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Begriffliches Verstehen

23.06.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir sehen eine Reihe von Grautönen und sagen, das sei Grau. Grau ist indes keine Farbe neben all diesen Grauschattierungen, deren Variationen die Grautöne wären.

Der Kammerton a hat einen anderen Sinn in einem Dur-Akkord als in einem Moll-Akkord.

Die natürliche Zahl 2 hat einen anderen Sinn in der Reihe der natürlichen Zahlen als in der Reihe der Primzahlen.

Der Sinn eines Begriffs ist die Funktion seiner Anwendung in einem begrifflichen Zusammenhang oder als Durchschnitt oder Muster der Reihe seiner Varianten.

Der Sinn eines Begriffs erschließt sich aus der Mächtigkeit oder Möglichkeit seiner Variationen und der Anzahl seiner notwendigen Implikationen: Der Begriff „dunkel“ ist eine Variation des Begriffs der Lichtstärke und impliziert notwendig den Gegenbegriff oder den binären Begriff „hell“.

Der Begriff „Dreieck“ hat die Mächtigkeit der Varianten „rechtwinklig“, „spitzwinklig“, „stumpfwinklig“, „gleichseitig“.

Je heller, umso weniger dunkel, je dunkler, umso weniger hell: Korrelative Begriffe haben kein absolutes Maß.

Die Bedeutung von Begriffen und Sätzen ist eine Funktion ihrer Anwendung innerhalb eines Universums von Begriffen und Sätzen.

Der Satz „Es ist dunkel“ kann die Bedeutungen haben: „Hier kann man nichts sehen.“ – „Ich wollte ein helleres Tuch.“ – „Mach das Licht an!“

Begriffe und Sätze ohne Anwendungsfunktion sind leer oder sinnlos, sind Schein-Begriffe und Schein-Sätze.

Der Satz „Es gibt keine Außenwelt“ oder der Satz „Es gibt nichts außer meiner phänomenalen Wahrnehmung“ ist sinnlos oder ein Schein-Satz, denn jeder Satz muß von einem Sprecher geäußert werden und sich an jemanden richten können, der ihn hört und liest, bestätigt oder bestreitet. Der Satz, der die Existenz der Außenwellt in Abrede stellt, impliziert, daß es niemanden gibt, an den er sich richten könnte; er widerspricht somit der Anwendungsfunktion des Satzes, jemandem mitgeteilt werden zu können.

Der Begriff der Außenwelt ist leer oder ein Schein-Begriff, denn bestenfalls können wir von der Welt als dem bedeutsamen Feld der Anwendung von Begriffen und Sätzen reden; ist aber die Welt das semantische Universum der Anwendung unserer Begriffe und Sätze, kann es keine Außenwelt zu dieser Welt geben. Denn gäbe es sie, könnten wir von ihr sprechen und sie wiederum als Teil unseres semantischen Universums integrieren.

Das begriffliche Verstehen oder unser alltäglicher Gebrauch von Begriffen und Sätzen entspringt und beruht auf dem vorbegrifflichen Verstehen oder unserem alltäglichen intuitiven Umgang mit den Dingen und Ereignissen – aber nicht wie ein Haus auf seinem Fundament ruht, sondern eher wie eine Pflanze, die im Dunkel des Erdreichs wurzelt und daraus wesentliche Nährstoffe für ihr Wachstum und ihren Erhalt bezieht, wenn auch durch den Chemismus der Photosynthese ein neues Element hinzutritt. Wir könnten demnach, um im Bild zu bleiben, das begriffliche Verstehen auch mit der Photosynthese der Pflanzen vergleichen, im Gegensatz zur Verwurzelung der Pflanze im Erdreich als einem Bild für das vorbegriffliche Verstehen.

