Skip to content

Von der Idee der Vorsehung

18.08.2015

Philosophische Betrachtungen über den Begriff der Providenz

Wir verbleiben bei diesen Betrachtungen im semantisch-philosophischen Vorfeld der Theologie. Die Anwendung auf religiöse Begriffe und Fragestellungen zu machen, bleibe dem geneigten Leser anheimgestellt.

(1) Der Vater hat dem einzigen Sohn sein Erbe ausgestellt und der Sohn kann es nach Erfüllung bestimmter testamentarisch festgelegter Auflagen und Verpflichtungen antreten.

(2) Der Vater hat nur einem seiner beiden Söhne den Hauptteil seines Vermögens testamentarisch vermacht, und dies obwohl der Haupterbe ein Großteil seines Lebens im Ausland verbracht und dort der künstlerischen Muße gepflogen hat, die Gerüchten zufolge den Abusus von Rauschgift und Dirnen nicht ausschloß, während der zu kurz gekommene Sohn sein ganzes Leben im Vaterhaus geblieben und den Vater tatkräftig bei seinen Geschäften unterstützt hat. Nachdem der heimgekehrte Sohn sein Erbe angetreten hat, ändert sich unter der Last der neuen Verantwortung sein Lebenswandel und er übertrifft in Sachen Sorgfalt, Umsicht und Voraussicht alsbald das Vorbild seines Bruders.

(3) Der Sohn hat das reiche Erbe des Vaters angetreten, doch erwies er sich als charakterlich zu schwach, um es zu pflegen und treulich zu verwalten, so daß das väterliche Unternehmen bankerott ging und der Erbe im Elend starb.

(4) Der Sohn hat das reiche Erbe des Vaters angetreten, doch erwies er sich als charakterlich zu schwach, um es zu pflegen und treulich zu verwalten, so daß das väterliche Unternehmen bankerott ging und er im Elend dahinsiechte. Der Vater aber schloß den Elenden an seinem Sterbelager aus Liebe in die Arme und verzieh ihm seine Schuld.

(5) Der Vater kannte den Charakter seines einzigen Sprößlings nur zu gut, deshalb hat er ihn von seinem Erbe ausgeschlossen und es einer gemeinnützigen Stiftung vermacht, denn er ahnte voraus, daß es aus den Händen des haltlosen Menschen wie Sand verrinnen würde.

(6) Das musikalische Talent, das der Sohn von der Mutter, einer Pianistin, geerbt hatte, kam schon in seinen frühen Jahren zum Ausdruck und vermochte ihn zu einer glänzenden Karriere als Konzertmeister und Dirigent.

(7) Das musikalische Talent, das der Sohn von der Mutter, einer Pianistin, geerbt hatte, vermochte bei ihm trotz intensiver Förderung nicht zu fruchten, vielmehr verschleuderte es der Sohn als Bummelant und Lebemann, bis er in Depression und Alkoholsucht verfiel.

(8) Die fleißige und strebsame Studentin aus einfachen Verhältnissen hatte sich sorgfältig auf das juristische Staatsexamen vorbereitet, so daß sie es mit Bravour bestand.

(9a) Die fleißige und strebsame Studentin aus einfachen Verhältnissen hatte sich sorgfältig auf das juristische Staatsexamen vorbereitet und damit alle Aussichten auf eine Bestnote und eine glänzende Karriere, doch kurz vor dem Prüfungstermin erhielt sie die Diagnose einer schnell zum Tode führenden Krankheit.

(9b) Die fleißige und strebsame Studentin aus einfachen Verhältnissen hatte sich sorgfältig auf das juristische Staatsexamen vorbereitet und damit alle Aussichten auf eine Bestnote und eine glänzende Karriere, doch kurz vor dem Prüfungstermin ist sie einem Gewaltverbrecher zum Opfer gefallen, mit dem sie in keinem persönlichen Verhältnis gestanden hatte.

