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Eine dumme Idee

28.09.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Gäbe es einen faßbaren, wenn auch vielleicht nicht leicht faßbaren, Sinn der Welt, hätte er sich längst offenbart (jedenfalls den feineren Geistern). Aber es ist ein Stimmengewirr wie im Tollhaus.

Man sagte leichthin: Alles ist Wasser, ist Feuer, ist Luft oder Geist. Aber wenn gälte, alle x sind P, muß P eine ganz triviale Eigenschaft sein, die Gott und Satan, Buddha und Pol Pot, Krethi und Plethi, Falter und Wurm gleicherweise aufweisen müßten.

Dummheit sagt: Empirische Sätze oder Sätze der Naturwissenschaft sind die einzig relevanten, uns angehenden Sätze. Aber DIESER Satz ist KEIN empirischer Satz, KEIN Satz der Naturwissenschaft.

Dummheit sagt: Intelligenz ist die Eigenschaft, deren komplexe Form uns von den Tieren unterscheidet. Aber Intelligenz ist durchaus im Tierreich, ja im Pflanzenreich beheimatet; sie läßt sich als Modus der Verarbeitung sensorischer Daten wie visueller und akustischer, taktiler und olfaktorischer Sinneseindrücke modellieren. In dieser Hinsicht können wir die mysteriöse, raffiniert aufeinander abgestimmte Kooperation von Rose und Hummel, die Schwarm-Intelligenz von Ameisen, Termiten und Bienen niemals übertreffen. Aber der stumpfsinnige Kretin ist in der Weise anders als sein Hund, als er ihm, nicht dieser jenem, einen Namen gibt und im Gegensatz zu Fips weiß, was gemeint ist, wenn man von Fips spricht.

Die Fähigkeit zu verstehen, welcher Gegenstand, welches Ereignis oder welcher Sachverhalt durch Vermittlung eines akustischen oder grafischen Zeichens gemeint ist, können wir als das spezifische Humanum bezeichnen.

Die uns auszeichnende spezifische Intelligenz geht in dem Maße über Modelle der Verarbeitung sensorischer Daten hinaus, als wir die sensorischen Qualitäten in prädikative Eigenschaften von Sätzen über Dinge, Ereignisse und Sachverhalte umwandeln. Wir bedürfen nicht des sensorischen Komplexes, der von Fips verursacht wird, um über den Hund Fips oder die Tatsache, daß er gerne Männchen macht, reden zu können.

Das Tier ist ein Gefangener dessen, was wir Zeichen erster Ordnung nennen können, der Symptome des Lebens wie der wütenden Mimik des Rivalen, Zeichen, die es nicht als solche wahrnimmt, weder deutet noch versteht, sondern gleichsam wie ein fließendes Gewässer durchwatet.

Gefragt, ob sich im Konferenzraum des Hotels noch Gäste aufhalten, antwortet der Kellner, der Raum sei leer. Dies anzugeben bedarf keiner großen Einsicht, keiner hochgezüchteten Intelligenz; aber zu sagen, daß etwas nicht vorhanden sei oder ein Ereignis nicht stattgefunden habe oder eine Tatsache darin bestehe, daß sie einen positiven Sachverhalt nicht erfüllt, ist ein Indiz für die spezifisch menschliche Fähigkeit, Urteile zu bilden, in denen Gegenständen Eigenschaften zu- und abgesprochen oder Weltzuständen das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten zugewiesen wird.

Peter ist nicht zu unserer Verabredung gekommen; hätte er nicht getrödelt, wäre ihm der Zug nicht vor der Nase davongefahren.

Wir können durch überlegte Verwendung der Negation über nichtbestehende Sachverhalte sowie irreale negative Bedingungsgefüge reden; eine Fähigkeit, die einzig der Tieren abgehenden semantischen Mächtigkeit natürlicher Sprachen zu verdanken ist.