Unsere Leiblichkeit ist die Verkörperung des vorbegrifflichen Verstehens, unser begriffliches Verstehen hebt es gleichsam ans Licht. So ist der Ort, von dem aus wir „ich“ und „du“ sagen, der Ort, an dem wir stehen und gehen; die Richtungen, Distanzen und Perspektiven, die wir mit den Begriffen von Nähe und Ferne benennen, haben ihren Nullpunkt in unserem verleibten Selbst oder unserem sich spürenden Leib. Unsere Begriffe für Vorder- und Hintergrund, unser Aussagen mit den Temporaladverbien „jetzt“, „früher“ und „später“ sind Lichtungen oder Artikulationen unserer leibhaften Gegenwart und der Prozesse ihrer Veränderungen in der Zeitenfolge.

Das wichtigste System oder Netzwerk für unser begriffliches Verstehen stellen uns das Wörterbuch und die Grammatik der natürlichen Sprache zur Verfügung; dieses System der Sprache ist aber nur die Projektion der allgemeinen Strukturen des Sprechens, der Aktivität verbaler Verlautbarung, die im Nullpunkt des vorbegrifflichen Verstehens, der Leiblichkeit, verankert ist.

Das vorbegriffliche Verstehen offenbart eine ihm eigentümliche Weise der Normativität und Regelförmigkeit; so wenn der Radfahrer während der Fahrt beständig die kleinen Ausschläge und Abweichungen vom mittleren Gleichgewichtszustand mittels Gegensteuern intuitiv ausgleicht oder wenn der Museumsbesucher die optimale Distanz zu dem Bild herausfindet, die ihm den größtmöglichen Reichtum an Details und Nuancen und den bestverständlichen Überblick der Bildgestalt verspricht.

Beim begrifflichen Verstehen stoßen wir auf eine anders geartete Form der Normativität, nämlich die grammatische Normativität, die uns Regeln über den korrekten oder angemessenen Gebrauch von Wörtern und ihre Verknüpfung zu Sätzen in der jeweiligen Sprechsituation angibt.

Vorbegrifflich verstehen wir uns darauf, die physische Entfernung zu einer Person, der wir etwas zurufen wollen, aufgrund eines Schwellenwerts derjenigen Lautstärke unserer Stimme abzuschätzen, die zu hören sie in der Lage ist. Begriffliches Verständnis zeigen wir, wenn wir aufgrund der Einschätzung der sozialen Nähe oder Ferne der Person, die wir ansprechen, für unsere Anrede das Sie oder das Du wählen.

Wir können die Aufmerksamkeit der Person in mittlerer Ferne durch unseren Zuruf nur wecken, wenn wir laut genug rufen und die Lautstärke des Zurufs den Schwellenwert der minimalen Hörbarkeit überschreitet. Schallte der Person auf einsamer Flur ein Zuruf wie „Halt!“ oder „Stop!“ entgegen, faßte sie ihn wohl als Warnung oder Drohung auf; wir aber rufen sie bei ihrem Namen: Dadurch lassen wir die flüchtige Aura der Vertrautheit um sie entstehen, und so dreht sie sich neugierig und einer Begegnung nicht abgeneigt nach uns um.

Wir verfügen nicht über einen rigiden Maßstab zur Messung der sozialen Entfernung zwischen Menschen wie das Metermaß, mit dem wir die Entfernung zwischen physischen Objekten objektiv bestimmen. Die soziale Norm, aufgrund derer wir jemanden duzen oder siezen, ist eine differentielle Methode der Anwendung von Begriffen; das ersehen wir daran, daß sich bei ihr im Gegensatz zu theoretisch definierten Meßverfahren Begriffslinien kreuzen und implizieren oder ausschließen, wenn etwa das konventionelle Gebot des Siezens durch eine hierarchische Topologie definiert ist, wonach sozial als höherstehend klassifizierte Personen zu siezen, sozial als tiefer oder auf der gleichen Ebene stehend klassifizierte zu duzen sind.

