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Philosophische Konzepte: Aspekt III

27.12.2017

Der philosophische Aspekt verweist uns auf eine Grenze des Sichtbaren und des Sagbaren. Er ist eine Art, die Welt zu sehen, doch die Art, wie wir die Welt sehen, können wir nicht wiederum sehen, und die Form, in der wir über das Leben reden, können wir nicht wiederum sprachlich zum Ausdruck bringen.

Wir sagen, daß wir uns ein Bild von der Situation machen. Doch die Ähnlichkeit des Bilds mit dem, was es darstellt, können wir mit dem hier gemeinten Bild nicht begründen. Das Bild, unter dem wir das Ganze des Lebens und des menschlichen Daseins sehen, kann nicht mit dem Ganzen des Lebens und dem menschlichen Dasein verglichen werden.

Bei einem Portraitbild können wir die Gesichtszüge auf dem Bild mit dem Gesicht des Abgebildeten vergleichen, falls er unter den Lebenden wandelt. Aber bei dem Bild, das wir uns vom Leben machen, gibt uns das Gesicht auf dem Bild gleichsam das Original.

Wir können allerdings verschiedene Bilder oder Aspekte miteinander vergleichen. So sehen wir, daß das Leben im Licht des mythischen Aspekts in vielfacher Hinsicht verschieden ist von dem Bild, das uns das menschliche Leben zeigt, wenn wir unter einem philosophischen Aspekt „Mensch“ als Begriff definieren, dessen spezifische Eigenschaft als Logos oder Vernunft bestimmt ist.

Ödipus löst das Rätsel der Sphinx, was dies für ein Lebewesen sei, das am Morgen auf allen Vieren kriecht, am Mittag auf zwei Beinen aufrecht steht und am Abend auf drei Beinen geht, indem er das Losungswort „Mensch“ ausspricht. Wir können nicht erkennen, daß der Held der sophokleischen Tragödie durch die Entdeckung rein menschlicher Kräfte hinter dem Geheimnis der Sphinx oder der alten mythischen Götterwelt das Licht der Aufklärung in das unbegriffene oder unbegriffliche Dunkel der Vorzeit gebracht habe. Denn der Fortgang des sophokleischen Dramas zeigt seine unbegriffene und unbegreifliche Verstrickung in das Schicksal, die er nicht damit endgültig entknotet und auflöst, daß er sich selbst als Detektiv und Richter des eigenen Prozesses als den wahren Täter und eigentlich Handelnden entdeckt.

Wenn uns das Rätsel der Sphinx ein mythisches Bild des menschlichen Lebens gibt, erkennen wir wohl, wie sich die Ohnmacht des Logos am Morgen animalisch gebärdet und wie sich die Macht des Logos am Mittag des azurblauen, schattenlosen Zenits im aufrechten Gang zur Geltung bringt. Indes sehen wir jetzt bei Einbruch der Dämmerung umso deutlicher jenes Wesen, das seinen Weg nur unter Zuhilfenahme einer Krücke weiter- und zu Ende gehen kann.

Im Schicksal des Ödipus ist diese Krücke vielleicht die Blindheit als Strafe seiner Vermessenheit oder Hybris, als reines Vernunftwesen in der Mittagshöhe seiner souveränen Selbstvergewisserung scheinbar ungebunden zwischen Erde und Himmel gestanden und frohlockt zu haben, sehende Blindheit, die den Schmerzensmann in der Folge an der Hand seiner Tochter Antigone zum heiligen Hügel und Altar von Kolonos gelangen lassen sollte.

Im Vergleich mit dem tragischen Bild und Aspekt des Daseins, den uns Sophokles nicht durch die Augen, sondern die Blindheit des Ödipus (oder wie Hölderlin wahrsagt, das dritte Auge des Geblendeten) dartut, bietet das rationale oder sokratische Bild des Daseins dort ein tiefenloses und abstraktes Grau-in-Grau, wo jenes eine Plastizität farbiger Schatten oder ein Chiaroscuro hat.

Wir können auch sagen, daß die Krücke, anhand der wir ödipal Blinde in den Abend unseres Geschicks wandeln, die Sprache ist, die uns nicht die souveräne Aussicht und Einsicht in den Begriff des menschlichen Daseins auftut und gewährt, sondern zugleich das Dickicht oder Labyrinth verzweigter Wege eröffnet und den Faden reicht, an dem wir uns von Abzweigung zu Abzweigung, von Satz zu Satz durch dieses unwegsame Gelände schlängeln.

Doch führt uns dieser Faden oder die Grammatik der Sprachspiele nicht zu einem Ausgang, hinter dem wir die Sonne Platons erblicken. Wir verbleiben im Zwielicht oder Chiaroscuro des Dickichts der Sprache.

Wir lassen uns nicht von dem trügerischen Bild der sokratischen Aufklärung verführen oder blenden, als könnten wir die Wege der Sprache nach einem einheitlichen Maßstab vermessen und mittels einer topographischen Methode der Projektion wie Wege, Orte und Landmarken einer Wanderkarte aufzeichnen, um sie uns als objektives Gesamtbild vor Augen zu führen und den Standort eindeutig zu identifizieren, an dem wir uns befinden.

