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Depression: Nicht man selbst sein wollen

06.01.2016

Unterwegs zu einer transzendentalen Semantik IX
oder: Warum Roboter keinen Selbstmord begehen

Wir unterscheiden Erkrankungen des Selbstbezugs und des Weltbezugs, wobei es in den beiden Klassen um ein Mehr oder Weniger, nicht ein Entweder-oder geht. Je gestörter der Selbstbezug wie bei Psychose und Depression, umso verwirrter der Weltumgang, je regelhafter und starrer der Weltumgang des Kranken, umso stabiler der Selbstbezug wie bei der Neurose.

Wir lassen uns nicht von der typischen Verhaltenssymptomatik des depressiv Verstimmten oder schwermütig Erkrankten, sich von der Welt zurückzuziehen und den Kopf in den Sand zu stecken, verleiten, die Ursache der Krankheit in einem gestörten Verhältnis zur Umwelt zu suchen. Wir leiten die depressive Erkrankung sinnvoller von einer starken Irritation oder Verzerrung des Selbstverhältnisses ab, die den Betroffenen durch Einschränkungen der selbsthaften Bezüge von den Leibempfindungen bis hin zum Zeitempfinden und den Erinnerungen heimsucht.

Dabei scheint es sich um Verzerrungen der normalen Abläufe und Maßstäbe zu handeln. Der Kranke wähnt seinen Körper aufgedunsen und schwammig, als habe er kein energetisches Zentrum, von dem aus sich Initiativen und ein Neubeginn spannen lassen könnten. Es ist, als trete die Zeit auf der immer gleichen Stelle und alles Geschehen und alles mögliche Geschehen erstarrten augenblicks wie das Wasser zu einem Eiskristall. Alle Möglichkeiten des Tuns und Erlebens sind schon geschehene oder vergebene und vergebliche Möglichkeiten. Es ist, als versänken die Erinnerungen in einem Morast, keine hebt sich ab, keine bildet den Ausgangspunkt einer Wegstrecke, die zum Heute führt und darüber hinaus. Es ist, als wäre die gerade erblühte Pflanze schon welk, als wäre der, dem man entgegenblickt oder dem man sehnsüchtig oder verzweifelt oder gierig anruft und zuruft, noch während des Rufens in Staub zerfallen, unsichtbar geworden oder im unauslotbaren Strom der Zeit ertrunken.

In den Phantasien des Melancholikers tauchen auf einer frühen Stufe des Krankheitsverlaufs typische Bilder von einem fernen erfüllten, paradiesischen Zustand auf, in dem das menschliche Elend, alle Konflikte und Rangunterschiede aufgehoben sind. Dann quält sich der Schwermütige mit glänzenden Phantasiebildern eines reichen, luxurierenden, glanzvollen Lebens, das vor Jugendlichkeit, Macht und Lust strotzt, von dem er sich allerdings aufgrund seiner Häßlichkeit, seines Unvermögens oder einer unverzeihlichen verborgenen Schuld für immer ausgeschlossen wähnt. Bilder im übrigen, die er aus Hochglanzbroschüren über das Leben der Happy Few, der Jeunesse dorée oder des Adels ebenso komponiert haben mag wie aus Hölderlins und Nietzsches Idealsierungen des antiken Lebens oder aus Pornofilmen.

Doch es ist nicht eigentlich der giftige Zahn des Neides, der an dem Schwermütigen nagt und sein Leben zerfleischt und auszehrt. Die Idealisierung fremden Daseins ist eine Folge der tiefergreifenden Störung oder Zerrüttung des Selbstbezugs, die wir in der Formel fassen können: Der Melancholiker will nicht bloß nicht der sein, der er nun einmal ist, sondern er will überhaupt nicht jemand oder man selbst sein. Erst von dieser trüben intentionalen Quelle speist sich schließlich der fatale Wunsch, da man unmöglich nicht man selbst sein kann, überhaupt nicht mehr zu sein.

Nicht jemand sein zu wollen, heißt an den Folgen der Daseinsweise leiden, die mit der Art, jemand zu sein, notwendig verbunden sind: Jemand sein nämlich heißt, notwendig der sein zu müssen, der man nun einmal ist, und kein anderer sein zu können. Jemand sein heißt, dem eigenen Schicksal nicht entfliehen zu können, weder im Rausch noch im Wahn. Jemand sein heißt, die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und die Bahnung des Weges, den man gegangen ist, übernehmen zu müssen und sie nicht abschieben zu können an widrige Umstände, falsche Ratgeber oder bösartige und gemeine Erziehungsberechtigte. Jemand sein heißt, für sich und also einsam zu sein und aus der angenommenen Einsamkeit heraus sich den anderen zu öffnen, ohne sie zu nötigen, die Leere der eigenen Einsamkeit mit Aufmerksamkeiten und Zuwendungen zu füllen und vergessen zu machen.

Die Last, jemand oder man selbst sein zu müssen, diese ursprüngliche ontologische Verpflichtung, wächst sich bei jedem Schritt, der auf dem eigenen Wege ausbleibt, bei jeder Entscheidung, die der Bahnung der eigenen Zukunft verweigert wird, bei jedem Satz, der gesprochen werden wollte, aber ungesagt blieb, zu einem Berg der Schuld aus, unter der sich der Depressive bald begraben fühlt oder vielmehr, von dem er sich gern begraben lassen will.