Wenn ich meinen Freund Peter herbeigerufen habe, begrüßen wir einander, indem wir uns die Hand reichen, und plaudern dann eine Weile über dies und jenes; das Plaudern ist ein Sprachspiel, das eigenen Normen und Erfüllungsbedingungen gehorcht; ich frage Peter beispielsweise nach seinem Ergehen, seinem Vorhaben, einem gemeinsamen Bekannten; er antwortet und ich nehme die eine und andere Antwort zum Anlaß, sie meinerseits kommentierend zu vertiefen oder in Frage zu stellen. Wie der einleitende Spielzug des Gesprächs schöpft auch seine Beendigung aus einer Reihe von konventionellen Varianten, etwa der kurze Abschied mittels einer Abschiedsformel oder die Äußerung des Wunsches, den und jenen zu grüßen.

Wir machen darauf aufmerksam, daß begriffliches Verstehen sich weder auf ein holistisch zu deutendes Netzwerk von Begriffen noch auf eine inferentielle Methode der Folgerungsbeziehungen zwischen Begriffen und aus ihnen gebildeten Sätzen stützt. Denn die verwendeten Begriffe erhalten gleichsam Klangfarben und Abschattierungen aus den jeweiligen Verwendungssituationen, die von ihnen nicht losgelöst werden können: Das Du zwischen Freunden und Kollegen ist ein anderes als das Du zwischen Liebespaaren. Wir können aus der Tatsache, daß wir den Freund duzen, nicht folgern, daß die Verwendung der Anredeform denselben Grad an Vertraulichkeit impliziert wie das Duzen in intimen Situationen.

Weil wir die im sprachlichen Umgang verwendeten Begriffe nicht wie abstrakte Terme definieren und ihre Verknüpfungen nicht nach logischen Mustern der Inferenz wie in rationalen Kalkülen der Begründung oder Voraussage bilden können, gehorcht begriffliches Verstehen weder algorithmischen Verfahren noch ist es in einem Computermodell des Geistes modellierbar.

Ich begrüße meinen Freund Peter und beginne ein kurzweiliges Gespräch mit ihm; plötzlich kommt mir sein übles Betragen in den Sinn, wie er mich vor Jahr und Tag in einer Notlage hatte links liegen lassen, und ich beeile mich, das Gespräch zu beenden. Oder Peter könnte dies seinerseits tun, weil er sich etwa durch meine neugierigen Fragen nach intimen Angelegenheiten seines Lebens bedrängt oder beschämt fühlt.

Anders als den Verlauf der meisten physikalischen Prozesse können wir den Verlauf, den spontanen Aufbau und das resultierende Ende sozialer Kommunikationen nicht anhand vorgängiger Daten und Faktoren berechnen oder voraussagen.

Wir erwarteten uns von der Begegnung mit unserem Freund vielleicht ein kurzweiliges oder informatives Gespräch, aber unsere Erinnerung an seinen einstigen Verrat spielt uns einen Streich, sodaß unsere Erwartung unversehens enttäuscht wird. Unsere Erinnerung knüpft sich an den Begriff der Freundschaft, dessen Verständnis uns eine Reihe von freundschaftlichen Begegnungen offenbart und sich als Residuum in unserem Gedächtnis niedergeschlagen und sedimentiert hat, sodaß unsere aktuelle Wahrnehmung gleichsam von seinen Lichtern und Schatten erhellt oder getrübt wird.

Doch der Begriff der Freundschaft, der unser begriffliches Verstehen mitkonstituiert, ist selbst ein Durchschnitt oder ein analoges Muster einer Reihe von Varianten dessen, was wir freundschaftlichen Umgang nennen; und mit einem Vereinskollegen oder Kommilitonen befreundet zu sein ist etwas anderes als mit einem Leidensgenossen gemeinsam durchgestandener Krankheit oder einem Liebespartner; doch die Art der Unterstützung und des Beistands, die wir von einem Freund in unterschiedlichen Konstellationen und Situationen erwarten, ist immer ähnlich.

