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Sichtbarkeit und Wahrheit

28.07.2016

Über den internen Zusammenhang von Wahrnehmung und Wahrheit

Ohne die Möglichkeit subjektiver Perzeptionen der Dinge verfügen wir über keine Möglichkeit zu wahren Aussagen über sie, wie umgekehrt: ohne die Möglichkeit zu wahren Aussagen über die Dinge keine Möglichkeit, sie subjektiv wahrzunehmen.

Oder anders gesagt: Keine Wahrheit ohne Subjekt, das jeweils als raumzeitliche Instanz des Bewußtseins subjektive Wahrnehmungen hat. Und umgekehrt: Nur auf Basis subjektiver Wahrnehmungen gelangt ein Subjekt zu Aussagen, die wahr oder falsch sein können.

Wir können uns die Welt nicht denken oder vorstellen, wie sie wäre, wenn keiner sie sähe, keiner sie wahrnähme.

Wir werden zu abstrusen Phantasien verleitet, wenn wir uns die Welt ohne Subjekt vorstellen wollen, für das sie nicht zumindest teilweise sichtbar sein muß: Wir denken an Satelliten oder von großen Radio- und Teleskopen generierte astronomische Karten – doch wir können nicht denken, daß irgendwelche Karten nicht von irgendwelchen Subjekten gesehen, gelesen, verstanden werden.

Aber Karten, ob Wanderkarten, Landkarten oder astronomische Karten der Galaxien sind unsere Verfahren, das Sichtfeld an die Wahrheitsbedingung zu knüpfen: Wenn dein Freund dieselbe Wanderkarte wie du benutzt und mit ihrer Hilfe am Ende des Tages an der Stelle anlangt, die auch du mit Hilfe derselben Karte gefunden hast, könnt ihr euch nicht nur die Hände schütteln, sondern davon ausgehen, daß die benutzte Katze die relevante Umgebung in einem objektiven Maße zur Darstellung bringt, das euch zu der wahren Aussage berechtigt: „Wir sind vom selben Ausgangspunkt aus denselben Weg gelaufen und an demselben End- und Treffpunkt angekommen!“

Die Sichtbarkeit der Dinge ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, daß wir etwas Wahres über sie aussagen. In einer unsichtbaren Welt gäbe es keine Subjekte, die zur Sprache kämen, um etwas Wahres zu sagen.

Weil unser Sichtfeld von einem Horizont umgeben ist, der mitwandert, wenn wir die Blicke schweifen lassen, werden wir zu dem paradoxen Gedanken verleitet, es könne eine Form der Sichtbarkeit geben, die durch keinen Horizont eingeschränkt wäre – und hier hätten wir oder Gott den totalen Überblick.

Aber das ist Unsinn: Sichtbar sind Dinge nur, wenn Teile von ihnen oder andere Dinge nicht sichtbar sind.

Das impliziert aber nicht den genauso paradoxen Gedanken, wegen ihrer teilweisen konstitutiven Unsichtbarkeit könnten wir nichts Wahres über die sichtbaren Dinge aussagen.

Unsere Behauptung resultiert nicht nur in der scheinbar trivialen Feststellung, daß es keine Wahrheit oder die Möglichkeit zu wahren Aussagen ohne Sichtbarkeit oder die subjektive Perzeption der Dinge gibt, sondern in der scheinbar paradoxen Feststellung, daß es keine Sichtbarkeit oder die Möglichkeit der subjektiven Perzeption der Dinge ohne Wahrheit oder die Möglichkeit zu wahren Aussagen gibt.

Die Möglichkeit zu wahren Aussagen, wie der Aussage, daß dort dein Freund Peter über die Straße geht, wäre demgemäß die Sichtbarkeit eben dieses Vorganges oder die Tatsache, daß du siehst, wie dein Freund Peter über die Straße geht.

Wir machen keine Einschränkung der Wahrnehmungsmodalitäten: Wärest du blind und wüßtest, daß dein Freund Peter gleichsam als Erkennungszeichen eine bestimmte Melodie zu pfeifen pflegt, könntest du die Tatsache, daß er dort entlanggeht, an der auditiven Wahrnehmung seines Pfeifens bewahrheiten.

Manche wähnen, der internen Beziehung von Subjektivität und Wahrheit oder Wahrnehmbarkeit und Objektivität entkommen zu können, indem sie angelehnt an Wissenschaften wie die Neurobiologie und kognitive Psychologie den Wahrnehmungspol Stück um Stück auf objektive Elemente reduzieren: Von der farbig sichtbaren Oberfläche der Dinge gehen wir zurück auf ihre Fähigkeit, Lichtstrahlen zu reflektieren, vom visuellen Eindruck eines farbigen Dinges zurück auf die Erregung bestimmter Nervenenden in der Retina und im visuellen Nervensystem, so als kämen wir am Schluß zur Korrespondenz von objektiven Merkmalen unseres organischen Systems mit objektiven Merkmalen der Außenwelt. Aber dies ist ein Fehlschluß: Am Ende haben wir nämlich die visuelle Wahrnehmung vollständig aus dem Erklärungszusammenhang getilgt.

