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Proto-Ich und sprachliches Ich

07.07.2019

Die Struktur der vorbegrifflichen, vorsprachlichen und stummen Erfahrung zeigt sich in einer Empfindung wie der Empfindung, die ich habe, wenn meine Hand in Wasser taucht, oder der Wahrnehmung wie der Wahrnehmung, die ich beim Anblick des blauen wolkenlosen Himmels habe. Um diese basalen Empfindungen und Wahrnehmungen zu vergegenwärtigen, sind zumindest drei der Struktur der Erfahrung innewohnende Faktoren vorausgesetzt:

1. Meine Empfindung und meine Wahrnehmung sind in einen Horizont aktueller und virtueller Empfindungen und Wahrnehmungen eingebettet: Ich kann etwa die Feuchte des Wassers nur empfinden, wenn ich es zugleich als warm oder kalt, als fließend oder unbewegt empfinde und wenn ich die Erinnerung an die Empfindung meiner Hand im Gedächtnis habe, die ich hatte, bevor ich sie ins Wasser getaucht habe, also die Empfindung der trockenen Luft. Analoges gilt für die Wahrnehmung des blauen Himmels: Sie ist aktuell mitgeprägt durch die Wahrnehmung der Lichtstärke, der Helligkeit und der Farbintensität sowie umgeben von den virtuellen Wahrnehmungen beispielsweise der grünen Baumwipfel, die ich hatte, bevor ich meinen Blick in das Blau des Himmels hob.

2. Ich bin es, der die Erfahrung macht, und auch wenn dieser Selbstbezug nicht zu voller Helle des Wissens aufgestiegen sein mag, schwingt er doch unterschwellig und untergründig immer mit. Wir können von einer Instanz des Proto-Ich oder eines ich-schwachen Jemand-Seins sprechen.

3. Ich habe die Hand ins Wasser getaucht und halte sie jetzt unter Wasser, bald aber werde ich sie wieder aus dem Wasser ziehen. Ich habe eben das Grün der Bäume gesehen und betrachte jetzt das Blau des Himmels, doch bald werde ich meinen Blick wieder wenden. Mit einem Wort: Keine Erfahrung ohne räumliche Bezüge und zeitlichen Verlauf.

Natürlicherweise können wir das Objekt der Farbempfindung leicht in einem ikonischen Zeichen wiedergeben, wie Kinder es tun, wenn sie einen blauen Himmel malen. Die Wahrnehmung des gemalten Blaus unterscheidet sich nicht qualitativ, sondern nur graduell in Hinsicht der Intensität oder des Nuancenreichtums von der Wahrnehmung des wirklichen Himmels. Weil unsere Fähigkeit, ikonische Zeichen herzustellen, zumeist auf das Feld der Sichtbarkeit eingeschränkt ist, haben wir kein künstliches Medium, das ohne selbst mit Wasser angefüllt zu sein, uns die Empfindung des Feuchten vermittelten könnte. Dagegen können wir mittels Onomatopoesie beispielsweise gewisse tierische Laute ikonisch evozieren, wie mit den Wörtern „Gurren“, „Schnurren“, „Kreischen“, „Sirren“, „Bellen“ oder „Quaken“. Dasselbe gilt für gewisse musikalische Evokationen natürlicher Geräusche und Klänge wie das Rufen der Vögel oder das Krachen des Donners in Beethovens Pastorale oder der Alpensinfonie von Richard Strauss.

Daß wir nicht zögern, blau „blau“ zu nennen oder „blue“, „bleu“ und „blu“, muß seinen Grund in der Kontinuität und Perseveranz unserer Farbempfindungen und seine Ursache in der Konstanz der Wirkung derselben Lichtfrequenzen in unserer Retina und unserem visuellen Cortex haben.

Wenn jemand sich unter wolkenlosem Sommerhimmel nicht sicher ist, wie er seine Farbe benennen soll, können wir vermuten, daß er entweder farbenblind oder der Sprache nicht mächtig ist.

Die Tatsache, daß der Himmel blau ist, gilt uns nicht für ein Anzeichen für schönes Wetter, sondern er ist ein Teil dessen, was wir schönes Wetter nennen. Dagegen nehmen wir aufziehende Quellwolken für ein Anzeichen kommenden Regens oder schlechten Wetters, genauso wie den niedrigen Flug der Schwalben. Hier scheinen uns indexikalische Zeichen im Gegensatz zu ikonischen, die uns auf unsere Gegenwart fixieren, auf unmittelbar bevorstehende Ereignisse zu verweisen. Andererseits eröffnen uns Indizes wie Spuren im Sand und Schnee oder Taubenkot an der Fensterscheibe mehr oder weniger weite Horizonte des Gewesenen, beispielsweise auf die Zeit, als ein Fuchs oder Mensch hier entlangspazierte oder eine Taube im Vorbeiflug ihren unwillkommenen Gruß herabsandte.