Was wir Denken nennen, ist nicht die Leistung einer technischen Intelligenz oder die systematische Auswahl und methodische Anwendung geeigneter Mittel und Verfahren zur Erlangung vorgegebener Zwecke; ähnlich dem Affen, der einen Zweig als Stöckchen benutzt, um unter der Baumrinde nach Ameisen zu fahnden. Wir können an unseren verstorbenen Freund denken, ohne noch eine bestimmte Absicht damit zu verbinden, doch können wir es nicht, ohne uns beispielsweise seines Namens zu erinnern oder dessen zu gedenken, was er zu uns sagte. Aber der Name des Verstorbenen oder der Klang seiner Stimme hat in unserer Erinnerung nichts weniger als die Präsenz eines leisen, verklingenden Echos.

Wenn uns im Traum der Gedanke überkommt, daß wir träumen, stoßen wir an eine Grenze, die wir nur überschreiten, wenn wir erwachen.

Doch für den Gedanken, der sich im Gehäuse des Schädels oder der Sprache wie in einem Traume eingeschlossen wähnt, gibt es kein Erwachen.

Unser Mitbewohner kann uns sagen, in welcher Nische oder Schublade wir den Schlüssel verlegt haben; doch mit uns selber allein finden wir den Schlüssel unserer Existenz nicht.

Die fragile Exzellenz des Menschen besteht in der Fähigkeit, Kennzeichen zur Markierung seiner Identität, seiner Herkunft, seiner Zugehörigkeit zu verwenden. Kein Menschenaffe legitimiert sich beim Übertritt über die Grenze zu einem fremden Territorium mittels eines Ausweises oder Passes, der seine Identität, seine Herkunft, seine Zugehörigkeit angibt; kein Menschenaffe trägt ein Emblem am Revers, das ihn als Mitglied des Schachclubs, des Kirchenchors der Gemeinde, des Schützenvereins, des Unternehmerverbands oder der Vereinigung avantgardistischer Künstler in seinem Provinzstädtchen ausweist.

Die Angehörigen eines Ameisenstammes, eines Bienenschwarms, einer Vogelkolonie oder einer Affenhorde erkennen den Eindringlich eines fremden Gen- und Phänotyps nicht anhand symbolischer Kennzeichen oder Embleme, sondern an visuellen und chemischen Signalen; Signale wirken unmittelbar kausal, Kennzeichen, Embleme und Symbole wirken aufgrund korrekter oder verfehlter Interpretation.

Wenn der Schüler auf die Tafel schaut, sieht er keine vom verrückten Mathematiklehrer wahllos hingekritzelten seltsamen Kringel, sondern eine Reihe von Zahlzeichen, die er gelernt hat, als eine Gleichung zu lesen.

Das zeichenhafte Emblem am Revers des weißbärtigen alten Mannes steht für die Aussage: „Ich bin Mitglied im Kirchenchor“; die Zahlzeichen auf der Tafel stehen für die Anweisung für ein operationelles Handeln durch regelhafte Transformation; denn sie lassen sich in die Aussage fassen: „Berechne durch Umstellung der Gleichung x2 + 2 = 18 die Unbekannte x“, nämlich: x2 = 18–2 = 16; also x = 4.

Kommt der Schüler zu einem anderen Ergebnis, tolerieren wir es aufgrund dessen, daß wir das richtige kennen, nicht.

Ein herausragendes Merkmal der menschlichen Lebensform ist die Leistung von kurz- und längerfristigen Übereinkünften, vertragsähnlichen Bindungen und Absprachen und der sie bezeugenden Gesten und Dokumente für die Ordnung des Zusammenlebens, ob es sich um eine bindende Zusage per Handschlag, einen Ehevertrag, einen Geschäftsabschluß oder ein Friedensabkommen handelt. Zukunftssicherung, die sich auf das Herkommen und die Siegel archivierter Akten stützt, ist der zeitliche Modus menschlichen Sinnens und Trachtens.

