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Abgeschnittene Zungen

10.05.2016

Der Retter – ein Heros des antiken Griechenlands (was uns immerhin davor zurückschrecken lassen sollte, ihm nach gründlicher Ausmistung des Stalles ein Bärtchen unter die Nase zu kleben).

Nur der priesterliche Mann mit dem Pathos zur edlen Gestalt und dem Eros zur Jenseits-Musik ist zur Herrschaft berufen. Er muß nicht nur das Gären der Hefe befrieden und im Gleichgewicht halten; er muß nicht nur Unkraut jäten und den Dung ausmisten: Er muß auch edle Reiser vorbildlichen Wuchses und würdiger Ahnen auf junge Triebe pfropfen.

Der Priester, berufen zur Auslese und Verfeinerung der Rasse und des Geschmacks, der sich durch die Leidenschaft des Sublimen zu erkennen gibt, rückt in die Nachfolge des platonischen Herrschers. Platon der Stifter und Gründer, er der Vollender.

Die Vision ist nicht der neue Mensch, sondern der neue Leib, den die hohe, die königliche Seele bewohnt: humanoide Koralle, Synthese aus Blume und Tier, Blumentier, das sich vom Licht ernährt und den Keimen der Erde, das sich im Rhythmus des Lichtes dreht, sich wie im Tänzeln der Katze und im Schaukeln der Giraffe schlafwandelnd über die menschenleeren Plätze hinweghebt.

Der Herrscher-Priester, der Gärtner im stillen, still duftenden Park der Seele, mit den Schneisen des Mondlichts, dem Blau jungfräulicher Morgenwolken.

Die neue Seele: erlöst vom Widerspiel und Widersinn: Mitte zwischen Traum und Wachen, Ich und Du, Liebe und Tod.

Irrtum des Glaubens an die freie Entfaltung der Persönlichkeit: nicht jeder hat eine.

Wie sie sich alle frei entfalten: Irrsinn, Blutorgie, Schändung, Betrieb.

Wäre, was wir Realität nennen, das bloße Konstrukt unseres Geistes, könnten wir dies nicht wissen – denn um dies und überhaupt irgendetwas zu wissen, müssen wir Einbildung und Wirklichkeit, Wahn und Realität unterscheiden können. Die solches behaupten, wissen demnach nicht, was sie sagen.

Er glaubte, um etwas Wahres sagen zu können, sich auf die Zunge beißen, sich die eigene Zunge abschneiden zu müssen.

In Wahrheit sind die abgeschnittenen Zungen die von den Heroen des Schweigens und des Verzichts in den Humus der Zukunft gepflanzten Gebete an den deus absconditus.

Aus der Tatsache, daß sich subtile Zusammenhänge dem unmittelbaren sprachlichen Ausdruck zu entziehen pflegen, die subtilsten ihre Zuflucht im Schweigen suchen, glaubt der vulgäre Geschmack des Zeitungsschreibers zu Unrecht die Lizenz ableiten zu dürfen, aufs Geratewohl zu radebrechen.

Die Ideologie der freien Meinungsäußerung beruht auf der Illusion, die Wahrheit koste nichts – sie sei wie eine käufliche Dame für jedermann zu haben. Aber sie ist kostbar, sie kostet Blut, Schweiß und Tränen.

Einsicht ist keine Sache der Erfahrung. Einer, der alle Länder bereist hatte, dem nichts Menschliches fremd schien, verstummte vor den Tränen der Geliebten, erschrak vor dem Jubilieren der Lerche.

Vor dem Abgrund halt zu machen, ist Folge der Einsicht, der Selbstgewißheit, daß Liebe größer ist als der Tod.

Sterben zu wollen ist entweder Ausdruck des geschwächten Lebenswillens oder eines überwachen Verstandes.

Höflichkeit ist der milde Ausdruck der Einsicht in die unüberwindliche Borniertheit der menschlichen Angelegenheiten.

Der religiöse Orden ist die edelste Verdichtung der abendländischen Kultur zum Muster gelingender menschlicher Gemeinschaft, und unter den Orden das edelste Muster die Gemeinschaft des Schweigens.

Die abgefeimte Vision der Rache des amerikanischen Kriegsgegners des Dritten Reiches, den Deutschen mittels der Verwandlung ihrer Heimat in eine Agrarland ein für allemal den giftigen Stachel imperialer Machtgelüste ziehen zu sollen – welches Traumbild, welche bukolische Traumlandschaft für edle Schwärmer von Hölderlin bis Stefan George.

Der von der Saug-, Freß- und Beißbegierde emanzipierte Mund – die Schwester der Blume, das erotische Organ der Sprache des Paradieses.

In der freien Assoziation gibt sich zumeist nicht der geheime Wunsch verkniffener Seelen zu erkennen, sondern das billige Niveau des in der Mühle der öffentlichen Meinung wund- und totgedrehten Geistes.

Denk dir alles weg: Auto, Smartphone, TV, Kühlschrank und Make-up – der Wind im offenen Haar bleibt zur Genüge, die Träne an der Wimper, die schüchterne Aster auf dem Tisch.

Paradoxie der Lust: Enttäuschung durch Befriedigung. Und je sublimer das Gelüst, umso tiefer die Trauer.

Die Tautropfen singen den sentimentalen Refrain auf die Wahrheit des Schnees – die weiße Stille.

Der Tod verleiht dem Selbstgefühl die Innigkeit, die Emphase, das sublime Glück.

Dummheit – Stumpfsinn vor der Facies Hippocratica.

Tränen – stumme Wahrheitszeugen, Perlen gesteigerten Selbstgefühls.

Es gibt keine Formel, keine Gleichung, keinen Algorithmus für das Leben – denn in dem Maße, in dem es sich selbst erschließt, erkundet, ausspricht, bleibt es sich verborgen, rätselhaft, unsagbar.

Das Leben zieht einen Kreis der Selbsterhellung, der Selbstvergewisserung um sich – doch seine Mitte ist ein Pulsen, ein Herz, ein Geist, der sich ins Dunkle, ins Ungewisse übersteigt.

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