Philosophieren XV
„Du siehst ja, mein Lieber, ich muss erst den Kleinen versorgen, dann kümmere ich mich um dich!“ – „Warte noch ein Weilchen, die Spaghetti sind bald fertig!“ – „Ab ins Bad und Hände waschen, was soll unser Gast denn denken!“ – „Der Reihe nach, bitte, jeder kriegt etwas vom Kuchen!“ – „Jetzt sitzen wir ganz still und falten die Hände! Großmutter ist jetzt im Himmel und schaut auf uns herab!“
Die Institution des Eigentums, haben wir gesehen, ist eine machtvolle Quelle des Rechts. Die Institution der Familie, sehen wir nun, ist die Pflanzstätte und die Volks- oder Elementarschule des Anstands. Anständig verhältst du dich, wenn du ohne zu jammern und zu nörgeln wartest, bis die Mutter deinen kleinen Bruder gewickelt hat und sich dann dir zuwendet. Auch auf das Essen ohne zu plärren oder zu mäkeln geduldig warten übt den Anstand. Dem Gast Achtung zollen, indem du ihm dein sauberes Pfötchen hinstreckst und dich manierlich bei Tisch beträgst, erhöht letztlich die Achtung vor dir selbst.
Du bist ja schon groß und kannst dich in Geduld üben, um dem Kleineren und Schwächeren den Vortritt zu lassen. So lernst du die Erfüllung eines noch so heißen Wunsches für eine kleinere oder größere Zeitspanne aufschieben. Den Aufschub erfährst und trainierst du zunächst, wenn es um die Bevorzugung des anderen geht: Der Sessel gebührt Großvater als Ehrenplatz bei seinem Besuch, da wirst du dich so lange nicht breitmachen und rekeln. Heute bekommst du Mamas altes Handy, später kannst du dir von deinem eigenen Einkommen ein tolles Smartphone leisten – jedes Familienmitglied mit dem neuesten Schnickschnack, den schicksten Markenklamotten, den angesagten Computerspielen einzudecken, gibt die Haushaltskasse nicht her.
Weil du fleißig im Garten, auf dem Feld, in der Werkstatt mitgeholfen hast, weil du Großmutter die Einkaufstasche getragen und Mutter beim Geschirrspülen geholfen hast, bekommst du ein Eis, eine Tafel Schokolade, darfst du heute länger aufbleiben. Weil du deiner Schwester die Murmeln weggenommen, deinen Bruder in der Schule verpetzt, deine Hausaufgaben gar nicht oder schlampig erledigt hast, darfst du heute kein Eis essen, das Fußballspiel nicht angucken, nicht ins Freibad gehen. Die Erfüllung der Anstandspflicht ist zu loben, die Verfehlung zu tadeln und abzustrafen – und dies auf angemessene, einfühlsame Weise, sodass der Größenordnung der Pflichterfüllung die Größe der Belohnung, der Größenordnung der Verfehlung die Härte der Strafe entspricht.
Werden diese Proportionen nicht gewahrt, züchten wir uns den verwöhnten, lebensuntüchtigen Querulanten und Kriminellen oder den verängstigten, feindseligen Unglücksraben heran. Zu viel Lob, zu üppige Belohnungen für eine läppische Bemühung, die sich eigentlich von selbst versteht, wie dass der Pimpf aufzustehen hat, wenn ein Älterer oder Gebrechlicher einen Sitzplatz benötigt, oder gar den Hosenscheißer mit Geschenken zu überschütten, der bloß faul in der Ecke liegt oder mit schmuddeligen Kindern aus dem Hof wieder Schabernack treibt: Damit füttern wir Maßlosigkeit der Ansprüche, Leistungsscheu und kriminelle Gier nach fremdem Gut sowie Schamlosigkeit im Betragen. Zu viel Tadel, zu harte Strafen für eine geringfügige Verfehlung oder gar ein unbeabsichtigtes Versehen, wie dass der strebsame Bursche eine schlechte Note nach Hause bringt, weil er wegen Krankheit die schulischen Übungen für die Klassenarbeit versäumt hat, oder aus lauter Spaß an der Freude im Schwimmbad in den Schwimmerbereich sprang und von dir herausgezogen werden musste: Damit verängstigen wir das Kind, hemmen seine fröhlich sich ausgestaltenden Neigungen, verdüstern seine Lebensfreude. Am Ende schleicht ein misstrauischer, neidischer und mürrischer Einzelgänger durchs Leben, der seine Anlagen brachliegen ließ, seine Wünsche und Lebensträume verriet, ein unglücklicher Mensch.