Schriftliche Monumente verbinden uns mit dem Geist der Jahrtausende. Das Leben der Tiere rinnt gedächtnislos dahin.

Es ist eine törichte, aber verbreitete Annahme, aufgrund der Tatsache, daß wir mit manchen unserer Interpretationen danebenliegen, seien all unsere Interpretationen von Zeichen auf Sand gebaut.

Aber aufgrund der Tatsache, daß der Fußgänger bei Grün über die Straße ging und unbeschadet auf die andere Seite gelangte, weiß ich, daß er die grüne Ampel richtig als Zeichen für „Jetzt kannst du gehen“ verstand, und wenn er bei Rot über die Straße ging und von einem Auto erfaßt wurde, weiß ich, daß er die rote Ampel entweder fälschlicherweise als Zeichen für „Jetzt kannst du gehen“ verstanden oder ignoriert hat, weil er lebensmüde oder farbenblind ist.

Die wahrlich dumme Idee, die selbst in einen hellen Kopf wie den eines Kant ihren Schatten warf, besteht in der Annahme, daß uns aufgrund der Subjektivität unseres Wahrnehmens und Verstehens, aufgrund des subjektiven Gebrauchs der von uns geschaffenen Zeichen und der von uns gesprochenen Sprachen der Zugang zur wahren Gegenständlichkeit und unverstellten Objektivität dessen, was wir wahrnehmen, darstellen und verstehen, auf immer verwehrt sei.

Indes gilt: Subjektivität ist die Voraussetzung sine qua non von Objektivität.

Wenn der Arzt sein „Exitus“ gesprochen hat, wissen wir um das tatsächliche Ende, den wirklichen Tod unseres Vaters oder unseres Freundes, kein tröstlicher Hinweis auf den metaphysischen Unterschied zwischen einer phänomenalen und einer noumenalen Dimension kann uns den Abgrund der Sterblichkeit füllen.

Dennoch hat recht, wer davon spricht, daß wir aufgrund der Subjektivität unseres Daseins anders sterben als die Tiere.

Wir sagen nicht: „Ich habe heute morgen unseren alten Freund Peter im Park getroffen – jedenfalls schien es Peter zu sein, doch wer oder was diese Erscheinung, auf die ich traf, in Wahrheit und an sich ist, das können wir ja bekanntlich nicht wissen“, sondern wir sagen schlicht die volle und ganze Wahrheit, wenn wir sagen: „Ich habe heute morgen unseren alten Freund Peter getroffen“, eine Aussage, die keinen prinzipiellen Zweifel der genannten skeptischen oder erkenntniskritischen Art offenläßt, ja nicht einmal den relativen, ob es nicht sein Zwillingsbruder gewesen sein könnte, denn Peter hat keinen.

Wir äußern Sätze mit einem hohen Grad an Gewißheit wie: „Die chemische Analyse ergab, daß die Flüssigkeit Wasser ist“ oder: „Die DNA-Analyse ergab, daß es sich um den Täter handelt“, aber schränken ihre Geltung nicht auf eine verstiegene Art ein, indem wir hinzufügen: „Was immer der Stoff, den wir Wasser nennen, eigentlich sein mag“ oder „Was immer sich hinter einem Träger von Genen eigentlich verbirgt.“

Die dumme Idee, daß wir etwas auf Französisch oder Englisch anders meinen könnten als auf Deutsch, widerlegt die logische Tatsache, daß wir aus dem französischen Satz „Ce liquide est de lʼeau “ und dem englischen Satz „This liquid is water“ dieselben Folgerungen ziehen wie aus dem deutschen Satz „Diese Flüssigkeit ist Wasser “ – ob wir sie nun trinken oder die Blumen damit gießen.

Mag der Indigene des ewigen Eises und Schnees mit seinem fein nuancierten und differenzierten glazialen Vokabular für diese und jene Sorten Eis und Schnee uns lexikalisch in den Schatten stellen, wir können die Sachverhalte, auf die er sich bezieht, schlicht mit dem bescheidenen Begriffsduo Eis und Schnee wiedergeben, ohne das, was er meint, grundsätzlich zu verfehlen.

