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Sehen und Sehen als

27.07.2016

Kurze Anmerkungen zur Philosophie der Subjektivität

Wenn ich die rote Rose in der Vase auf dem Tisch sehe, sehe ich nicht irgendwelche in geometrische Formen eingetragene farbigen Flecken, die ich als eine rote Rose in einer Vase auf dem Tisch sehe.

Wenn ich etwas sehe, sehe ich kein Bild von etwas, sondern etwas.

Wir sehen im Normalfall keine Bilder, Darstellungen und Repräsentationen dessen, was wir sehen, sondern sehen, was wir sehen.

Sehen ist wie alles Wahrnehmen eine nicht konzeptuelle oder nicht begriffliche Form der Bezugnahme auf die Welt. Wir sehen keine Konzepte und Begriffe, wir wenden Konzepte und Begriffe auf unsere Wahrnehmungen an.

Insbesondere nehmen wir keine Eindrücke und Erlebnisse wie Seherlebnisse wahr: Eindrücke und Erlebnisse wie die Seherlebnisse sind integrale Teile unserer Wahrnehmungen selbst.

Gewöhnlich sehen wir, was wir sehen, nicht unter einem Aspekt, als könnten wir, was wir sehen, jeweils (willkürlich oder unwillkürlich) auch unter einem anderen Aspekt sehen.

Du siehst deinen Freund Peter über die Straße gehen. Doch du könntest den, der da geht, nicht unter einem willkürlichen Aspektwechsel als einen Hasen sehen (es sei denn unter einem unwillkürlichen Aspektwechsel, der durch den Einfluß gewisser Drogen künstlich hervorgerufen wird).

Den Hasen der berühmten Kipp-Figur der Hasen-Ente kannst du nicht plötzlich unter der Einwirkung eines willkürlich intendierten oder unwillkürlich einsetzenden Aspektwechsels als Ente sehen – sondern die Zeichnung der ganzen vorliegenden Figur siehst du einmal als Hasen, einmal als Ente.

Indes, den Dürerschen Hasen siehst du NICHT als Hasen, denn ihn könntest du nicht gleich darauf auch als Ente sehen – du siehst in ihm das berühmte Hasenbild oder einen Hasen im Bild, einen abgebildeten Hasen.

Aber, sagt man, wir sind ständig Opfer von Sinnestäuschungen und manchmal von visuellen und akustischen Halluzinationen – doch wir können im besten Falle den Grund der Täuschung auffinden und unseren falschen Eindruck korrigieren. Im Normalfall fühlen wir uns nicht bemüßigt, den Grund dafür aufzufinden, weshalb wir nicht in die Irre gehen, wenn wir sehen, daß unser Freund Peter uns entgegenkommt.

Wir begehen einen Fehlschluß, wenn wir aus der Tatsache, daß wir uns öfter verrechnen, folgern, daß unsere ganze Mathematik auf Sand gebaut sei.

Die Möglichkeit der Sinnestäuschung ist sinnvoll erklärbar nur auf dem Hintergrund unseres gewöhnlichen Alltagslebens, in dem wir unseren Augen meist trauen können.

Den echten Hasen, der über die Wiese hoppelt, siehst du nicht als Hasen oder als das gewisse Tier, das nun im Bild-Rahmen der Umgebung oder der Landschaft auftaucht, du siehst einen echten Hasen auf einer echten Wiese – und als Außerirdischer sähest du ein sonderbares Wesen in einer sonderbaren Umgebung, nicht das Bild eines sonderbaren Wesens im Bild-Rahmen einer sonderbaren Landschaft.

Ein so und so geartetes Etwas zu sehen heißt nicht, etwas als so und so geartet zu sehen.

Aber sehen wir nicht die Dinge derart, wie wir sie sehen, als einen Hasen, der über die Wiese läuft, oder als den Menschen oder die Person Peter, die über die Straße geht, weil wir uns daran gewöhnt haben oder so konditioniert sind, daß wir alles immer durch die Brille unserer semantischen Zuschreibungen und Weltaufgliederungen sehen?