Der Depressive ist jemand, der es lieber nicht getan und lieber nicht gesagt haben will, was getan und gesagt zu haben unabsehbare Folgen nach sich zieht. Er möchte unerkannt bleiben, namenlos, gesichtslos, ohne den Abdruck seiner Finger oder seiner Leidenschaft zu hinterlassen. Er möchte sich wohl mit dem Körper begnügen, abzüglich des Selbst, dem Körper, den mit seinem Selbst zu bewohnen oder zu verselbsten er sich verdammt fühlt, er möchte der humanoide Roboter sein, von dessen perfektem Dasein unser Neurophilosoph träumt.

Der Depressive sieht sich in einer planken- und schrankenlosen Nacht der absoluten Indifferenz gleiten, da ist draußen nichts, was Halt oder Dauer oder Hoffnung verspricht, weil alles, was menschliches Antlitz trägt, schon von der Lepra der Bedeutungslosigkeit oder des Vergessens angefressen ist. Er hört dem Echo der eigenen Rede nach und findet darin nur Häme, Spott und Hohn.

Oder die Worte zerfallen auf der Zunge, noch bevor sie ausgesprochen wurden, die Worte zerfallen auf dem Weg zum Ohr des anderen oder sie gelangen zu ihm bereits ganz entstellt und unverständlich geworden. Die Worte sind für den Depressiven keine durchsichtigen Tropfen des Sinns, die auf die durstige Welt regnen und in denen sich das Licht bunt bricht; sie sind zäh und opak wie Harz oder steril und geistlos wie Asche, die er zwischen den Zähnen spürt, wenn er mitten im Satz abbricht.

Was sagt es uns über die Natur oder das Wesen oder die Struktur des menschlichen Daseins, wenn Menschen in der Weise erkranken können, daß sie infolge einer Störung des Selbstverhältnisses sich dem Weltumgang und dem Weltbezug verweigern? Wäre menschliches Leben nur aus Gründen und Motiven biologischer Selbsterhaltung zu erklären, stünden wir angesichts der Lebensverweigerung und der Selbsttötung des Lebensmüden vor einem Rätsel, wenn er sich nicht tötet, weil seine Lebensmöglichkeiten erschöpft sind, sondern weil er sich im begrifflichen Netz seines intentionalen Lebens verstrickt hat.

Mag sein, daß höhere Tiere aufgrund des Gefühls, dem Überlebenskampf nicht mehr gewachsen zu sein, sich gleichsam aufgeben und zum Sterben zurückziehen. Doch bemerken wir an der Entwicklung der Depression eine Steigerung von einem Stadium, in dem der Kranke seinen Rückzug mit vitalen und psychologischen Minderwertigkeiten oder Defekten motiviert, bis zu einem Stadium, in dem er sich dem Leben nicht mehr aus einem bestimmten Grund verweigert, wie dem genannten Motiv des Inferioritätsgefühls oder der vitalen Ohnmacht, sondern schlicht und ergreifend am Leben nicht mehr teilhaben will, weil er nicht mehr will oder kurz und bündig nicht mehr und nichts mehr will.

Der Glaube, im Vergleich mit der Lebensmacht und Vitalität der anderen minderwertig, ohnmächtig und ein Madensack zu sein, der auf den Schindanger gehört, war noch ein schöner Glaube, denn er verband den Kranken durch die brennenden und scharfen Gefühle des Neids, der Eifersucht und des Hasses auf die Privilegierten des Lebens mit dem Leben. Jetzt aber glaubt er gar nichts und an gar nichts mehr. Früher war die zwanghafte Phantasie, in jedem Anfang das Ende, in der Frucht den Wurm, in der Wiege und im Bett das Grab, auf jedem Weg und jeder Fahrt den Morast und den Abgrund zu sehen, ein wenn auch zweifelhafter, bitterer und selbstquälerischer Genuß, doch immerhin ein Genuß. Jetzt weist ihm nicht einmal eine noch so perverse Phantasie einen noch so perversen Genuß. Früher war es ihm ein leichtes, sich mittels Abusus von Rausch- und Betäubungsmitteln die Nähe und die Forderung der anderen vom Leib zu halten und die Intensität des Selbstgefühls einzuzwängen in den schmalen Spalt des Todeswunsches. Jetzt ist er zu müde oder findet es den Aufwand nicht wert, sich eine Schlinge zu knüpfen.

Wir stoßen beim Lebensmüden auf den aparten und paradoxen Hang, die Lebensmüdigkeit und den Überdruß am Leben so weit zu treiben und zu steigern, daß die letzte Tat zu aufwendig, zu groß, zu bedeutsam anmutet. So viel Aufhebens um eine so nichtige Sache! Der vollkommene Selbstmörder bleibt aus Gleichgültigkeit sich selbst und dem Leben gegenüber am Leben.

