskriteriums so ausdrücken: „Die Person, die jetzt hier anwesend ist, ist nicht identisch mit dem Wohnungsinhaber.“

Wir wissen im Gegensatz zur Hündin Cora, was es heißt, daß der verstorbene Peter nicht dieselbe Person wie sein Zwillingsbruder Paul ist, und wir wissen im Gegensatz zur Katze Mimi, was es heißt, daß die hier anwesende Person nicht identisch mit dem Wohnungsinhaber ist, aus dem einfachen Grunde, weil wir wissen, was es heißt, daß wir selbst nicht identisch mit einer Person sind und sein können, die verstorben ist oder sich anderswo aufhält als dort, wo wir gerade weilen.

Ein weiterer wesentlicher Tier-Mensch-Unterschied, der auf das semantische Identitätskriterium verweist, beruht auf unserer gleichsam negativen Fähigkeit, uns systematisch zu irren und Fehler zu machen: Wir glauben, Peter sei zu Hause, doch er ist es nicht, wir verwechseln Peter mit Paul; Tiere wie Cora der Hund und Mimi die Katze haben allenfalls ihre Spur verloren, verheddern sich in Gestrüpp und Garn, stolpern über einer Hürde oder buddeln nach der Maus im falschen Mauseloch, doch sie irren sich nicht dergestalt, daß ihre Mutmaßung, Peter sei mit Paul identisch, falsch ist, oder ihre Annahme, daß ihr Herrchen ihnen heute Abend Futter mitbringe, falsifiziert wird.

Wenn wir den Tischnachbarn versehentlich anstoßen, weil wir reflexhaft eine zudringliche Fliege abgewehrt haben, entschuldigen wir uns, auch wenn unser Fauxpas ohne die geringste Absicht geschah. Wir gehen demnach davon aus, daß wir die Körperbewegung, die ohne Absicht und reflexhaft sich vollzog, so klassifizieren, als sei sie absichtsvoll von uns herbeigeführt worden; so zeichnen wir gleichsam verantwortlich für das, was uns widerfuhr. Daraus folgern wir: Auch wenn alle unsere scheinbar absichtsvollen Bewegungen und Handlungen determiniert wären, wären wir immerhin frei, dennoch für sie oder viele von ihnen verantwortlich zu zeichnen. Wir wollen damit auf die merkwürdig komplexe Ontologie der Ich-Identität hinweisen, die jedenfalls nicht, wie es eine einflußreiche Meinung will, auf den Willen zur Selbstbehauptung reduziert werden kann.

Wir können es im Bilde auch so sagen: Das Ich gleicht eher einer weichen Knet- und Modelliermasse, die sich den Rastern und Mustern unserer Sprachspiele geschmeidig anbequemt, als einer Lanze oder spitzen Waffe, die der ums Überleben sorgende Organismus immerzu jäh und blind in die Umgebung sticht. Bei solch einer Spiegelfechterei käme er sich bald selber abhanden. So bin ich mehr der Angeredete als derjenige, der da immerzu dareinredet; was ich sage und zu sagen habe, wird ja getragen und ins Licht gehoben von den Arabesken und Ornamenten im Teppich des schon immer und immer wieder Gesagten. Allerdings gilt auch: Mag das Ich als ein stilles, flaches und demütiges Wasser auf dem sehenden Auge des Lebens schwimmen, ein noch so ruhiges Wasser mag aufschäumen, aufgewühlt und aufgepeitscht werden, wenn Stürme des Schicksals darüberhingehen.

Was ich gesagt und getan habe, kann kein anderer im genau gleichen Sinne gesagt und getan haben. Könnte ein anderer als ich das, was ich gesagt und getan habe, im genau gleichen Sinne gesagt und getan haben, wäre ich nicht dieselbe Person, die dies gesagt und jenes getan hat. Auf diese herausgehobene Ich-Identität zielen wir ab, wenn wir feststellen, daß wir nicht nur typidentisch mit uns bleiben, wie der Baum oder das Tier, deren organische Zusammensetzung im Lebenszyklus bei gleichbleibender organischer Form und Struktur wechselt und gänzlich ausgetauscht wird, sondern singulariter oder als diese einzelne vollständig individualisierte Person mit uns identisch bleiben: Denn wenn ich sterbe, bin ich dieselbe Person, die einst, in einem gleichsam außerzeitlichen Einst, erfahren hat, daß sie lebt.

Wir resümieren: Diese uns hier gezeigte Blüte ist genau diejenige Entität und keine andere, in der so und so viele Eigenschaften und Relationen wie in einem Bündel realisiert und instantiiert sind, und zu diesen gehören der Ort (und die räumliche Ausdehnung), die Zeit (und Dauer), die Dimensionalität (Fläche oder Körper), die Farbe, die Anzahl (der Blüten- und Staubblätter), der Abstand (vom Boden, der nächsten Blüte …), die innere Struktur … Wie viele Eigenschaften und Relationen sind es? Sehr viele, indes nicht unendlich viele; denn wären es unendlich viele, wären sie bei endlicher Zeitdauer nicht vollständig verwirklicht; sie sind aber verwirklicht, denn die Blüte steht vor uns, demnach sind es endlich viele.

Die blaue Blüte ist dieselbe Entität, die genau auf diese und keine anderen Arten und Weisen verwirklicht ist, denn wäre sie zum Beispiel an einem anderen Ort verwirklicht, wäre sie eine andere Blüte.

Wir bemerken: Die semantisch-ontologische Identität erfaßt eben dasjenige, was Duns Scotus und die mittelalterliche Philosophie die haecceitas, das einzelne und einmalige individuelle  Dasein, nannten.


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