Im Kreise der Familie überformst du Gefühle der Unlust, Trauer und Niedergeschlagenheit zur komplexen sozialen Reaktion der Scham, Gefühle der Lust, Freude und Heiterkeit zur komplexen sozialen Reaktion des Stolzes. Wirst du als Kind rechtens einer Verfehlung, eines Verstoßes gegen die guten Sitten, einer lästerlichen Geste geziehen, ertappt dich die Mutter beim verbotenen Naschen, kommt dir der Vater bei einer hundsgemeinen Lüge auf die Schliche, schimpft dich die große Schwester, weil du hinter ihrem Rücken der Tante die Zunge rausgestreckt hast, dann läufst du rot an, stotterst irgendeine Entschuldigung vor dich hin und beugst verlegen den Kopf: Du bist beschämt. Wirst du für eine gute Tat gelobt, heimst du für eine besondere Leistung vor versammelter Mannschaft Applaus ein, wirst du für eine edle Handlung ausgezeichnet, lobt dich der Großvater dafür, dass du ihm die Leiter gehalten hast, der Vater für das glänzende Zeugnis, dankt dir die Mutter für die Pflege der Großmutter, strahlst du und reckst dich empor: Du bist stolz.
Scham und Stolz hervorzurufen und zu empfinden dient dem Haushalt der familiären Kommunikation: Scham dämmt antisoziales Verhalten ein und Stolz kittet und festigt das Wir-Gefühl. Denn weil Scham mit dem Gefühl der Unlust und Trauer verknüpft ist, wird deine Tochter alles daransetzen, Handlungen zu vermeiden, die ihr Tadel zuziehen und für die sie sich schämen muss. Ebenso wird dein Sohn, weil Stolz mit dem Gefühl der Lust und Freude verknüpft ist, alle Gelegenheiten nutzen, bei denen er sich mit guten, wertvollen und edlen Handlungen hervortun und für sie Lob und Belobigung einheimsen kann. Indes solltest du dein Kind nicht wegen eines geringfügigen Vergehens oder gar eines unbeabsichtigten Versehens beschämen – sonst gerät es dir bald unter der Hand zu einem eingeschüchterten, lebensuntüchtigen Trauerkloß. Und ebenso gilt für den Stolz: Übertreibe es nicht mit den Auszeichnungen, verleihe den Lorbeer nur sparsam, und juble nicht jedes Mal, wenn der Bursche mal den Müll rausgetragen hat, sonst gerät er dir zu einem asozialen Besserwisser, Besserkönner und Alleswoller.
Die Eltern tragen Verantwortung für das Wohlergehen und die Erziehung ihrer Kinder, die Kinder sind den Eltern und den Eltern der Eltern zu Dank, Gehorsam und Ehrerbietung verpflichtet. Die Familie ist der Ort, an dem die wesentlichen Regularien des Handelns, für jemanden und für etwas verantwortlich zu handeln beziehungsweise zu etwas verpflichtet zu sein und pflichtgemäß zu handeln, eingeübt und ausgeübt werden. Die Verantwortung der Eltern wird ihnen von den Schultern genommen, wenn ihr Vergehen, ihr Versagen oder ihr geistig-moralisches Unvermögen sie die Erziehungsberechtigung kosten. Die Kinder bleiben den Eltern ihr Leben lang verpflichtet, auch wenn sie sich ihnen teilweise oder vollständig entfremden.