Wir können ironisch sagen, daß der depressiv schwer Erkrankte in seiner Lebensstarre und seiner Indifferenz dem eigenen mentalen Leben und den eigenen intentionalen Zuständen gegenüber das Ideal beinahe berührt, wie ein Roboter zu sein. Und gerade aus diesem Grunde wird er mehr und mehr unfähig, seinen einzigen Lebenswunsch, nicht mehr zu leben, in die Tat umzusetzen.

Bevor der Naturalist seinen Triumph mit der Verweis darauf einfährt, die Krankheit des Kranken sei nichts als die Folge der Schwächung des Lebenswillens und diese nur unser sprachlicher Ausdruck für die ganz und gar natürliche Ursache einer Schädigung oder Zerstörung von neuronalen Verbindungen des Gehirns oder einer Dysfunktion bei der Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter und Hormone, erlauben wir uns als Intentionalisten einen anderen Verweis, nämlich darauf, daß wir die Depression als Krankheit des Begriffs oder als begriffliche Verwirrung in den begrifflichen und semantischen Formen des intentionalen Lebens beschreiben können, eine Beschreibung, die ihrerseits nicht wieder mit den Methoden der naturalistischen Beschreibung in Begriffen von Neuronen, Synapsen, Neurotransmittern und Hormonen übersetzt werden kann.

Was läuft begrifflich schief im intentionalen Leben des Depressiven? Er ist geblendet, gequält und erschreckt von einem falschen Begriff der Freiheit, insofern er annimmt, der freie Wille könne sich wie ein Gespenst oder Geist durch Wände und Widerstände bewegen, er könne proteisch alle Gestalten annehmen, allen Bedingtheiten willkürlich entschlüpfen. So flüchtet sich der Kranke aus Angst vor der Grund- und Bodenlosigkeit einer mißverstandenen Freiheit in die Unterwerfung unter einen fremden Willen oder ein fremdes Gesetz, ob er nun ein paar Mal täglich sich in den Staub wirft und einen allmächtigen Götzen anbetet oder sich den sexuellen Launen eines Weibs versklavt oder dem Geschmack, dem Stil und der Weltanschauung des Zeitgeistes bis zur Selbstentäußerung frönt – in allem, was er unternimmt, sucht er der Kreativität und Freiheit des eigenen Wollens zu entkommen. Natürlich ist diese Flucht vor sich selbst vergeblich und führt nur in weitere Verstrickungen, Hemmungen und Blockaden, bis die Kräfte nachlassen und sich der Kranke hilflos oder sogar erleichtert in die Ausweglosigkeit endgültiger Erschöpfung fallen läßt oder sich in die Intention, keine Intentionen haben zu wollen, verstrickt.

Wir kennen auch den umgekehrten Fall, wenn der Kranke die Einbettung seines intentionalen Lebens in das Bett der Sprache und der Lebensform seiner Kultur begrifflich mißversteht und als Gefahr wahrnimmt, sich im Strom des nicht selbst Hervorgebrachten, des Fremden und Uneigentlichen zu verlieren und unterzugehen oder als weiche Masse unter die mächtigen Prägeformen der nicht selbst hervorgebrachten Sprache und Kultur zu geraten und zu einem Allerweltsklischee oder Dutzendgesicht zu erstarren. Der Kranke bricht dann die Kommunikation in der alltäglichen Sprache und Gestik ab, in der er sich selbst abhanden zu kommen glaubt, und verkapselt sich in eigene Sprachwelten und begriffliche Netze, die ihn aber nur scheinbar tragen, in Wahrheit einschnüren und endlich in eine trostlose Einsamkeit verstricken. Wir hoffen uns mit dieser Beschreibung dem Krankheitstyp der schizophrenen Psychose nähern zu können.

Wie entstehen die Angst vor der Freiheit und die Angst vor der Bindung? Wir wissen es nicht, wir finden nur die Symptome vor, die wir mittels dieser prägnanten Formeln aufschließen und bestenfalls durch Analysen der darin verborgenen begrifflichen Mißverständnisse näher beleuchten können.

Wir bemerken, daß wir seelische Erkrankungen wie die Depression mit Hilfe intentionaler oder semantischer Analysen besser verstehen lernen. Vielleicht kommen wir sogar mittels dieser Analysen einmal zu therapeutischen Konzepten, die andere Methoden unterstützen oder ihnen eine theoretische Grundlage geben können.

Daß ein humanoider Roboter aus Angst davor, er selbst zu sein und sein zu müssen und kein anderer als er selbst zu sein und sein zu können, oder aus Angst vor der eigenen Freiheit und Verantwortung sich in die Depression flüchtete und nach wilden Methoden der Willensaustreibung bis hin zu Stummheit und katatonischen Starre griffe, daß er am Ende all seiner Programme überdrüssig werden und darüber nachdenken könnte, die eigene Festplatte zu überschreiben, daß er dies aber bleiben ließe, weil er zu dem Ergebnis gelangte, es sei der Mühe nicht wert, sich selbst auszulöschen, und so im Stand-by-Modus weiter vor sich hindämmerte, scheint sogar die abgedrehtesten Plots der verrücktesten Sci-Fi-Drehbuchschreiber zu toppen.

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