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Marginalien

05.01.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die alten Hochkulturen beginnen mit der Verwaltung des sozialen Lebens; sie sind eine Leistung der Schrift, denn sie dokumentieren die Entscheidungen, Wende- und Knotenpunkte im Leben der Gemeinschaften in signierten Akten, Erlassen, Rechtsdekreten, Richtersprüchen, Vermessungen, Verträgen, Kredit- und Erbscheinen. Um die dunklen Zentren der Macht, die Paläste, Burgen, Höfe, haust in den Waben der Verwaltung ein neuer Menschentyp, der Schriftgelehrte, der Beamte, der Archivar, der Sachverständige, der Richter, der Anwalt und schließlich der Historiograph. Sie verkörpern das kollektive Gedächtnis.

Die zukünftigen Gesellschaften verkörpern das kollektive Gedächtnis als Steuerungsorgane in digitaler und virtueller Form. Der neue Menschentyp gedeiht im Silicon Valley.

Die Embleme und Wahrzeichen des zivilisierten Menschen sind der Personalausweis, die Versichertenkarte und die Bankkarte.

Bald wird man den Neugeborenen wie heute schon den Jungtieren der Zoos Chips und Transponder implantieren, die sie jederzeit orten und identifizieren können und ihr Erdenwallen vollständig dokumentieren, ihren beruflichen und sozialen Status, ihre Krankheiten, ihr psychologisches Profil.

Die politischen Führer werden beobachtende, planende und ausführende Organe der Wissenschaft.

Der ferngesteuerte Mensch der Zukunft wird keine eigene Stimme mehr haben, sondern nach Ansage reagieren; die von ihm zu äußernden Sprechakte werden einem Repertoire entnommen, das auf die jeweilige Situation abgestimmte Kundgaben ediert; alle Gedanken und Verlautbarungen werden abgehört. Der Paranoiker wird recht behalten.

Der neue Mensch des wissenschaftlich-technisch gesteuerten Daseins wird keine Verbrechen mehr begehen, seine asozialen Neigungen werden umgehend von den neuronal eingepflanzten Steuerungsorganen erkannt und unterdrückt, er wird nicht mehr durch eigene Träume beunruhigt oder in gefährliche Freiräume gelockt, sondern im Schlaf und der Freizeit von Traumspielen unterhalten, die eigens auf seine Triebstruktur abgestimmt sind.

Der anachronistische und unbedachte Akt der Zeugung wird von der medizinischen Hygiene wohlbedachter künstlicher Befruchtung abgelöst.

Die genetische Eignung der Eier und Samen wird von einer staatlichen Reproduktionsanstalt zur Sicherung gesunden Nachwuchses geprüft; nur geeignete Geschlechtszellen werden einer überwachten Verschmelzung zugeführt. Der in künstlichen Brütern reifende Embryo wird bei Bedarf mittels genetischer Eingriffe optimiert. Die Kinder werden in staatlichen Aufzuchtsanstalten großgezogen und sozial trainiert.

Nach der fristgerechten Entnahme, laborgeschützten Pflege und kalkulierten Verschmelzung der männlichen und weiblichen Geschlechtszellen werden die Spender-Organismen mittels hormoneller und neurologischer Steuerung geschlechtlich neutralisiert. Begriffe wie Liebe, Begehren, Eifersucht, Treue, Sehnsucht und Liebesschmerz werden aus den amtlich kontrollierten und neuronal implementierten Wörterbüchern entfernt. Stücke wie „Romeo und Julia“ können dank der erfolgreichen Auflösung der zu Verwirrung, Neurose und Diskriminierung führenden Geschlechterspannung, weil unverständlich geworden, ohne das Gefühl eines kulturellen Verlustes hervorzurufen ebenso aus dem Verkehr gezogen werden wie die abendländische Liebeslyrik von Sappho bis Goethe.

Menschen werden zu biologischen Maschinen deklariert; schadhafte und verschlissene Organe können ausgetauscht, ganz ausgelaugte Organismen abgeschaltet werden.

Der Mensch der Zukunft stirbt keines natürlichen Todes mehr.

Ohne die Möglichkeit, sie zu übertreten, keine Norm.

Wer nicht lügen könnte, kann nicht aufrichtig sein.

Wer nicht töten könnte, kann keine Gnade walten lassen.

Lobenswert ist nur, was hätte schiefgehen können.

Eine Linie auf dem Blatt – schon sprechen zu uns hier und dort, Bahn, Grenze und Schwelle.