Nur in den Fällen 1, 2, 3, 4 und 5 finden wir die Form des Gedankens, der die Idee der Providenz ausdrückt. Die Möglichkeit, das Erbe anzutreten, geht auf die Tat und souveräne Entscheidung des Erblassers zurück, dem einzigen Sohn (1) und im Falle (2) dem bevorzugten Sohn sein Erbe testamentarisch zuzusprechen sowie im Falle (4) dem Sohn das Erbe abzusprechen.

Wir bemerken, daß es sich bei der Idee der Providenz um eine Relation zwischen mindestens zwei Personen handelt, von denen die eine über den Willen, die Macht und die Mittel verfügt, der anderen ein Gut zukommen zu lassen (1), (2), (3), (4) oder sie vor dem Eintreten eines Übels zu bewahren (5), während die andere Person über den Willen, die Macht und die Mittel verfügt, das zugesprochene Gut anzunehmen oder abzulehnen, es pfleglich zu ihren und anderer Gunsten zu nutzen oder es zu mißbrauchen oder zu vergeuden.

Es bleibt stets dem Begünstigten überlassen, das zugesprochene Gut anzunehmen oder abzulehnen, es zu bewahren oder zu vergeuden. Der Begünstigte kann in jedem Falle in dem ihm zugesprochenen Gut ein Zeichen einer ihm zugemuteten oder von ihm erhofften Lebensmöglichkeit sehen oder dieses Zeichen als unzumutbar und unerfüllbar von sich abweisen, so als wäre es nicht deutbar, ja nicht einmal sichtbar. Der Erblasser hat in den genannten Beispielen keinen Einfluß auf den Umgang des Sohnes mit seinem Erbe und keinen direkten Einfluß auf die Art und Weise, wie der Begünstigte das ihm anvertraute Zeichen deutet.

Wir bemerken des weiteren, daß der Erblasser in seiner Verfügungsmacht souverän ist und durch die jeweiligen Interessen und persönlichen Umstände des Erbberechtigten in der Souveränität seiner Entscheidung, ob und wem er wieviel seines Vermögens testamentarisch zuspricht, nicht eingeschränkt wird.

Der Vater kann dem treuen, charakterlich makellosen und verantwortungsbewußten Sohn das Unternehmen überschreiben und in diesem Fall Kriterien der Entscheidung berücksichtigen, die wir als rational zu klassifizieren gewohnt und berechtigt sind. Es ist seinem souveränen Willen indes unbelassen, das Vermögen dem treulosen und mißratenen Sohn zu überschreiben, wogegen der treue und wohlgeratene Sohn leer ausgeht.

Wir neigen dazu, die Überschreibung des Erbes an den charakterlosen und unseligen Sohn nach unseren gewöhnlichen Kriterien rationaler Entscheidungsfindung als irrational und unvernünftig einzuordnen.

Wie sich aber herausstellt, hat der Vater mit dieser scheinbar unvernünftigen Entscheidung richtig gelegen, insofern sich die Lebensführung des schwierigen Sohnes unter dem Druck der neuen Verantwortung ins Gleichgewicht und ins Lot fand. In diesem Falle (2) sinnen wir dem Vater wohl nicht zu Unrecht eine Intuition oder ein intuitives und instinktives Vorauswissen über das Schicksal des Sohnes an, das unsere naiven und oberflächlichen Maßstäbe für Gut und Schlecht übersteigt.

Wir setzen voraus, daß der Vater in etwa weiß oder ahnt, was gut für den Sohn ist, und wir setzen weiterhin voraus, daß er die Freiheit des Sohnes in der Annahme oder Ablehnung sowie des pfleglichen oder zerstörerischen Umgangs mit seinem Erbe anerkennt.

Insbesondere ersehen wir aus unserer Fallbeschreibung, daß der Vater den Sohn, wenn er den Niedergang seines mühsam erworbenen Vermögens in seinen Händen miterlebt, nicht straft und nicht in den Mißbrauch und die Vernichtung seiner ehemaligen Güter eingreift. Es hat den Anschein, als wäre der Untergang des Sohnes unter der unbewältigten Last der Verantwortung schon Strafe genug.

Ja, wir sehen (4), daß die Liebe des Vaters stärker sein kann, als es die oberflächlichen Kriterien unserer Beurteilung für Gut und Schlecht zulassen, denn er verzeiht dem Sohn und öffnet ihm dadurch vielleicht die letzte Tür zur Rückkehr aus seinem selbstverschuldeten Elend.