Jede Gesprächssituation hat ihre zeitliche Dauer und ihren eigenzeitlichen Horizont, insofern sie aufgrund von unerwartet auftretenden Erinnerungen und Erwartungen an den Rändern gleichsam porös ist. Sie ist zudem opak in dem Sinne, daß sich die wechselnden Rollen von Sprecher und Hörer einander nicht in klaren und eindeutigen Erwartungen und Antizipationen spiegeln: Immer kann ein Mißverständnis die reine Luft trüben, so wenn sich mein Freund Peter von mir im Glauben verabschiedet, unsere freundschaftliche Beziehung sei durch die kleine Plauderei bestätigt und gefestigt worden, während ich mich aufgrund der mißlichen Erinnerung an seinen früheren Verrat mit gemischten Gefühlen von ihm verabschiede. Oder ich umgekehrt trotz der aufziehenden Wolken seine merkliche Verstörung mit einer beherzten Abschiedsgeste ins Leere laufen lasse.

Die Selbsttäuschung und die Illusion oder die Täuschung darüber, als welche Person mit welcher Ausstrahlung und Wirkung wir in einer Situation erscheinen möchten und tatsächlich wahrgenommen werden, ist ein wesentliches Merkmal unserer Art begrifflichen Verstehens. Wir halten uns für attraktiver, geistreicher, witziger und charmanter oder häßlicher, dümmer, langweiliger und weniger einnehmend, als wir tatsächlich sind, das heißt, von anderen bewertet werden. Diese Formen des verfehlten oder mangelnden Selbstverstehens gehören in eine weitere Pathologie des Alltagslebens, die wir vielleicht bis zu gewissen Verzerrungen im Spiegel der gegenseitigen Wahrnehmung durch die primären Bezugspersonen der frühen Kindheit zurückverfolgen können.

Wir begegnen einander weder wie kommunizierende Röhren, wo das gegenseitige Geben und Nehmen zu einem beständig wieder aufgefüllten Gleichgewichtszustand führt, noch wie fensterlose neuronale Monaden, die sich durch den Input des Wahrgenommenen ihr inneres Niveau beständig auffrischen und stabilisieren. Die Begriffe, die unser Verständnis der Kommunikation leiten, wie der Begriff der Freundschaft, sind aufgrund der gemeinsamen Sprache geteilte Begriffe, doch ihre jeweilige situative Interpretation ist individuell, kontingent und nicht vorhersehbar.

Wenn wir das Wesen eines Begriffs wie Freundschaft als Querschnitt oder Durchschnitt all seiner Verwendungen in alltäglichen Situationen auffassen, lösen wir ihn wie die Gestalt eines musikalischen Themas in die Reihe seiner Variationen oder die Struktur einer DNA in die Reihe ihrer Mutationen in die Reihe seiner Varianten auf. Zu diesen Varianten gehören auch all seine grammatischen Ableitungen wie „freundschaftlich“, „befreundet“, „Freund“ oder „freundlich“ inklusive ihrer Oppositionen wie „verräterisch“, „verfeindet“, „Feind“ und „unfreundlich“.

Wir können die mannigfachen Variationen, die der Maler Paul Cézanne vom Motiv des Berges Mont Sainte-Victoire in der Provence angefertigt hat, als Modell für die von uns angezielte Struktur begrifflichen Verstehens heranziehen: Wir würden nicht sagen, das Gemälde, das er an einem bestimmten Tage gemalt hat, gelte uns von nun an uns als das originale Bild, und alle anderen von Cézanne angefertigten Bilder desselben Sujets für seine Variationen. Vielmehr weicht der sprichwörtliche Unterschied von Original und Abbild, Thema und Variationen der differentiellen Überlagerung aller vorhandenen Exemplare.