Wir gehen von dem umgekehrten Sachverhalt aus: Weil wir die Dinge im großen und ganzen sehen, wie sie sind, haben wir logisch-semantische Strukturen und sprachliche Ausdrucksweisen ausgebildet, die ihrem Sein und Sosein im großen und ganzen gerecht werden und entsprechen.

Denn aus dem, was wir sehen, können wir durch Analyse gleichsam die Urform des Sichtbaren gewinnen: Da ist jetzt etwas und dieses Etwas ist so und so. Die logisch-semantische Voraussetzung unserer Wahrnehmung des Sichtbaren ist die Annahme der Identität eines Etwas – denn wenn es sich wie Peter oder der Hase ein Stück Weges voranbewegt hat, gehen wir davon aus, daß Peter und der Hase ihr Wesen oder ihr Selbstsein oder ihre Identität unterwegs nicht grundsätzlich verändert haben, wenn auch kleine Peter- oder Hasen-Teile in Mitleidenschaft gezogen worden sein sollten (Peter hat ein Haar verloren, dem Hasen blieb ein Büschel Fell an einer Distel hängen).

Wir kommen durch Analyse des Sichtbaren darauf, daß unsere Semantik, noch bevor sie sprachlich ausgereift und ausgetüftelt ist, den Begriff der notwendigen Eigenschaft offenbart: Denn wir sehen den Hasen, der über die Wiese springt, als lebendiges Tier, und können ihn nicht gleichzeitig als toten Klotz sehen, ebensowenig wie wir Peter als Tier sehen werden, wenn wir in ihm die Person unseres Freundes wiedererkennen.

Auch Relationen können zu den notwendigen Eigenschaften gehören, die unser Sichtfeld struktuieren: Sollte sich herausstellen, daß Peter einen Zwillingsbruder Karl hat, und es war Karl, der über die Straße ging, hättest du in Wahrheit nicht in Karl Peter gesehen, sondern eine andere Person als Peter, eben Karl, denn nur mit Peter bist du in der Relation der Freundschaft verbunden.

Wir können den Hasen nicht in der Weise als lebendiges Tier sehen, als könnten wir ihn auch als toten Klotz sehen.

Die notwendigen Bestandteile unserer Prädikationen der Sehobjekte oder sichtbaren Vorkommnisse sind demnach – auch wenn wir sie mittels des Spracherwerbs erlernt haben – keine nachträglichen interpretativen Zusätze, die uns Willkür und Laune auch durch andere ersetzen lassen könnten, sondern gehören intrinsisch zu unserer Art, zu sehen und wahrzunehmen.

Alles Sehen und Wahrnehmen ist im Ego Cogito verankert. Deshalb ist Sehen ein mehr oder weniger bewußter Vorgang, was impliziert, daß unsere visuelle Aufmerksamkeit einen intentionalen Inhalt und Gegenstand haben muß, auf den es gerichtet ist und der von dem gesehenen Gegenstand erfüllt oder nicht erfüllt werden kann. Im Traum ist die intentionale Aufmerksamkeit derart herabgesetzt, daß du zwar träumen magst, deinen Freund Peter auf der Straße gehen zu sehen: Indes läßt der Traum keine Erfüllung des intentionalen Inhalts auf die Weise zu, die dich im Wachen und bei vollem Bewußtsein von einer echten Wahrnehmung deines Freundes überzeugt sein läßt.

Infolge der Zentrierung unserer Weltwahrnehmung im Bewußtsein sind auch die elementarsten Sehvorgänge an die Wahrheitsbedingung geknüpft: Das Ego Cogito und die Subjektivität der Wahrnehmung sind demnach die Voraussetzung für die Möglichkeit objektiver Wahrheit – und nicht wie die Torheit und das allgemeine Vorurteil annehmen, ihre bedauerliche Einschränkung oder immerwährende Verdunkelung, die uns in die Abgründe von Relativismus und Solipsismus stürzen müßten.

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