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Magisches Denken

22.01.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Beim Kuckuck-Spiel schlägt das Kind die Hände vors Gesicht und wähnt, es sei nicht da.

Die primitive Vorstufe zur Negation sehen wir im volitionalen „Weg!“, „Pfui“, „Nicht“ – wobei „nicht“ hier nicht konstatierend gebraucht wird, sondern etwa in dem Sinne: „Das bitte nicht“ oder „Nicht auch das noch!“

Der Ball ist unter den Schrank gerollt, das Kind ruft erstaunt oder enttäuscht: „Weg!“ Es ist nicht ganz klar, ob es damit die Feststellung trifft oder impliziert, daß der geliebte Gegenstand nicht mehr da ist, oder ob es meint, es werde von ihm gefoppt.

Wenn wir uns in eine fiktive Lebensform versetzen, bei der alle Kognitionen vom Ausdruck des Wollens und Begehrens, also durch reine Volitionen, überlagert wären, käme die Feststellung, daß ein Gegenstand, der gewöhnlich in Reichweite war, plötzlich verschwunden ist, der Verblüffung oder dem Erschrecken darüber gleich, daß er uns, einem lebenden Wesen ähnlich, genasführt, enttäuscht, verlassen hat. – Das wäre vielleicht keine schlechte Definition magischen Denkens.

Der Freund ist zum Ort und zur ausbedungenen Zeit der Verabredung nicht erschienen. Wir können vernünftigerweise annehmen, daß er aus zwingenden äußeren Gründen gehindert war zu erscheinen; wir können uns aber auch, trotz besseren Wissens von seiner Treue und Verläßlichkeit, finsteren Ahnungen hingeben, der Befürchtung, daß er gar nicht kommen wollte und mit seinem Ausbleiben seinen Unwillen oder seine Mißachtung zum Ausdruck bringt.

Wir können die Abwesenheit des anderen gleichsam mit beruhigenden oder verstörenden Gedanken füllen, zwischen Beschwichtigungen und Selbstzweifeln schwanken.

Zu glauben, daß wir selber weniger, leerer, ohnmächtiger werden, wenn wir einen wertvollen Gegenstand verlieren oder sich ein geliebter Mensch von uns abwendet oder stirbt, scheint ebenfalls ein charakteristisches Merkmal magischen Denkens zu sein.

Magisches Denken ist nicht, wie Rationalisten, Aufklärer, Gläubige einer höheren Menschheitsmoral und Adepten der Frankfurter Schule wähnen, eine Form des Denkens und eine durch sie geprägte Weise sozialen Umganges, deren Überreste vielleicht noch bei den nackten Indigenen auf Papua-Neuguinea oder in den Urwäldern Amazoniens bestaunt werden können, das im übrigen aber aus der westlich geprägten zivilisierten Welt dank allgemeiner Volksbildung und dem Siegeszug der Technik und unter der Strahlkraft des wissenschaftlichen Weltbilds verschwunden ist; magisches Denken ist vielmehr in allen häuslichen und institutionellen Bereichen lebendig, in denen wie in Urzeiten die Charismen der Macht und Beeinflussung, die Suggestionen und Insinuationen des intimen Geplauders und der öffentlichen Rede sowie der Zauber der Poesie und Musik ihre archetypischen Rollen spielen.

Die sanften und lilienhellen, die herben und achatschwarzen Harmonien Mozarts, die schwermutblauen Veilchen und efeustillen Dämmerungen Schuberts, die ozeanisch brausenden Klänge Bruckners, sie haben die magische Wirkung von Inhalationen exotischen Räucherwerks, von Injektionen indianischer Gifte.

Magisches Denken bemächtigt sich in den Formen der Neurose und Psychose auch des klarsten, hellsichtigsten Kopfes, wie des großen Logikers Gödel, der Hungers starb, weil er die von seiner Frau zubereiteten Speisen als vergiftet von sich wies.

Die magische Wirkung des tränenglänzenden Blicks der untreuen Liebe kann durch noch so stichhaltige Argumente nicht widerlegt, durch skeptische Erwägungen nicht gemindert werden.