Aufgrund der Erinnerung an eine wenn auch weit zurückliegende Phase feindseliger Anmutung seitens meines Gesprächspartners nahm das Gespräch eine unvorhergesehene Wendung. Wir nahmen dennoch nicht in einer Entfremdung voneinander Abschied, sondern im Sinne eines freundschaftlichen Umgangs, der wie ein Bernstein einen dunklen Einschluß aufweist. Da ich meinem Freund bei unserem Abschied kühler und weniger freundlich erschienen bin als bei unserer Begrüßung, war ich schließlich ein anderer als der Mensch, an den er sich erinnert und den zu sehen er erwartet hatte; und dennoch war ich derselbe.

Unser Selbstgefühl und unser Selbstverständnis bleiben nicht unberührt von dem, was wir erleben und was uns widerfährt; unsere Existenz gleicht nicht einer aristotelischen Substanz, der wir wesentliche und zufällige Eigenschaften zusprechen. Auch das, was wir sind, ist nicht mehr und nicht weniger als der Querschnitt und das Muster der ganzen Reihe von Variationen all unserer Selbstdarstellungen und Selbstbeschreibungen. Und ähnlich wie bei der Reihe der Variationen von Gemälden des Mont Sainte-Victoire können wir keine als die maßgebende substantielle oder wesentliche Selbstbeschreibung herausgreifen und tun gut daran, alle möglichen und aktualisierten als Variationen und Abwandlungen desselben Sujets zu verstehen.

Wir können aus einer Begegnung und einem Gespräch auch gänzlich verwandelt hervortreten; wir kamen als Freund und scheiden als Feind; wir umarmten den Geliebten und verlassen den Untreuen; wir gingen hin ohne Glaube und Hoffnung und gehen gläubig und voller Hoffnung von dannen.

Wir bemerken, daß wir den logisch-formalen Begriff der Identität und der Schlußfolgerung, die den identischen Bedeutungskern eines Begriffs von den Prämissen in den Schluß vermittelt und transformiert, aber unangetastet läßt, auf das begriffliche Verstehen nicht anwenden können. Es ist wie mit Negativen von Porträtfotos aus verschiedenen Phasen unseres Lebens, die wir aufeinanderlegen – wir ähneln eher der mysteriösen Figur, die uns aus diesem Gemisch und dieser Überlagerung entgegenblickt, als demjenigen, den wir gerade eben im Spiegel erblickt haben.

Es gibt keine universelle begriffliche Sprache des Geistes, in die wir alles übersetzen könnten, was wir in unseren jeweiligen lokalen Dialekten an natürlichen Sprachen äußern; dabei wäre nach Wunsch ihrer Sachwalter alles, was sich nicht in dieses reine Idiom übersetzen ließe, als unsinniges Kauderwelsch einzuklammern, zu suspendieren oder auszuscheiden. Vielmehr sind rein begriffliche Sprachen wie die Logik Provinzen der natürlichen Sprache, deren Verwalter, suchten sie ihre Grenzen willkürlich in den fremden Raum vorzuschieben, zum Scheitern verurteilt wären, denn mit dem Lichten oder Ausjäten des Wildwuchses der natürlichen Sprache verlören sie gleichsam auch den Nährboden, auf dem ihre exotischen Pflanzen allererst gedeihen können.

Ein Roboter, programmiert mit einem Algorithmus zur systematischen Verarbeitung und logisch-semantischen Interpretation von Lautäußerungen, könnte vielleicht die symmetrischen Beziehungen im Gebrauch der Personalpronomen „ich“ und „du“ während unseres Gesprächs abbilden, aber nicht den Begriff eines Gespräches verstehen, das durch die überpersönliche Struktur der wechselseitigen Spiegelung geprägt wird, die sich im reflexiven Gebrauch der Personalpronomen und dem höherstufigen Selbstbezug des Gesprächs zeigt, beispielsweise in Äußerungen wie: „Laß mich dir noch folgendes mit auf den Weg geben.“ – „Wir sollten unsere Unterhaltung als fruchtbare Anregung für künftige Gespräche ansehen.“ Geschweige denn, daß die Maschine in der Lage wäre zu verstehen, welchen Stellenwert die Begrüßung und die Verabschiedung jeweils einnehmen, weil sie weder die Gestik noch das Mienenspiel in Betracht ziehen kann, die ein entscheidendes Licht auf ihre wahre kommunikative Bedeutung fallen lassen.