Wir treffen im Zwielicht und Chiaoscuro des Walds der Sprache, in dem wir uns verirrten, nicht auf einen Seher Vergil, der uns den Standort, an dem wir uns aufhalten, als Aporie eines Irrwegs aufweist und uns zum Ausweg und Rückweg in die Mittagshöhe des Lichts geleitet, nicht auf einen Engel der göttlichen Liebe Beatrice, die uns das Gesamtbild aller möglichen Wege in der großen kosmischen Ordnung unterirdischer, irdischer und himmlischer Sphären zeigt und deutet, Sphären, die harmonisch aus dem Nullpunkt einer göttlichen Vernunft schwingen.

Unsere sprachlich überwachsenen Wege münden nicht in den geradewegs aufsteigenden Königsweg, sondern bleiben Stückwerk, und wir sehen uns gleichsam wie in einem zerbrochenen Spiegel, ohne die Hoffnung, daß er am Ausgang von göttlicher Hand rein zusammengefügt werde. Doch auch wenn dies Wunder sich vollzöge, was könnten wir im reinen Spiegel der Erkenntnis am Abend unserer Tage erblicken? Wir erspähten nicht ein harmonisch vollkommenes menschliches Gesicht, sondern nichts als einen vagen Schimmer und blassen Dunst. Denn uns wurden unterwegs im Zwielicht des Walds der Sprache die physiognomischen Konturen des Kinds und des reifen Erwachsenen nach und nach verwischt und die erkenntlichen Gesichtszüge aufgerieben und vage. So geschieht uns, wie am Hügel von Kolonos dem Ödipus die Entrückung zu den Göttern des Hains, die Auflösung und das Verschwinden in der letzten uns zugänglichen oder gerade noch sichtbaren Lichtung der Sprache.

So verließen und vergaßen wir die maßvoll und besonnen gebahnten Wege der sokratischen Methode zur Anhöhe des Mittags der Vernunft, auf der uns der weite Ausblick auf den unter uns liegenden Wald und das Dickicht der menschlichen Existenz ad oculos demonstriert wurde. Und wir verließen und vergaßen auch diese Anhöhe und diesen Ausblick, denn in der Ferne gewahrten wir andere Höhen und Gipfel, wolkenverhangene, schneebedeckte, die zu erreichen oder gar zu ersteigen wir uns nicht vermessen konnten.

Blicken wir zurück, soweit es die Dämmerung des Abends zuläßt, sehen wir, daß sich unsere Spuren verloren haben wie Fußstapfen im Schnee eines ununterbrochenen Flockengestöbers oder wie Tritte im niedergebogenen Gras, das sich wieder aufgerichtet hat, als hätte es nie jemand gestreift.

Was wir verloren haben, ist der in der Mittagsonne leuchtende Kristall, hart und kunstvoll geschliffen, der Begriff des Menschen. So müssen wir unseren Weg ohne eindeutigen Begriff von uns selbst, ohne klares und einhelliges Selbstverständnis, zu Ende gehen.

Was wir stattdessen fanden, war ein nicht auflösbares Bündel, ein Sammelsurium und Florilegium von Geschichten, die uns von jenen erzählt wurden, die uns zufällig unterwegs begegneten oder die wir in den Herbergen und Raststätten am Weg trafen und die uns von anderen Orten und fernen Wegen sprachen, mit Worten einer uns kaum verständlichen Sprache, die wir nur bruchstückhaft in unser eigenes Idiom zu übersetzen vermochten.

Was wir fanden, waren seltsame Denkmale und Monumente am Rand unserer sprachlichen Wege, mit schwer entzifferbaren Inschriften, die über Ereignisse und Zustände Auskunft gaben, Zeugnisse von Wesen, die uns mit Begriffen vom Menschen und vom menschlichen Leben bekannt machten, die mit unseren Begriffen nur unvollständig übereinstimmten.

Und wir trafen in einem Hohlweg eine alte Frau, die uns nicht vorbeiließ, es sei denn, wir lösten ihr ein Rätsel. Und sie frug nach einem Lebewesen, das am Morgen unverständlich lallt, am Mittag klar und verständlich spricht und am Abend in einem fremdartigen Idiom singt. So mußten wir den Rückweg antreten in den Wald, aus dem wir gekommen waren, denn wir wußten, das alte Losungswort war verbraucht und hatte keine Gültigkeit mehr.

Der Begriff des Menschen löst sich auf und zerstreut sich in einer Mannigfaltigkeit von sprachlichen Wendungen und Praktiken, die von keiner alles durchwaltenden und überstrahlenden Idee vereinigt werden, sei es die Idee des Menschen als Geschöpf, das dunkler oder klarer die Spur des Schöpfers trägt, oder ihre säkulare Gestalt als homo humanus des Humanismus, sei es die Idee des schöpferischen und sich selbst setzenden Menschen des Idealismus und Existentialismus oder der humanitaristischen Ideologie und des zeitgeistigen Geredes von Menschenrecht und Demokratie.

 

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