Faust, der deutsche Intellektuelle par excellence, ergibt sich, um der Dürftigkeit, der Starre und dem Moder seines Empfindens zu entrinnen, der schwarzen Magie; doch wenn er in quälenden Leidenschaften entbrannt, vom Lidschlag des fernsten Horizontes berückt, auf dämonischen Flügeln die Weltteile und Zeitalter durchrast hat, sehnt er sich nach der Stille des meerblauen Augenblicks, die ihm der seraphische Zauber der wolkenlosen Höhe zu gewähren oder wenigstens zu versprechen scheint.

Der kleine, mickrige, rachsüchtige Mephistopheles, der auf dem Balkon des Reichstages vor dem Flammenmeer der aufgewühlten Masse sein hypnotisches Krächzen anstimmte.

Magische, zauberische Substanzen und Stoffe, die mit ihrem Funkeln und Gleißen, ihrem Knistern, Flüstern und Duften sich der nach Glanz und Entrückung dürstenden Seele bemächtigen, Opal und Smaragd, Bernstein und Rubin, Samt und Brokat, Quellen, Flammen und Blüten.

Magie des Sexus, die beliebig welches Organ und Segment des begehrten und gefürchteten Körpers, Haar und Auge, Mund und Brust, Nabel und Geschlechtsteil, Hände und Füße mit einer imaginären Energie aufzuladen vermag, die den Besessenen zum Voyeur und Fetischisten, zum Verfolger und Selbstquäler, zum Mörder und Selbstmörder verurteilt.

Worte der Dichtung, Phiolen des Verses voll magischer Essenzen, die ihren betörenden Duft, ihr bezauberndes Melos über dem Empfängnisbereiten ausschütten.

Der epische Stoff des Bluts und was ihn zum Wallen oder Stocken bringt, zum Erstarren oder Brausen, wir finden ihn in der Gothic Novel, in der Gespenstergeschichte und im Kriminalroman.

Die Todesdrohung und der Wunsch nach Unsterblichkeit sind urtümliche Themen des magischen Denkens.

Das Versprechen des lustigen Brunnens im Paradies eines Hieronymus Bosch, der alle verjüngt, die in ihn eintauchen, wir finden seine Magie in der Werbung für die Wundersalbe, die Falten und Runzeln wegzaubert, in der Anpreisung dieses Vitaminpräparates und jenes Heilkräuterextraktes, die verlorene Vitalität und Lebensfreude zurückgeben.

Ominöse Silben, rhythmisch und monoton an der Perlenschnur des Gebets heruntergeleiert, rituelle Gänge, deren erhabene Schritte um einen kultischen Ort, einen kunstvoll behauenen Stein gemessen und streng abgezirkelt sind, nimmer endende Litaneien, die vom Balsam der Ergebung betäubte Zungen in die Nacht der Verlorenheit lallen, sie sollen den finsteren Gast, der mit knöchernem Finger an die Pforte pocht, aufhalten, besänftigen, in den Schlaf wiegen.

Der Philosoph und Intellektuelle mit dem feinen Gespür für die Erregungen und hysterischen Neigungen der Halbgebildeten des Kulturbetriebs okuliert auf die alten Stämme des Unbewußten die frischen Knospen magischer Begriffe, und im Wachtraum vom ganz anderen Leben lallen und psalmodieren die Nervösen und Aufgeregten sie nach: unendliches Begehren, Differenz, Alterität, Nichtidentität.

Dem schlichten Gemüt genügt der Stern an der Mütze des strammen Anarchisten, der Orden am Revers des feisten Diplomaten, das Funkeln der Anstecknadel des berühmten Künstlers, die üppige Schleppe der Diva, und jenes frei vagabundierende Charisma mag sich auf ihn übertragen, das ihn die abgebrannte Zigarette auf dem Tresen der schäbigen Hotelbar vergessen macht.

Die magische Strahlkraft glänzender Katalogbilder, die den Tagtraum des kleinen Mannes auf dem ächzenden Rattansessel seiner Einsamkeit mit wogenden Palmen, der schäumenden Brandung des Ozeans und der ihr triefend entsteigenden botoxlippigen Aphrodite dekorieren.

Den Strahlenkranz der Mandorla um den Heiligen, die Madonna oder den Buddha, ihn hat die lauterste Flamme des menschlichen Herzens entzündet.

An den Dingen und Orten und Zeichen, die er rein hält von sinisteren Eingebungen und schmutzigen Gedanken, zeigt sich die Größe des Menschen.

 

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