Wir sagen verärgert: „Ich könnte auch zu der Wand reden!“, woraus erhellt, daß wir einem begrifflichen Mißverständnis aufsitzen, wenn wir die Gesprächspartner als phänomenale Gegebenheiten der Wahrnehmung ansehen – oder uns dies nur als ironisches Aperçu gestatten.

Ein begrifflich unterbelichtetes ontologisches Modell der Wahrnehmung schneidet gleichsam von den wahrgenommenen Dingen die unsichtbaren Fasern und Fibern ab, die sie untereinander und mit uns selbst, unseren Wünschen und Absichten, unseren Erinnerungen und Zwecken, verbinden.

Aber nicht nur das: Wir selbst mißverstehen uns nach diesem begrifflich unterbelichteten ontologischen Modell, wenn wir uns gleichsam von außen als ein Körper unter Körpern in einer natürlichen Welt betrachten, dem spezifisch charakteristische Eigenschaften wie Bewußtsein, Sprache und Intentionalität zukommen, so wie mein Hund ein natürliches Lebewesen mit den spezifisch charakteristischen Eigenschaften gewisser Instinkte und Affekte ist.

Wir sind indes keine Wesen oder Substanzen oder Entitäten, die neben allen anderen natürlichen Eigenschaften, wie sie nun einmal Lebewesen zukommen, darüber hinaus noch die spezifisch charakteristischen Eigenschaften oder Wesensmerkmale von Bewußtsein, Sprache und Intentionalität aufweisen; sondern wir stehen zueinander in einer ontologischen Offenheit (und also auch der dazu inversen Verschlossenheit), die vorzüglich in der Tatsache sich geltend macht, daß wir miteinander sprechen (können).

Die Naturdinge enthüllen oder verbergen sich uns nicht in der uns eigenen ursprünglichen Offenheit und Verschlossenheit, was sie uns zu sagen oder zu verbergen scheinen, können wir ihnen nicht ohne Zuhilfenahme dichterischer Metaphorik ablauschen. Dagegen sprechen die Kunstdinge, die wir zur Erfüllung eigener Zwecke entworfen und gebildet haben, stumm und dennoch beredt von den Zusammenhängen unserer kulturellen Existenz; und die Artefakte der Wortkunst tun es auf spielerisch-verdichtete Weise.

Zu dem, was wir einander sagen, gehört freilich alles, was wir tun und nicht tun (unterlassen), geben und nicht geben (verweigern), sagen und nicht sagen (verschweigen); mit einem Lächeln zeigen wir unsere Freundlichkeit oder die Freude über die Wiederbegegnung, durch ein Händeschütteln unsere Bereitschaft, plaudernd ein wenig Zeit miteinander zu verbringen, mit dem abrupten Abbruch des Gesprächs unsere plötzliche, uns selbst überraschende Verstimmung aufgrund der Erinnerung an vergangene Mißhelligkeiten, durch die freundliche Verabschiedung unseren Wunsch, die Wogen zu glätten und als Freunde auseinanderzugehen.

Insofern und in dem Maße, wie wir uns als Freunde verstehen, sind wir Freunde, insofern wir uns als diejenigen verstehen, die miteinander reden, sind wir Gesprächspartner; unser treuer Hund dagegen bezeigt uns sein freundliches Wesen, wenn er uns freudig begrüßt, aber er versteht sich nicht als unser Freund, weil er sich selbst nicht auf jene begriffliche Weise verstehen kann, die uns auszeichnet, aber auch aufgrund von unausrottbaren und verhängnisvollen Mißverständnissen, Illusionen und Selbsttäuschungen peinigt.

 

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