Die Analyse der Empfindung von Nässe auf der Haut oder der akustischen Wahrnehmung eines Knallgeräusches führt uns in jene vorsprachliche und vorbegriffliche Dimension, in der wir des Empfundenen und Gehörten als reiner Phänomene innewerden. Zugleich eröffnet sie uns die ebenfalls vorsprachliche und vorbegriffliche Dimension des schwachen Selbst oder derjenigen Instanz, die wir zur Begriffssprache erwacht „Ich“ nennen.

Von einer Empfindung und einer Wahrnehmung können wir sinnvoll nur sprechen, wenn wir die ursprüngliche Position eines Jemand annehmen, der empfindet und wahrnimmt. Ein „Jemand“ ist gleichsam semantisch und epistemisch mehr als ein stummer Niemand, aber weniger als ein sprachbegabtes Ich.

Augenscheinlich ist der Säugling, der an der Mutterbrust saugt und die Wärme der Milch empfindet und die beruhigenden Laute der Mutter hört, jemand in diesem Sinne, ohne schon derjenige zu sein, der einmal Äußerungen mit dem Personalpronomen der ersten Person indexieren wird.

Das Hörfeld und das Gesichtsfeld sind zunächst vorsprachlich und vorbegrifflich in ihrer eigentümlichen Chronometrie und Topologie gegeben: Das Kind hört, wie sich die Schritte der Mutter entfernen, es sieht, wie der Vater auf es zukommt und sich über es beugt. Infolge der abgestuften Klangereignisse messen wir die ursprüngliche Zeit, mittels der Näherung und Entfernung der primären Objekte markieren wir den ursprünglichen Raum der Erfahrung.

Es ist wenig sinnvoll zu fragen ob der Jemand, dem vorsprachlich und vorbegrifflich eine Empfindung und Wahrnehmung widerfährt, derselbe ist, der sich einmal das Empfundene und Wahrgenommene zusprechen wird: Denn sich etwas zusprechen zu können, setzt eine andersartige Positionierung im semantischen Raum voraus, nämlich diejenige, in der das Ich als Sprecher einem Hörer gegenübertritt, dem es seinerseits etwas zusprechen oder absprechen kann.

Das Kleinkind unterscheidet mit den Ausrufen „Mama“ und „Papa“ eine primäre Polarität von räumlicher und zeitlicher Nähe und Ferne. Denn wenn es hungrig ist oder Angst hat, ruft es nach der abwesenden Mutter, mit dem Ausruf „Papa“ bestätigt es die Anwesenheit der Bezugsperson.

Das Kleinkind, das nach der abwesenden Mutter ruft, kann nur glauben, gehört zu werden, nicht aber glauben, aufgrund der Entfernung oder der Gleichgültigkeit der Mutter nicht gehört zu werden. Es kann demnach die Position des anderen nicht verstehen oder einnehmen, etwas, was es erst auf der Stufe des Ich in der Dyade Sprecher-Hörer vermag.

Die dyadische Symmetrie in der Verwendung der Personalpronomen zeigt sich im wechselseitigen Austausch der Positionen von Sprecher und Hörer, so, wenn ich dich frage, ob du auch das Geräusch gehört hast, das mir soeben verdächtig vorkam. Du könntest meinen Eindruck bestätigen oder infragestellen. Das Kleinkind kann die Mutter nicht fragen, warum sie nicht gleich gekommen ist, als es sie gerufen hat. Die Mutter hat für den Säugling ebensowenig die semantische Position des Du inne wie es selbst die Position des Ich.

Das vorsprachliche Jemand-Sein ist demnach zwar homolog zum sprachlichen Ich-Sein, aber nicht mit ihm identisch.

Niemand, Jemand, Ich – dies scheint eine semantisch aufsteigende Reihe der Verdichtung und Zentrierung zu sein, die wir sowohl systematisch und synchron als logisch-semantische Grenzbegriffe deuten als auch diachron als Verlaufs- und Entwicklungslinie zeichnen können. Insbesondere, wenn wir wahrnehmen, daß sich in gewissen geistigen Zerfallsprozessen der Verlauf auch umkehren und sich das voll ausgeprägte sprachliche Ich zum aphasisch verkümmerten Jemand zurückbilden oder als orientierungsloser Niemand verstummen kann.

Wir können die Prädominanz der indexikalischen und der ikonischen Zeichen der Stufe des vorbegrifflichen und vorsprachlichen Jemand oder Proto-Ich zuordnen, während wir die Stufe des souveränen Symbolgebrauchs nur dem sprachlichen Ich vorbehalten.