Die Familie ist der Ort, an dem sich die wesentliche Inhalte des menschlichen Lebens vollziehen: heiraten und zeugen, gebären und nähren, spielen und lernen, wachsen und reifen, arbeiten und der Muße pflegen, plaudern und beten, Abschied nehmen und sterben. Um diese Lebensinhalte oder Sinnhorizonte unseres Hierseins keimen und erwachsen, wie Moos und Flechten um die Felsenquelle, die Moralia oder Ethica, die Gepflogenheiten und Bräuche, mit denen wir sie pflegen und hegen: Wir begehen Hochzeit und Geburt sowie die folgenden Geburtstage mit einer Feier. Wir sitzen gemütlich bei Kerzenschein, am Kamin, in der guten Stube, und Vater liest vor, Großvater erzählt eine seiner Schnurren, wir führen das frisch eingeübte Volkslied, den Popsong, das Streichquartett auf. Zum ersten Schultag erhältst du eine bunte Tüte mit Leckereien. Zur ersten Kommunion erhältst du ein Gnadenbild und einen Sinnspruch, zur Firmung einen Rosenkranz. Ihr feiert bald die goldene Hochzeit. Du bastelst für deinen Enkel zum Geburtstag, zum Namenstag, zur Einschulung einen Drachen. Du schneiderst für deine Enkelin zu ihrer Hochzeit, dem Faschingsball, ihrem ersten Konzertauftritt als Klaviersolistin ein hübsches Kleid. Morgen zeigst du dem Enkelsohn im Garten, wie man die Hecken, die Büsche, die Rosen beschneidet. Morgen zeigst du der Enkeltochter, wie man an der Töpferscheibe den Ton zur Vase formt. Die Kinder waren tapfer und mit ganzem Herzen bei der Pflege der Großmutter. In drei Tagen nehmen wir in einem Trauergottesdienst Abschied von der Großmutter und gestalten die Beerdigung still im Familienkreis. Wir haben im Gasthof das Hinterzimmer reserviert, um im Anschluss an die Beisetzung ihr Leben mit Anekdoten und Histörchen und sogar lustigen Geschichten Revue passieren zu lassen. Heute Abend vor dem Abendessen am großen Esstisch, wo ihr Platz leer bleibt, falten wir gemeinsam mit den Kleinen die Hände und gedenken ihrer im stillen Gebet.
Die Institution der Familie bewahrt und tradiert die Zeichen des Lebens: Urkunden, Symbole, Wappen. Etliche prägt und schöpft sie selbst, andere sammelt sie ein von den Gruppen, Institutionen und Organisationen wie Ämtern, Schulen oder Vereinen, die ihre Mitglieder durchlaufen, und präsentiert sie gerne den staunenden Gästen. Die Geburtsurkunde des neuen Weltenbürgers fügst du ins Stammbuch. Die Zeugnisse der Kinder hebst du auf wie ihre Bilder und Kritzeleien. Du nähst und heftest das Sportabzeichen, das Pfadfinderwappen, das Schul- oder Hochschullogo ans Revers, auf das T-Shirt, an den Beutel. Die Geburts-, Hochzeits- und Todesanzeige schneidest du aus und legst sie ins Album. Den Totenschein heftest du zu den letzten Fotos.
Du weißt um die Bedeutung der großen, führenden, geschichtsmächtigen Adels- und Kaufmannsfamilien, die über Siegel und Wappen mit den Insignien, allegorischen Bildnissen und Zeichen verfügten, die ihre Hausmacht, ihren Anspruch auf Herrschaft und politischen Einfluss, ihr Mäzenatentum symbolisch überhöht zum Ausdruck brachten. Diese zur Elite des Landes gehörenden Familien waren untereinander in der Eintracht des Handels und in der Zwietracht materieller, finanzieller und kultureller Konkurrenz verbunden, die sich bis zur Fehde und zu blutigen Händeln steigern konnte. Auf den Burgen und Schlössern wurde dann nicht mehr gefeiert, von den Türmen und Zinnen wurde geschossen. Die Konkurrenz um den größten Reichtum, die schönsten Frauen, die edelsten Pferde und die kostbarsten, sublimsten Kunstwerke, aber auch die Kräfte, Geld, Ressourcen verzehrenden Kämpfe und kriegerischen Auseinandersetzungen führten zum Untergang manch einer Sippe, aber auch zu Aufstieg und Sieg und zur Alleinherrschaft der mächtigsten, ehrgeizigsten, intrigantesten Familie: der Familie des Königs.
So wird die Aristokratie, die Herrschaft der großen Familien, abgelöst und überformt von der Monarchie, der Herrschaft der königlichen Familie, im neuen Zentrum der Macht, dem Hof. Hier entwickelt sich ein neues Ethos, das Ethos des Staates, das die zentrale Machtausübung, die Souveränität, mit den höfisch-höflichen Sitten der Diplomatie verbindet.