Ein anderer ebensowenig erfolgreicher Versuch, das subjektive Element aus dem Wahrnehmungsvorgang durch Objektivierung zu eskamotieren, besteht in der Aussonderung und Auszeichnung primärer Sinnesqualitäten wie der Wahrnehmung von Formen und Gestalten gegenüber der Wahrnehmung von Farben und anderen sekundären Sinnesqualitäten – als wären wir bei der visuellen Wahrnehmung eines roten Balles auf der sicheren Seite, wenn wir seine Kugelgestalt erkennen und gleichzeitig seine Farbeigenschaft als sekundär vernachlässigen. Gewiß können wir die geometrischen Formeln zur Berechnung der Kugeloberfläche und des Rauminhalts der Kugel auf beliebige Größen anwenden – doch wir sehen in der Tat niemals einen Ball, mit dem das Kind vor uns spielt, mit den Eigenschaften, die uns die Geometrie als reale Eigenschaften des Gegenstandes angibt. Wir sehen ein rundliches Ding, das gegen die Mauer prallt, das in der Luft wirbelt, das in einer Grube landet, aber wir sehen keine geometrische Kugelgestalt in Reinform.

Auch wenn wir eine Kugel exakt nach den Maßen geometrischer Berechnung formen, sehen wir sie nicht als Kugel mit den reinen geometrischen Eigenschaften, die sie tatsächlich hat.

Die Unterscheidung primärer und sekundärer Wahrnehmungsqualitäten leistet demnach nicht, was sie leisten soll, nämlich einen Bodensatz oder ein perzeptives Fundament objektiver Eigenschaften zu sichern und es gegen subjektive Wahrnehmungsphänomene abzugrenzen.

Auf diese Weise bestätigt sich unsere Annahme, daß unsere Wahrnehmung intentionalen Charakter hat und zu ihrer eigentümlichen Intentionalität das spontan angeregte Wirken von Erwartungen und Antizipationen, wie die Dinge beschaffen seien, gehört. Von dem roten Dinge, mit dem das Kind spielt, erwarten wir, daß es kugelförmig sei, von dem Mann mit dem Jägerhut, der die Hintertür des Hauses betritt, daß es derselbe Mann mit dem Jägerhut ist, der das Haus nach kurzer Zeit durch die Vordertür wieder verläßt, von der Leuchtkraft eines Sterns, daß sie auf die Aussendung von Lichtstrahlen zurückgeht, die eine astronomische Zeitdauer aufweisen, bevor sie unser Auge errreicht haben.

Wenn wir sehen, was wir erwarten, sehen wir klar, wenn sich unsere Erwartungen aufgrund von Messungen und sonstigen Nachprüfungen bestätigen lassen. Unsere Aussagen über unsere Wahrnehmungen sind dann wahr, wenn sie unsere impliziten Erwartungen erfüllen, falsch, wenn sie sie nicht erfüllen.

Doch kommen wir auch auf diesem Weg zu unserer Behauptung zurück, daß der Zusammenhang von Wahrnehmung und Wahrheit ein intrinsischer Zusammenhang oder eine interne Relation ist. Wir können um im Bilde zu sprechen die Frucht vom Baum der Wahrheit nicht pflücken, ohne zuvor die Leiter der Wahrnehmung angelehnt zu haben.

Die Subjektivität der Wahrnehmung ist in einem ähnlichen Sinne die Voraussetzung dafür, daß wir zu wahren Aussagen über das Wahrgenommene kommen können, wie die Erste-Person-Stellung in der Rede und das Ego Cogito der Erkenntnis die Voraussetzung dafür sind, daß wir uns mit anderen sinnvoll und wahrheitsgemäß verständigen oder im wissenschaftlichen Diskurs zu wahren Theorien gelangen können.

Und ist nicht die Subjektivität der Wahrnehmung im mundus sensibilis, was die Erste-Person und das Ego Cogito im sprachlichen und logisch-semantischen mundus intelligibilis sind?

Ähnlich wie die Welt sich unserer Rede erschließt, denn ohne Sprache wäre sie völlig stumm, erschließt sich die Welt unserer Wahrnehmung, denn ohne Wahrnehmung wäre sie völlig unsichtbar.

Zu sagen: „Da geht mein Freund Peter“ ist kein wahrnehmungsabhängiger Umweg zu einer Wahrheit, die eine wahrnehmungsunabhängige Sprache direkt erreichen könnte, denn eine solche Sprache gibt es nicht und kann es nicht geben, auch die Physik kann auf die Resultate experimentell-methodischer Beobachtungen nicht verzichten.