Jemand kann die Spur der Tritte im Schnee als Spuren eines anderen Jemand „lesen“, auch wenn er sie begrifflich keiner Spezies wie einem Fuchs oder einem Menschen zuordnen kann. Jemand kann das Geräusch von Tropfen auf dem Dach mit dem Phänomen des Regens verbinden oder das Wehen der Zweige vor dem geschlossenen Fenster mit dem Phänomen des Winds, auch wenn er die sprachliche Fähigkeit nicht erworben oder wieder verloren hat, die Phänomene in sinnvollen Sätzen zum Ausdruck zu bringen.

Jemand kann aufgrund eines Fotos von einem nahen Angehörigen sich das Leben der abgebildeten Person vergegenwärtigen, auch wenn er die Fähigkeit verloren hat, sich an ihren Namen zu erinnern. Er könnte etwa sagen: „Sie hat damals in unserer Nachbarschaft gewohnt“ oder „Sie ist mit mir zur Schule gegangen.“ – Er muß demnach auch in der Lage sein, den zusammengesetzten Satz zu bilden und zu verstehen: „Sie hat damals in unserer Nachbarschaft gewohnt und ist mit mir zur Schule gegangen.“ Sätze dieser Art zu bilden und zu verstehen setzt demnach die Fähigkeit voraus, die Identität in der Substitution des Personalpronomens „sie“ zu erkennen und anzuwenden.

Das Lesen oder Dechiffrieren von Anzeichen der Spuren im Schnee oder der sich im Wind biegenden Zweige scheint uns auf eine metonymische Dimension zu verweisen, bei der ein Teil aufgrund des kausalen Zusammenhangs an das Ganze denken läßt; während die Substitution des Personalpronomens auf eine metaphorische Dimension verweist, die nur das voll ausgeprägte sprachliche Ich handhaben kann, weil sie auf begrifflicher Synonymie und Identität, nicht auf Kausalität beruht.

Wenn jemand einen Hörer mittels einer nonverbalen Geste oder einer sprachlichen Äußerung auf ein Ereignis der Umgebung hinweist, hat er die semantisch-epistemische Position des sprachlichen Ich eingenommen. Diese ist demnach nichts weniger als eine kartesische res cogitans, sondern eine gleichsam öffentliche, externe und sichtbare Position. Sie kann allerdings von der Reaktion des Hörers nicht prinzipiell in Frage gestellt werden; dies ist der uns einzig verbliebene Niederschlag der Gewißheit des Descartes, die er dem seiner selbst bewußten Ego glaubte abringen zu können.

Der Hörer kann nur den Inhalt der Äußerung des Ich in Frage stellen, nicht aber die Tatsache der Äußerung oder die Position des Sprechers. Er kann nach der Bedeutung seiner Äußerung fragen, beispielsweise, ob er mit dem Ausruf „Auch das noch, es beginnt zu regnen!“ eine Feststellung über die unerfreuliche Wettersituation gemacht hat oder eine Aufforderung, sich in ein Café zu flüchten. Der Hörer verlangt dann Auskunft über die Art des geäußerten Sprechakts.

Descartes und die sich ihm anschließende Philosophie der Rationalisten und Idealisten bis auf Hegel und Fichte verwechseln die semantische Rolle des Pronomens „ich“ mit derjenigen eines Nomens und Substantivs wie „Bewußtsein“ oder „Erlebnis“. Jedes Nomen hat eine referentielle Bedeutung, „Bewußtsein“ und „Erlebnis“ den jeweiligen Inhalt, dessen ich mir bewußt bin und den ich erlebe. Doch das Pronomen „ich“ hat ebenso wie das Pronomen „du“ keinen referentiellen Inhalt, sondern verweist auf die Position dessen, der von seinen jeweiligen Erfahrungen und Erlebnissen berichten kann.

Das Pronomen der dritten Person hat freilich einen vom Kontext abhängigen referentiellen Inhalt; denn wenn ich sage: „Er hat sich doch tatsächlich ein neues Auto gekauft“, kannst du mich fragen: „Wer?“ Und ich könnte antworten: „Unser Freund Peter.“ Wenn ich sage: „Ich habe mir ein neues Auto gekauft“, ist es dagegen offenkundig sinnlos, wenn du mich fragen würdest: „Wer?“

Descartes und die Idealisten begehen den Fehler, das ego cogitans nicht nur als Nomen und Substantiv mit referentiellem Inhalt zu betrachten, sondern es auch in ein positionsloses Feld jenseits der leibgebundenen Empfindungen und Wahrnehmungen des Proto-Ich anzusiedeln. Daraus entstehen die absurden und zum Scheitern verurteilten Versuche, die Kluft zwischen dem denkenden Ich und der körperlichen Welt und dem alter ego mittels nicht weniger absurder metaphysischer Postulate zu überwinden.