Wem man die Fähigkeit zum Bösen herausoperiert hat, ist nicht gut, sondern lau.

Wer keiner Ungerechtigkeit und keiner Bosheit fähig ist, kann nicht gerecht und gut sein.

Die Anekdote erschließt die Biographie, nicht die Statistik.

Wenn man Leute beobachtet, die sich unbeobachtet glauben, erfährt man mehr von ihren Träumen und Ängsten als durch Psychoanalyse.

Daß es Leute mit lückenhaften Kenntnissen der Grammatik bis an die Spitze des Staates und von Unternehmen, ja auf Lehrstühle der Literaturwissenschaft oder an die Seite attraktiver Partner bringen, beweist, daß sprachliche Gewandtheit und Perfektion kein elementares Selektionskriterium mehr darstellen.

Heute darf sich, wer der deutschen Grammatik nur in bescheidenem Maße mächtig ist, mit hochdotierten Preisen von Dichterakademien schmücken.

Die Interjektion und der Hilferuf sind noch keine Sprache; erst wer dem herbeigeeilten Helfer berichtet, wie und warum er in die mißliche Lage geriet, spricht mit semantischem Zungenschlag.

Wer es nicht hätte anders sagen können, hat nichts gesagt.

Der Hilferuf ist Teil der Sprache nur, wenn er die satzförmige Äußerung impliziert: „Ich bin hier.“

Was man verschweigt, ist Teil der Sprache.

Wer sich nicht hätte verrechnen können, hat nicht gerechnet.

Die Maschine hat sich nicht verrechnet, sondern versagt.

Daß sie für fremde Ohren, insbesondere für uneingeweihte oder argwöhnische, unverständlich sei, ist eine Funktion der Sprache, wie der Ritualsprache oder der Gaunersprache.

„Hokuspokus“ – so „übersetzt“ der Aufgeklärte das Mysterium des Glaubens („hoc est enim corpus meum“).

Im Lateinischen bildet der Ablativus absolutus, souverän gehandhabt von Tacitus, eine Form der sprachlichen Ökonomie und Verdichtung, die wir in der Übersetzung unter Angabe der zeitlichen und kausalen Bezüge auflösen müssen: Urbe devastata incolae fugerunt. Nachdem (oder weil) die Stadt verwüstet war, flohen die Einwohner. Bei verneintem Hauptsatz allerdings ergibt sich ein konzessiver Sinn: Urbe devastata incolae non fugerunt. Obwohl die Stadt verwüstet war, flohen die Einwohner nicht.

Schwätzer heißen wir einen nicht nur, weil er uns kostbare Zeit raubt, sondern auch, weil er das bündig zu Sagende hinter den Ranken selbstgefälliger Rhetorik verbirgt.

Wer ein Licht ins Dunkel des Ungedachten wirft, tut dies meist auch mit der Strahlkraft neuer Begriffe. So nutzen Platon und Aristoteles die Möglichkeit der Substantivierung von Verb und Verbaladjektiv im Griechischen (das Sein, das Seiende) zur Bildung neuer ontologischer Aussagen.

Die vom Leben stiefmütterlich Behandelten oder Geschlagenen können manchmal ihr Handicap kompensieren. Es sind die großen Talente ihres Fachs und die kleinen Genies des Lebens.

Wer nie unter Ausdrucksnot litt, mag Zeitungschreiber werden, aber kein Dichter.

Der emotional Verwirrte und Ertaubte redet ständig über Gefühle.

Ontologisch und sozial bedeutsame oder relevante Begriffe sind hierarchisch strukturiert; sie gehorchen logischen Formen der Exemplifikation, der Implikation, Konsistenz und Inkonsistenz. Peter exemplifiziert den Begriff einer Person; nur Personen, keine sonstigen Entitäten wie Tiere oder Pflanzen können Mitglieder von Vereinen, Unternehmen, Kirchen oder Armeen sein. Peter kann nicht zugleich praktizierender Katholik und Mitglied der Humanistischen Union, nicht Mitglied der Heilsarmee und Sommelier im Luxusrestaurant sein.

Sprech- und Schreibakte konstituieren und strukturieren die soziale Zeit, wie die Unterzeichnung eines Kreditvertrages, die den Kreditnehmer verpflichtet, über lange Zeitperioden hinweg der Abtragung seines Kredits nachzukommen.

Wer sich auf den Vorgang des Schluckens konzentriert, wird sich verschlucken.