Die Aussage „Da geht mein Freund Peter“ ist eine unmittelbare Erschließung der Realität, wenn sie die Wahrheitsbedingung erfüllt, die wir ihr unmittelbar entnehmen oder aus ihr ohne Umweg herauslesen können, nämlich die Bedingung, daß dort dein Freund Peter geht.

Die Wahrheit, daß dort dein Freund Peter geht, ist eine Eigenschaft der Aussage, daß dort dein Freund Peter geht, und die Eigenschaft dieser Aussage, wahr zu sein, ist eine Funktion der Wahrnehmung, daß dort dein Freund Peter geht. In einer Welt, die die Wahrnehmung, daß dort dein Freund Peter geht, nicht zuließe, könnte auch die Aussage, daß dort dein Freund Peter geht, nicht gebildet werden.

Wir können unsere Behauptung über den internen Zusammenhang von Wahrnehmung und Wahrheit auch folgendermaßen zuspitzen: Nur in einer sichtbaren Welt können wir über Dinge reden, die so sind, wie wir behaupten, wenn wir die Wahrheit sagen, oder nicht so sind, wie wir behaupten, wenn wir die Unwahrheit sagen. Wir können über Dinge nur Wahres oder Falsches behaupten, wenn wir Wahrnehmungen davon haben, daß sie so oder so sind: Der interne Zusammenhang von Wahrnehmung und Wahrheit ergibt sich demnach aus der Faktizität unserer Wahrnehmungen, also ihrer Eigenschaft, uns die Struktur von Dasein und Sosein der Dinge, die wir wahrnehmen, mitzuteilen. Unsere Wahrnehmung vermittelt uns aber nur dann die Struktur von Dasein und Sosein der wahrgenommenen Dinge, wenn diese Struktur die kausale Ursache dafür ist, daß wir die Dinge so und nicht anders wahrnehmen.

Wenn wir wahrnehmen, wie Peter über die Straße geht, können wir aus dieser Wahrnehmung die Aussage ableiten, daß Peter über die Straße geht, und diese Aussage ist wahr, wenn es der Fall ist, daß Peter über die Straße geht. Und dies wissen wir im Normalfall, weil wir es gesehen haben.

Dieser Zusammenhang scheint trivial, ist es aber nicht, denn er setzt die Faktizität unserer Wahrnehmung und demnach ihren internen Zusammenhang mit unserer Fähigkeit zu wahren Aussagen voraus. Wären unsere Wahrnehmungen Teile und Funktionen eines rein phänomenal in sich geschlossenen Bewußtsein, wäre unsere Lage ähnlich hoffnungslos wie die vergleichbare Lage des Sprechers, der die Bedeutungen seiner Rede nur durch die Referenz auf die ihm phänomenal zugänglichen Sinnesdaten bezöge. Aber wir referieren mit unseren Wahrnehmungen nicht auf unsere rezeptiven Eindrücke von den Dingen, sondern auf die Dinge selbst; ebenso wie wir mit den Worten unserer Sprache nicht auf irgendwelche Erscheinungen, Vorstellungen oder Bilder der Dinge referieren, sondern auf die Dinge selbst.

Der Aspekt der Notwendigkeit der internen Relation zwischen Wahrnehmung und Wahrheit erhellt aus der Eigenschaft der Dinge, die wir wahrnehmen, genau den Wahrnehmungseindruck in uns hervorzurufen, den wir haben, wenn wir sie sehen oder sonstwie wahrnehmen. Die rote Rose in der Vase ruft eben den visuellen Farbeindruck in uns hervor, ohne den wir nicht von ihr sagen würden, sie habe eben diese Rotschattierung und keine andere. Weil die Rose diese Rotschattierung hat, bewirkt ihr Dasein in unserem Gesichtsfeld, daß wir genau diesen visuellen Eindruck haben, den wir in der wahren Aussage beschreiben, daß er von dem Objekt unserer Wahrnehmung so und nicht anders hervorgerufen wird.

Wir bemerken zu unserem Erstaunen, daß Farben keine sekundären Sinnesqualitäten oder bloß subjektiven Zutaten zu einer an sich farblosen und qualitätslosen Welt sind: Der kausale Bezug des Farbeindrucks, den die Rose auf uns macht, zu ihrer Eigenschaft, eben diesen Wahrnehmungseindruck in uns erwecken zu können, ist ein interner Bezug und demnach in Hinsicht auf unser Dasein als wahrnehmende Subjekte keineswegs kontingent oder sekundär.

Der interne Zusammenhang von Wahrnehmung und Wahrheit klärt uns darüber auf, daß wir in einer Welt leben, die immer schon unsere Welt ist, und unsere Ambitionen, sie aus einem nichtsubjektiven Standpunkt aus zugänglich zu machen, wohl einige Wissenschaften bereichern können, aber unser Verständnis von uns selbst nicht unmittelbar vertiefen.

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