Die Position des sprechenden, referentiell leeren Ich markiert den jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt und den jeweils eingenommenen Ort als semantischen Nullpunkt sich kreuzender imaginärer Zeit- und Raumlinien, die es mittels deiktischer Pronominaladverbien wie „hier“ und „dort“, „jetzt“, „vorher“ und „hernach“ markieren kann. Auch diese deiktischen Wörter sind referentiell leer, sie sind nur von der Position des semantischen Nullpunkts aus definierbar.

Der ursprüngliche Zeitsinn ist eine Funktion der Deixis des hier und jetzt sprechenden Ich, das mehr oder wenige lange zurückliegende Erlebnisse berichten sowie Absichten und Vorhaben in der Zukunft anmelden und dem Hörer mitteilen kann. Diese Äußerungen bedienen sich der entsprechenden grammatischen Zeitformen des Verbs.

Das Ich ist der Quellpunkt der Deixis, aber auf es selbst kann nicht gezeigt werden.

Die singuläre semantische Position des Ich erhellt aus der Asymmetrie in der Verwendung der ersten Person und der dritten Person. Ich kann dem Hörer nicht in der dritten Person von meinen Erlebnissen oder Absichten erzählen, indem ich statt von mir von einem Herren meines Namens berichte.

Das sprachliche Ich ist keine Abwandlung, Erweiterung oder dialektische Vertiefung des Proto-Ich, das gleichsam in die Struktur unseres Gesichtsfelds, unseres Hörfelds und aller leiblichen Sensorik eingebettet ist. Das sprachliche Ich wandelt vielmehr die Erlebnisse in die semantischen Gehalte unserer Rede um, die wir unserem Gegenüber mitteilen können.

Das Proto-Ich im Feld der Empfindung und Wahrnehmung ist keine präreflexive Vorstufe des sprachlichen Ich und das sprachliche Ich ist keine volle oder teleonomisch ausgereifte Reflexionsform des präreflexiven Proto-Ich.

Die Anwendung des schiefen Bildes vom Spiegel des Bewußtseins auf das Ich führt in die skeptische und solipsistische Sackgasse. Das Ich spiegelt nicht die Inhalte der Erfahrung, sondern verwandelt sie in sprachliche Zeichen, die sie öffentlich mitteilbar machen und der unendlichen Selbstbespiegelung scheinbar privater Erlebnisse und einer privaten Sprache entziehen.

Wie gelingt es dem sprachlichen Ich die Inhalte der stummen vorbegrifflichen Erfahrung mitzuteilen? Nun, es verwandelt oder transformiert sie mittels Verwendung von Indices und ikonischen Zeichen in Symbole; es sagt, was es empfindet und wahrnimmt.

Diese symbolische Transformation hängt weder in der Luft noch vollzieht sie sich nach dem Modell der Spiegelung oder Reflexion; vielmehr kommen die Inhalte der Empfindung und Wahrnehmung deshalb zur Sprache, weil sie selbst schon zeichenhaft oder gestaltförmig sind: Das Proto-Ich verwandelt permanent die diskrete Mannigfaltigkeit des Fühlbaren in das Kontinuum des Gefühlten, die das sprachliche Ich als rauh und weich, sanft und spröde bezeichnet, und die diskrete Mannigfaltigkeit der Geräusche und Klänge in das Kontinuum der Töne, die das sprachliche Ich als hoch und niedrig, laut und leise oder voll und hohl bezeichnet.

Wir fügen zur gestalthaften Empfindung und Wahrnehmung zuletzt den Begriff oder den Namen, indem wir die Art von Objekt oder Ereignis bezeichnen, in die sie eingebettet sind; so sagen wir aufgrund der Empfindung von Tropfen auf der Haut: „Es regnet“ oder aufgrund der Wahrnehmung jener menschlichen Gestalt auf der anderen Straßenseite: „Da geht unser Freund Peter.“

Solche Verwendungen von Begriffen und Namen für Gegenstände und Ereignisse sind mehr oder weniger gut begründete Vermutungen; das heißt, daß wir aufgrund der bewährten Interpretation von Anzeichen richtig liegen, uns aber auch irren können: Die Feuchtigkeit kam nicht vom Regen, sondern von der Frau, die über uns auf dem Balkon ihre Blumen goß, und der Mann auf der anderen Straßenseite war nicht Peter, sondern jemand, der ihm ähnlich sieht.

 

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