In den Fällen 6, 7, 8 und 9 finden wir nicht den Gedanken, der die Idee der Providenz gültig ausdrückt. Im Falle der genetischen Vererbung des musikalischen Talents handelt es sich nicht um einen willensmäßigen oder intentionalen Akt der Überlassung und Weitergabe eines Guts, sondern um ein unwillkürliches, kausales Geschehen. Ob der begabte Sohn mit seinem Talent wuchert (6) oder nicht (7), obliegt nicht dem souveränen Willen und der freien Verfügungsmacht der Mutter, sondern einzig seinem eigenen souveränen Willen und seiner eigenen freien Verfügungsmacht.

Der Fall (6) drückt deshalb nicht den Gedanken der Vorsehung aus, weil hier derjenige, der das Gut, die musikalische Entwicklung der Persönlichkeit, schafft oder sich produktiv aneignet, mit dem durch die genetische Veranlagung Begünstigten identisch ist. Die Regel, wonach es sich bei der Idee der Providenz um eine Relation von mindestens zwei Personen handelt, ist in diesem Falle also nicht erfüllt.

Wenn der begabte Sohn sein Talent sinnlos verschleudert und deshalb ins Elend stürzt (7), kann er nicht sinnvollerweise die Mutter, die es ihm vererbt hat, dafür verantwortlich machen und anklagen. Daß er das Talent nicht als starkes Zeichen einer Möglichkeit eines erfüllten Lebens hat deuten und annehmen wollen, dafür kann ihm die Verantwortung niemand abnehmen.

Schließlich fallen auch die Beispiele 8 und 9 nicht unter die Regel der providentiellen Relation, denn die begabte Frau ist auf sich gestellt und kann über ihre Möglichkeiten so oder so verfügen. Wenn das Schicksal über sie hereinbricht (9a) (9b), finden wir anhand unserer Kriterien rationaler Zurechnung keinen sinnvollen Zusammenhang, der uns den Einbruch des Schrecklichen und den Abbruch des Guten verständlich machen könnte.

Da wir von sinnvollen Zusammenhängen nur sprechen können, wenn sie von menschlichen Handlungen und den Absichten, Willensbekundungen und Intentionen der Handelnden getragen sind, entziehen sich uns das pure Geschehen naturgegebenen Daseins nach natürlichen Gesetzmäßigkeiten wie der Einbruch der Krankheit und der natürliche Tod oder das pure Geschehen sozialen Daseins gemäß statistischen Wahrscheinlichkeiten wie der Einbruch der Gewalt und der gewaltsame Tod einem intuitiven Verstehen. In natürlichen Ereignissen providentielle Zwecke herauslesen zu wollen, hat uns eine Art große Ernüchterung abgewöhnt. Auch wenn wir in Zeiten eines großen Wandels und Umbruchs der grundlegenden philosophischen Orientierungen des Wissens von der Natur und des natürlichen Werdens stehen, hat sich das neue Weltbild mit der „Sonne des Selbst“ im Zentrum uns noch nicht enthüllt, ja es bleibt ungewiß, ob dies je der Fall sein wird. Deshalb bleiben wir, philosophisch enthaltsam, wie eh und je ohne den Zuspruch einer „höheren Instanz“ vor dem Abbruch des uns intentional zugänglichen Lebenslaufs durch eine keiner offensichtlichen Verschuldung zuzumessende Gewalteinwirkung oder angesichts des allzu frühen Todes der Kinder und Jugendlichen ratlos zurück.

Philosophisch betrachtet stoßen wir hier an den harten Stein des Faktisch-Fatalen, den nur die providentielle Macht eines über alle Grenzen erhabenen, weisen und gütigen Wesens wie durch ein Wunder erweichen könnte. Wer Zeichen eines solchen Wunders zu sehen und zu lesen vermöchte, gälte uns als Prophet und die Art seines Wissens entzöge sich unserer auf Vernunft gegründeten Einsichtsfähigkeit.

 

Comments are closed.

Top