Freilich, die dumme philosophische Idee mutiert zu einer regelrechten Eselei, wenn sie sich mit Versatzstücken darwinistisch-neurophilosophischer Pseudo-Theorien garniert. So müssen wir Sätze vernehmen wie: „Die Evolution hat uns nur mit den Sinnesorganen ausgestattet, die für unser Überleben nützlich sind; deshalb nehmen wir die Dinge in der Weise wahr, daß wir hienieden über die Runden kommen, nicht aber so, wie sie in Wahrheit sind.“ Oder: „Was wir unser Selbst nennen, ist nur ein biologisch zweckdienliches neurologisch generiertes Selbst-Modell, dem in Wirklichkeit keine Entität entspricht.“

Nun, wir betrachten und hören, was nicht den geringsten biologischen Überlebensvorteil verspricht, weder im direkten noch abgeleiteten Sinn, Millionen Lichtjahre entfernte Galaxien, Bilder von Raffael, Tizian und van Gogh, Lerchen und Nachtigallen, die Musik von Bach, Mozart und Bruckner. Wir sagen, wenn unser Freund hinter der Pforte, an die wir geklopft haben, „Wer da?“ ruft, ohne Zögern und pseudophilosophische Bedenken „Ich“, denn wir wissen nicht nur, daß er uns an unserer Stimme erkennt, sondern auch, daß wir ihm nicht als Schein-Wesen oder biologisch generiertes Phantom, sondern als leibhaftige Person begegnen.

Wir verwandeln die Qualitäten unserer sinnlichen Wahrnehmung wie „heiß“, „feucht“ und „rötlich“ in Prädikate eines deskriptiven Satzes, von dem wir eine Hypothese ableiten, die wir auf ihre Wahrheit und Falschheit überprüfen können. Von dem Befund, daß sich die Stirn unseres Freundes heiß und feucht anfühlt und seine Augen gerötet sind, schließen wir auf die Vermutung, daß er Fieber hat, und diese können wir unter Zuhilfenahme eines Thermometers überprüfen.

Die Behauptung, aufgrund der conditio humana und unserer kontingenten biologischen Ausstattung seien unsere Urteile wie in einem konkav oder konvex gekrümmten Spiegel prinzipiell verzerrt, könnten wir aufgrund eben dieser prinzipiellen Limitierung unseres Erkenntnisvermögens nicht einmal aufstellen, geschweige denn belegen.

Aber wir sind durchaus in der Lage, durch kritische Prüfverfahren Beschränkungen und Verzerrungen unserer Wahrnehmung und unseres Erkennens ans Licht zu fördern. So korrigieren wir die scheinbar gebrochene Linie des ins Wasser getauchten Stabs, so die scheinbare Entfernung des Monds von der Erde durch die exakte Messung anhand von reflektierten Laserstrahlen.

Willst du mich sogleich verlassen?
Warst im Augenblick so nah!
Dich umfinstern Wolkenmassen,
Und nun bist du gar nicht da.

Doch du fühlst, wie ich betrübt bin,
Blickt dein Rand herauf als Stern!
Zeugest mir, daß ich geliebt bin,
Sei das Liebchen noch so fern.

So hinan denn! hell und heller,
Reiner Bahn, in voller Pracht!
Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller,
Überselig ist die Nacht.

Wie fern oder nah aber ist jener Mond, von dem Goethes Gedicht „An den aufgehenden Vollmonde“ von 1828 spricht? Wir verfügen über kein faktisches oder physisches Maß, um die gefühlte Ferne und Nähe der Geliebten zu vermessen. Sie kann neben dir auf dem Bett liegen und Lichtjahre entfernt sein; sie kann durch den Abgrund des Grabes von dir entfernt sein, und im Wehen der sommerlichen Abendluft fühlst du ihren Hauch.

 

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