Das Bewußtsein zu träumen ist eine Schwelle zum Erwachen.

Der seines Daseins, seiner Gefühle, seines Leibes allzu Bewußte verläßt bald das Haus nicht mehr, wird apathisch, verstummt.

Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen Terror und Kitsch, man betrachte den Kunstgeschmack eines Hitler, Stalin oder Mao.

Kitsch heißt, Schwären unter Flitter und Talmi, den Klumpfuß und das böse Horn mit Kothurn und Diadem verdecken, heißt, vor das Grauen des Daseins und des Todes die mit floralen Ornamenten bestickte spanische Wand sentimentaler Gefühle rücken.

Der Blinde tastet mit dem Fühl-Stock die Unebenheiten des Weges und die glatten Stellen des möglichen Fortganges ab. Dies ist die Ursituation des primären Spracherwerbs. Die ersten Äußerungen gleichen den Fühl-Bewegungen des Blindenstocks. Die Korrekturen der Eltern hemmen das Kind, ihre bestätigenden Äußerungen leiten es weiter.

Die Analogie des primären Spracherwerbs mit dem Erlernen einer Fremdsprache führt systematisch in die Irre.

Das kybernetische Modell von Sender und Empfänger bleibt unterhalb des begrifflichen Niveaus der Semantik natürlicher Sprachen. Der Hilferuf des Kindes als unmittelbare Kundgabe steuert das Verhalten des besorgten Vaters, der ihn als Appell versteht, ihm zu Hilfe zu eilen, aber er teilt ihm nichts über die Situation des Kindes mit.

Der Schwänzeltanz der Biene und ihre Absonderung chemischer Spuren steuern das Verhalten der Schwarmgenossinnen, die sie als Appell auffassen, die „gemeinte“ Blumenwiese aufzusuchen. Aber die Schwester teilt ihnen keine botanischen Wahrheiten über die neue Nahrungsquelle mit.

Die Aufforderung des Großvaters, der Enkel möge ihm aus dem Nebenzimmer seine Hausschuhe bringen, muß das Nahfeld der gemeinsamen Wahrnehmungssituation sprachlicher Deixis („die Schuhe dort“) transzendieren; sie ist aber mittels der Verwendung deskriptiver Ausdrücke semantisch vollständig und als Sprechakt performativ abgeschlossen.

Im Gespräch finden wir die Steuerung des Gesprächspartners mittels deiktischer Verweise im geteilten Wahrnehmungsfeld („Reiche mir doch das Buch, das vor dir liegt“); freilich mehr noch die wechselseitig-reflexive Beeinflußung mittels Mitteilung von Überzeugungen und ihrer Revisionen und Korrekturen, aber auch von Hypothesen („Peter hat mich gestern auf der Straße nicht gegrüßt, er trägt mir mein Fehlverhalten nach.“ – „Ich habe heute mit ihm telefoniert, sein Vater ist gestorben; daher wohl seine Geistesabwesenheit.“)

Der treue Hund kann seinem Herrchen nicht versprechen, früher schlafen zu gehen. Den Grund ersehen wir aus der semantischen und deontischen Struktur menschlicher Versprechen: Sie haben einen intentionalen Gehalt, der nur satzförmig darstellbar ist: „Ich verspreche dir, heute früher ins Bett zu gehen, um morgen zeitig mit dir zu unserem Ausflug aufzubrechen.“ Aufgrund des Verhältnisses dessen, der das Versprechen gibt, zu demjenigen, dem es gilt, beispielsweise ihrer freundschaftlichen Bindung, und der aus seiner Nichteinlösung drohenden Sanktion (Schädigung oder Bruch der Freundschaft) entfaltet der Sprechakt seine deontische Kraft.

Das Geschenk verpflichtet den Beschenkten, sich bei Gelegenheit erkenntlich zu zeigen.

Das gegebene Wort erzeugt in demjenigen, der es entgegennimmt, den Anspruch auf seine Einlösung. Die rechtens ergangene Aufforderung dagegen beruht auf dem (autoritativen) Anspruch dessen, der sie äußert, auf die Einlösung durch denjenigen, an den sie ergeht.

Mit den Bewegungen des Taktstocks demonstriert der Dirigent den autoritativen Anspruch, daß die Orchestermusiker ihren Teil der Partitur in synchroner und expressiver Abstimmung mit den Mitspielenden ausführen. Partituren sind den Willen des Komponisten dokumentierende Anweisungen zu ihrer Übersetzung in angemessene Interpretationen.

 

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