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Kleine philosophische Lektionen IV

08.09.2014

Intentionale Zustände: Glauben (2)

Wir sind uns nie vollständig bewusst, über welche und wie viele Überzeugungen wir tatsächlich disponieren. Erst wenn dich einer fragt: „Glaubst du, dass die Welt vor deiner Geburt bestand?“, wirst du der Tatsache inne, dass du dieser Meinung beipflichtest und schon immer zugeneigt hast, wenn sie dir zuvor auch nie in den Sinn kam. Aber wir können diese Annahme jederzeit aus anderen Annahmen ableiten, die dir schon einmal in den Sinn gekommen sind:

„Ich glaube, die Welt hat existiert, bevor meine Schwester geboren worden ist.“
„Meine Schwester ist älter als ich.“
Also gilt:
„Ich glaube, die Welt hat existiert, bevor ich geboren worden bin.“

Wir nennen diese trickreiche Art, uns Annahmen bewusst zu machen, die uns zuvor noch nicht in den Sinn gekommen sind, logische Ableitung oder Inferenz. Logische Ableitungen sind darüber hinaus die raffinierteste Technik, um die Gültigkeit von Annahmen zu überprüfen oder neue und wahre Annahmen aus bereits geltenden oder gesicherten Annahmen zu folgern.

Hier zeigt sich, dass Glauben ein Dispositionsbegriff ist, der sich auf deine Bereitschaft und Fähigkeit bezieht, auf die Frage nach der Wahrheit einer Behauptung mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworten: „Glaubst du, dass der Mond der einzige Erdtrabant ist?“ oder „Glaubst du, dass uns die Marsbewohner belauschen?“

Unsere Disposition, dies und das zu glauben oder dies eher anzunehmen als jenes oder ziemlich sicher davon auszugehen, dass dein Freund heute kommt, wenn er es versprochen hat, aber eher zu bezweifeln, dass das Medikament aus der Internetapotheke auch sicher hilft, ist kein theoretischer Luxus, sondern Bauelement unseres praktischen Tuns und Lassens.

Wir müssen lernen, nicht wie Kinder alles zu glauben, was man uns sagt und einredet. Wir lernen unter den Gründen, etwas zu glauben, nach dem Grad und Maß ihres Gewichts zu unterscheiden. Was wir mit eigenen Augen gesehen haben, bestätigt unsere Meinung eher als das, von dem ein anderer sagt, er habe es mit eigenen Augen gesehen, zumal wenn er uns nicht nahesteht oder gar, wenn er uns feindlich gesonnen ist.

Natürlich können wir uns irren, wenn wir etwas zu sehen geglaubt haben, und ebenso derjenige, dem wir aufgrund seines Ansehens und seiner bewährten Freundschaft unbedingtes Vertrauen zu schenken geneigt sind. Wir können unabsichtlich getäuscht werden, wenn einer sich in der Angabe des Weges irrt, den wir unverzagt beschreiten. Wir können böswillig hinters Licht geführt werden, wenn einer uns zur Schadenfreude in die Büsche schickt.

Indes wäre es unvernünftig, deshalb all unsere Annahmen und Überzeugungen einem Generalverdacht zu unterziehen, weil es nicht ausbleibt, dass wir uns dann und wann täuschen und irren oder getäuscht werden und sicher schon getäuscht worden sind. Der generalisierte Zweifel ist schon deshalb kein Vademecum für unsere epistemische Gesundheit, weil wir auf dem schwanken Grund des grandiosen „dubito, ergo sum“ uns nicht lange aufrechthalten können.

Leichtgläubigkeit ist ebenso verderblich wie Zweifelsucht und obsessives Misstrauen. Wir haben ja gewiss in den Falten des Herzens versteckt, was Marcel Proust kunstvoll von der Zweifelsucht und dem Misstrauen des eifersüchtigen Liebhabers bis zur Schamlosigkeit und Beschämung enthüllt hat: Hat die Geliebte die bange Frage um ihr Ausbleiben mit den heißesten Küssen weggewischt, blüht sie in dem allzu üppigen Rot ihrer Wangen und Lippen wieder auf, die sich der Eifersüchtige nicht anders als erregt durch die Erinnerung an kürzliche Begegnungen erotischer Ausschweifung erklären zu können glaubt.

Wenn wir die Lebensform des anderen durch systematischen Zweifel bis auf die innerste Faser zu entblößen vermeinen, vergiften wir nicht nur den Humus, auf dem wir im satten Grün einverträglicher Kommunikation uns betten können, sondern zerrütten auch unsere eigene Existenz: Denn wer warst du, dass du ihr geglaubt hast und ihr bezauberndes Lächeln mit deinen zärtlichen Regungen beantwortet hast, wenn du jetzt nicht nur an ihrer Treue, sondern auch an der Berechtigung und Echtheit deiner Gefühle zweifelst?

Solche Anfälle des großen Weltzweifels zerstieben wie Träume, und wir gehen wieder erfrischten Sinnes den Weg unseres Tags. Sollte sich im fernen Dunst die Aussicht verunklaren, tun wir nicht gut daran, uns an die köstlich genauen Gestalten der nahen Gegenwart zu halten?

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